Ich wollt, ich wär ein Schmetterling ...

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Ich wollt, ich wär ein Schmetterling ...
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dann könnt ich fliegen weit,

weit fort von hier

von Monika Starzengruber

Kapitel 1

Lea heulte. Schlüssel ins Schloss, Tür auf – BAMM. Tür zu.

„Lea, bist du das?“

Trotziges Schweigen. Schnurstracks eilte sie ins eigene Zimmer, wo Schulbeutel samt Jeansjacke in eine Ecke knallten. Die aufgestaute Wut brauchte Raum, sonst platzte sie! Aufs Bett gehechtet, das Gesicht ins Kissen gedrückt, gab sie dem bohrenden Innenleben nach und schrie: „Scheiß Mathe! Scheiß Mathe! SCHEISS MATHE!“

Wieder ´ne fünf auf die Schularbeit, obwohl gelernt, wie nie zuvor. Diese verdammten Formeln, warum blieben sie nicht drin, in diesem Hirn? Sie dem richtigen Rechenvorgang zuzuordnen war kinderleicht gewesen – zu Hause; doch in der Schule, während der Schularbeit, verwandelten sie sich plötzlich in unleserliche Hieroglyphen, mit denen sie nichts mehr anzufangen wusste. Shit … dabei war sie sich der Sache diesmal so sicher gewesen. Sogar auf den Schummelzettel hatte sie verzichtet. Wieso musste immer alles so kommen, wie sie es nicht wollte? Schon auf den alles sagenden Blick der Mathe-Lehrerin, als sie ihr das Heft mit der korrigierten Arbeit zurückgab, hätte sie am liebsten losgeheult, vor Enttäuschung. Nur ihre saumäßig gute Beherrschung und brillantes Talent zu schauspielern ersparte ihr diese zusätzliche Blamage.

„Dann eben wieder ´ne fünf. Ist mir doch egal!“

Besser sie vergaß die Schule. Besser sie dachte an Emi, mit der sie sich abends verabredet hatte. Der Wecker daneben auf dem Tischchen zeigte: viel zu früh dafür. Eigentlich verspürte sie nicht wirklich Lust, nach dieser Schularbeitspleite mit Emi oder irgendwem aus der Clique blöd rumzualbern.

„Lea“, rief es aus der Küche, „Lea, bist du da?“

Lea ignorierte die Stimme der Mutter. Hastig wischte sie sich ihr verweintes Gesicht mit dem Handrücken ab, schniefte und erhob sich.

… die Mathe kann mich mal. Und die Noten erst recht. Wer braucht schon gute Noten, wenn er noch ein Jahr Schule vor sich hat? Warum eigentlich nicht mit Emi oder sonst wem aus der Clique blöd herumalbern? Ich und aufgeben? Das könnte allen so passen! Jetzt erst recht!

Schwungvoll strich sie sich ihr braunes, glattes Haar zurück, das ihr die Sicht verdeckte, sobald sie den Kopf nach vorne neigte. Ihre einen Meter und zweiundsechzig große, zierliche Gestalt verschwand fast unter ihrer glatten, bis an die Hüften reichenden Mähne. Sie benutzte nur selten Spangen, noch seltener band sie ihr Haar zusammen, sie fand es cooler so. Lea war hübsch und sie wusste das. Doch im Moment fühlte sie sich wie das hässliche Entlein persönlich, verfolgt vom Pech auf der ganzen Linie. Was zählte es da, dass sie erst fünfzehn war und das Leben noch vor sich hatte, wie die Erwachsenen ihr oft klug predigten? Die Gegenwart zählte schließlich im Leben, und im Moment kam sie mit dieser Gegenwart überhaupt nicht zurecht. Hätte sie bloß die Schule schon hinter sich – leider war sie erst in der achten Klasse … und dann Fabio – ach, lieber nicht daran denken.

Sie beugte sich vor und drückte auf die Play-Taste ihrer heiß geliebten Stereoanlage, worauf Eloy de Jongs Stimme aus den Boxen ertönte. Sie warf sich rücklings aufs Bett, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Musik. Es dauerte, bis ihre angespannten Nerven sich ihrem Willen beugten und sich entspannten. Doch bald nahm sie nur mehr die Stimme von Eloy, den Takt des Schlagzeuges und das Dröhnen des Basses war. Getragen vom poppigen Notenwirrwarr hob sie in eine Welt ab, in die sie sich stets träumte, wenn sie uneins mit sich war. Eingehüllt in ihrer Fantasie entwickelten die Dinge im Zimmer plötzlich ein Eigenleben. Der Kleiderschrank verwandelte sich in eine Gruppe Fans, die fasziniert beobachteten, wie sie gemeinsam mit Bon auf der Bühne stimmgewaltig den verkaufsstarken Popsong trällerte. Aus dem Wandregal, auf dem ein bisschen Lesestoff aus früheren Zeiten und abgegriffene Stofftiere unbeachtet vor sich hin moderten, wurde ein Scheinwerfer. Er tauchte die rockige Präsentation in das benötigte Rampenlicht. Auf der zerkratzten Kommode, unter dem Fenster, stand die über alles geliebte Stereoanlage. Sie war Leas vollständiger Reichtum und ihr ganzer Stolz. Sie verwandelte sich zum Tonmischpult, das sämtliche Töne in einem Sound erklingen ließ, der die Zuhörer mitriss. Ein wackeliger Tisch mit betagtem Stuhl neben dem Bett, auf dem sie sonst immer ihre Hausaufgaben erledigte, mutierte zu Klavier und dem dazugehörigen Spieler. Und die mit Tixo aufgeklebten, weiß-schwarzen Poster mit ihren Lieblingsstars an den Wänden, standen für Zuseher in den oberen Rängen der Galerie.

Lea trug Jeans. Genau das Richtige für eine Darbietung auf der Bühne. Vor Kleidern mit Rüschen und Schleifen graute ihr, ebenso vor Schnulzensängern und Lovestories. Ihrer Meinung nach passten derartige Weltenbeschöniger nicht in ein Dasein, wo man sich mit Ellbogen zu behaupten hatte und verbale Gefühlsduschen an der Norm lagen. In so einem Umfeld war es nur auszuhalten, wenn man regelmäßig in seine selbst zurechtgezimmerte Traumwelt eintauchte; für sie jedenfalls. Wenn auch mit Hilfe des Schlagzeuges, des Basses und der dazugehörigen Musikstars.

Lea wälzte sich auf die Seite, streckte den Arm nach der Stereoanlage aus und drehte die Lautstärke höher. Worauf das Schlagen des Schlagzeuginstrumentes neben dem Bass durch die Luft dröhnte, dass selbst die Wände im Takt des rockigen Soundsystems vibrierten. Dabei verschwendete sie nicht einen Gedanken an die Nachbarn, die im gleichen Gemeindebau wohnten und nicht mit ihr auf derselben Musikwelle dahinritten, sie vielleicht als störenden Lärm empfanden.

Auf Lea wirkten die Klänge in diesen Dezibel, als fiele ihr eine Zentner schwere Last von den Schultern – echt geil. Sie wippte mit den Füßen zum Takt des Refrains, den Eloy und sie lautstark, auf Wolke sieben angekommen, loslegten.

Der Frust über die verpatzte Schularbeit wich endgültig. Im Fantasyland der Perfektion gleichmäßig dahinsegelnd merkte sie nicht, wie die Tür aufgerissen wurde.

„Die Musik ist zu laut!“, plärrte die Stimme von Frau Wagner neben der von Eloy und Lea: „... egal was andre sagen …“

„Der Vater schläft noch!“

Lea reagierte nicht. Zu intensiv war sie in der Popwelt vertieft. Kurz entschlossen bewegte sich Frau Wagner auf die Wand zu, ergriff das Kabel und zog den Netzstecker aus der Dose, wodurch Eloys Stimme dumpf abwürgte. Verwirrt öffnete Lea die Augen und schnellte aus ihrer liegenden Stellung unmutig seufzend hoch. Im Begriff zur Stereoanlage zu eilen, um diese unwillige Störung zu beseitigen, erblickte sie die Mutter.

„Du?“, entfuhr es ihr. Grober, als sie wollte. In letzter Zeit passierte ihr das öfter. Hinterher bereute sie es meistens, aber – warum musste die Mutter sie auch immer provozieren!

Frau Wagner, erbost über das unwillige „Du“, stemmte beide Hände in die Hüften und ereiferte sich: „Ja, ich. Wenigstens ‚hallo’ hättest du sagen können, damit ich weiß, dass du da bist.“

Auf diese fast tägliche Leier, drehte Lea genervt die Augen zur Decke. Ihr war im Moment weiß Gott nicht zumute, sich vor der Mutter zu rechtfertigen. Noch weniger, sich mit ihr zu streiten. Denn erfahrungsgemäß brachte es nichts ein, außer verpuffte Luft. Die Mutter gab nur selten nach. Und bevor sie die fünf in Mathe gebeichtet hatte, hütete sie sich lieber, sie durch einen Streit zu verstimmen. Obwohl – unauffällig inspizierte sie sie – beschissene Laune hatte sie scheinbar schon.

Früher war alles anders. Schöner. Das Familienleben lief wie geschmiert und harmonischer ab. Die Eltern, Bruder Bernd und sie selbst bildeten eine Einheit, die sich glückliche Bilderbuchfamilie nannte. In dieser Zeit liebte Lea ihren Vater sehr, viel mehr als die Mutter. Aber früher kam er auch nie betrunken nach Hause, trieb mit ihr Späße und strich ihr oft zärtlich über das Haar.

Als sich vor Jahren das Familienleben auf den Kopf stellte, merkte man das an der Mutter am meisten. Nicht äußerlich, sie föhnte ihr kurz geschnittenes Haar korrekt wie immer, auch ihre Kleidung ließ nichts zu wünschen übrig. Sie sah lange nicht wie eine Frau von fünfundvierzig Jahren aus. Die Mutter veränderte sich innerlich, was sich an Härte und Misstrauen offenbarte. Aber nicht nur sie, die ganze Familie veränderte sich mental anhand der damaligen Geschehnisse.

„Wartest auf ´ne extra Einladung? Das Essen steht in der Küche“, gab Frau Wagner strenger von sich, als Lea es im Moment ertrug.

„Ich hab keinen Hunger“, erwiderte sie lahm. Zuvor die Mathematikschularbeit mithilfe des CD-Players und Eloy de Jong vergessen, lag ihr die Erinnerung nun wie ein Bleiklumpen im Magen. Über kurz oder lang musste sie herausrücken mit der Sprache. Aber wie es anstellen, wenn sie vor Bammel kein Wort hervorbrachte und wünschte, es wäre nie passiert? Warum wurde sie immer mit Ereignissen konfrontiert, mit denen sie nicht zurechtkam? Klar. Als Stiefkind des Lebens war es ihr bestimmt, vom Pech verfolgt zu sein. Verstand sich von selbst. Sie lugte wieder auf die Mutter, deren hartherzige Gesichtszüge sich inzwischen gelockert hatten. Vielleicht war es besser, den Scheiß sofort hinter sich zu bringen? Sie stand auf. Unter den schonungslosen Blicken der Mutter gab sie ihrem inneren Bammel einen Ruck und fischte den Schulbeutel aus jener Ecke, in die sie ihn vorhin geknallt hatte. Darin kramte sie dann länger nach dem Heft, als nötig gewesen wäre. Zwischendurch wagte sie, einen flüchtigen Blick auf die Mutter zu werfen. Deren Falten auf der Stirn vertieften sich und vermittelten, dass sie das Heft schleunigst zu finden habe. Okay. Sie zog es hervor und hielt es ihr mutig vor die Nase.

 

„Du musst unterschreiben.“

„Was ist das?“

„Die Mathe-Schularbeit.“

„Und?“

Lea zuckte die Schultern, was hieß: wie immer halt. Frau Wagner erahnte nach dem Gesichtsausdruck ihrer Tochter nichts Gutes. Eisernen Blickes nahm sie das Heft entgegen, schlug es auf und überblickte mit undurchdringlicher Miene die beschriebenen Seiten. Der rotfarbige Korrekturstift des Lehrers ließ kaum etwas übrig von den Zahlen, die Lea in gutem Glauben zu Papier gebracht hatte. Unleidlich seufzend den Kopf schüttelnd, mit vorwurfsvollem Blick auf Lea, tippte die Mutter auf das Heft. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich das unterschreibe!“

Ein Trotziges: „Doch“ war alles, was aus deren Mund kam.

Energisch winkte die Mutter ab. „Damit gehst du zu deinem Vater. Er kümmert sich ja sonst nicht um deine Erziehung. Soll er gefälligst sehen, wie er damit klar kommt.“

Nochmals sah Frau Wagner in das Heft. Die Beurteilungsnote „Fünf“, die der Lehrer unter die Arbeit hingekritzelt hatte, war nicht verschwunden.

„Du hast wieder nicht gelernt!“

Ich habe gelernt, schrie Lea innerlich, äußerlich bemüht locker zu bleiben. Nur das Kauen an ihren Lippen verriet ihre Erregtheit auf den ungerechtfertigten Verdacht der Mutter hin. Nicht ein Wort verlor sie auf ihre Rüge, weil keine noch so ehrliche Rechtfertigung ihr Misstrauen hätte abschwächen können, obwohl sie sie noch nie belog. Früher war die Mutter gleichermaßen streng, ja, aber wenigstens nicht misstrauisch – zumindest nicht so krass.

Mit einem Gesicht, das widerspiegelte, was sie dachte, nämlich, dass Leas Faulheit zum Himmel stank, was lernen anbelangte, gab ihr die Mutter das Heft zurück. „Sobald der Vater ausgeschlafen hat, zeigst du ihm das.“ Damit war für sie die Sache erledigt. „Komm jetzt essen.“

Achtlos warf Lea das Heft auf das Bett. „Mir ist der Appetit vergangen.“

Sie angelte sich ihre Jeansjacke vom Boden aus der Ecke und begann sie überzuziehen. Die Jacke halb angezogen, huschte sie an der Mutter vorbei und murmelte: „Ich geh raus.“

Mahnend rief Frau Wagner ihr hinterher: „Denk daran, was wir besprochen haben ...!“

Darauf fiel die Wohnungstür so hart ins Schloss, dass das „Wumm“ durchs Treppenhaus hallend, in den Ohren schmerzte. Lea hatte sie absichtlich zu fest zugezogen. Sie hörte die Mutter durch die Tür: „... vergiss nicht – spätestens acht Uhr bist du zu Hause! Und halt dich von den Burschen fern!“

„Acht Uhr bist du zu Hause“, äffte sie höhnisch nach. Trotzdem sie vom fünften Stockwerk die Treppe höchst aggressiv hinunter hüpfte, ließ sich ihr Ärger nicht abschütteln.

Die Mutter verhielt sich, als würde ein Mädchen schon schwanger werden, wenn es einen Jungen bloß ansähe und als ob die Gefahr nach acht Uhr abends dafür am größten wär.

Leider blieb die Stimme der Mutter geistig in ihrem Kopf hartnäckig hängen.

„Lea, ich will nicht, dass du so bald schwanger wirst, wie ich damals, hörst du? Du sollst deine Jugend genießen … ohne Kind!“

Und nach jedem Tschüss folgte: „... und halt dich von den Burschen fern!“

Wie sie das hasste!

Es wäre wirklich nicht nötig, das ständig zu wiederholen. Hatte sie denn kein Vertrauen zu ihr? Sie konnte doch nichts dafür, dass die Mutter damals mit siebzehn schon schwanger wurde. Und sie konnte auch nichts für ihre übertriebenen und altmodischen Ansichten. Daran änderten auch ihre gut gemeinten Worte nichts, die sie ihr bei jeder Gelegenheit vorbetete: „Lea, ich will dir nur Kummer ersparen. Was hatte ich für hochgestellte Träume damals und was wurde letztendlich aus mir? Eine Putzfrau. Was dein Vater an Arbeitslosengeld bekommt, vertrinkt er, und was ich verdiene, reicht nur von der Hand in den Mund.“

Ja, Lea bekam es deutlich zu spüren. In der Familie ständig Mangelware, drehte sich alles nur ums liebe Geld. Es reichte nicht für die Monatspille, die die Mutter beruhigt hätte, die Lea aber nicht brauchte, nicht für einen Schulausflug nicht für eine Armbanduhr und schon gar nicht für einen Computer oder ein Handy. Jeder in Leas Klasse besaß ein Handy, nur sie nicht. Sie schämte sich deswegen. Um dieses Defizit bei den anderen wettzumachen, flunkerte sie, sobald sie darauf angesprochen wurde, dass man es ihr geklaut hätte oder so ähnlich. Sie musste froh sein, ein Fahrrad ihr Eigen nennen zu dürfen und das auch nur, weil sie es von einer Nachbarin geschenkt bekommen hatte, da diese zu gebrechlich dafür geworden war. Ihre heiß geliebte Stereoanlage gewann sie durch ein Ratespiel in der Zeitung. Nur CDs waren so ziemlich das Einzige, das ihr die Eltern besorgten, zu einigen Anlässen im Jahr, wie Geburtstag oder Weihnachten. Jedes Mal wenn sie vor einer derartigen Festlichkeit vor die Wunschwahl gestellt wurde, schwankte Lea zwischen CD und Armbanduhr. Sie wusste nie eine genaue Uhrzeit, wenn sie sich außerhalb der elterlichen Wohnung befand. Oft war es nicht möglich, jemanden danach zu fragen. Und wenn auch keine Kirchenturmuhr in der Nähe war, musste sie raten oder sich nach der Sonne richten. Derartig die Zeit zu ermitteln, verlangte ziemliche Übung. Ihr Zeitlimit lag bei zwanzig Uhr. Im Sommer passierte es schon mal, dass sie sich verschätzte und eine Stunde zu spät daheim eintrudelte. Hausarrest war das mindeste, was ihr dann „blühte“. Eine Armbanduhr wäre also die Lösung gewesen. Aber eine Armbanduhr hätte ihr nicht helfen können auf andere Gedanken zu kommen, wenn sie Kummer hatte; sie hätte ihr nicht helfen können in die Welt der Popklänge einzutauchen, die Vergessen brachten. Der Grund, warum Leas CD-Turm anwuchs.

Manchmal ließ das Haushaltsbudget es zu und sie bekam ein paar Euro Taschengeld. Alle in Leas Klasse erhielten regelmäßig Taschengeld, nur sie nicht. Wenn die Schulkameraden in der Pause sich eine Jause im Schulshop besorgten, von der wohlschmeckenden Wurstsemmel bis zur köstlichen Nussschnecke, und sie sich hingegen mit einem mitgebrachten Butterbrot begnügen musste, erlebte sie sich noch mehr als Außenseiter, als sonst schon. Von den Markenklamotten ihrer Mitschüler ganz zu schweigen. Leider blieb ihr nichts anderes übrig, als anzuziehen, was der Geldbeutel ihrer Eltern hergab. Und der reichte eben nur für einen Secondhand-Laden. Jeans und Jacke, die sie gerade trug, stammten auch daher. Trotzdem zählten sie zu ihren Lieblingssachen.

Lea hörte wie ein Moped sich ihr rücklings näherte. Ihr Puls schnellte in die Höhe. Sie sah sich um. Fabio war es nicht. Klar zu früh dafür. Schnell vergaß sie die Markenklamotten, nebst weiteren Gegenständen, die sie nur vom Hören oder Sehen ihrer Mitschüler kannte. Selbst die verpatzte Schularbeit vergrub sich im hintersten Winkel ihres Gemütes, mit einem Ziel vor Augen, das ihren Frust flugs in blanke Aufregung verwandelte. Diesmal zu Fuß und nicht mit dem Rad unterwegs, überquerte sie die wenig frequentierte Fahrbahn des Mietwohnviertels Lichtenegg. Unbeachtet schritt sie an den langgestreckten, fünfstöckigen Bauten vorbei, die alle gleich aussahen. Die beschmutzten Fassaden der Wohnblöcke erweckten in jedem Betrachter den Eindruck, als wären sie in vorsintflutlichen Zeiten entstanden.

Kinder benutzten die Wohnstraßen zum Ballspielen, Skatborden oder Rollschuhlaufen. Fahrradfahrer schlängelten sich irgendwie durch, und Autos fuhren, wenn überhaupt, nur gemäß den Verkehrsvorgaben, in Schritttempo vorbei. Mancher Verkehrsrowdy hielt sich nicht an die vorgeschriebene Wohnstraßen-Geschwindigkeit. Und so kam es des Öfteren vor, dass Bremsen quietschten und die Spielenden erschreckt zu Boden fielen oder zur Seite hüpften.

Gesenkten Kopfes bahnte Lea sich ihren Weg durch die quirlig hüpfende Kinderschar. Als sie zwischendurch hochblickte und die verwitwete Nachbarin Frau Müller auf sich zukommen sah, runzelte sie ungehalten die Stirn, wissend, was das für sie bedeutete. Es war unschwer zu erkennen, dass der alten Dame das Gehen wegen ihrer müden und von Gicht geplagten Glieder nicht leichtfiel. Von jeher wohnte sie im Erdgeschoss, gleicher Eingang, wie Lea. Sie erwartete alles, nur keine Freundlichkeit von dieser Frau. Am liebsten würde sie sich mit einer Tarnkappe unsichtbar machen, damit ihr das ewige Gelaber der Nachbarin erspart bliebe.

Aber das Leben stellte sie wieder einmal unbarmherzig an die vorderste Front, wo Unannehmlichkeiten sich zu Hürden häuften, die bewältigt werden wollten. So hörte sie auch diesmal ihre keifende Stimme: „Gestern Morgen bist du im Treppenhaus wieder runter gehüpft, wie eine Wilde. Mein Struppi hat sich so gefürchtet von dem Krawall, den du gemacht hast. Ist es nicht einmal möglich, dass du die Treppe normal benützt? Musst du immer springen?“

„Ich war in Eile“, rechtfertigte Lea sich.

Es hätte sie wirklich gewundert, wenn die Frau ohne jeglichen Kommentar an ihr vorbeigegangen wäre. Aber vielmehr hätte es sie gewundert, wenn sie endlich eingesehen hätte, dass der Hund mit seinem ewigen Gequietsche, das sich Bellen nannte, mehr Lärm im Haus verursachte, als ihr Schuhgetrappel über die Treppe es jemals zustande gebracht hätte.

„Immer bist du morgens in Eile. Wie wäre es, wenn du früher aufstehen würdest?“

„Ich muss jetzt gehen“, erwiderte Lea, wandte sich ab und ließ die Frau stehen.

„Das nächste Mal benütz das Treppenhaus wie ein vernünftiger Mensch!“

Lea stellte sich taub. Ihr spukte anderes im Kopf herum. Etwas, das ihre Ungeduld anstachelte und sie auf den Spielplatz drängte. Einen Spielplatz für Kleinkinder, vom Magistrat der Stadt Wels errichtet. Zehn Gehminuten von der elterlichen Wohnung entfernt. Ausgestattet mit Sandkasten, Schaukel, Rutsche und unzähligen Holzbänken, die überall herumstanden. Manche in dicht bewachsenen Gartenlauben versteckt. Eine dieser Bänke war seit längerer Zeit ihr Zufluchtsort, wo meist Freunde auf sie warteten. Emi, Naz, Walter, Erik und Lukas. Die fünf bedeuteten für Lea Erholung vom Stress in der Schule, Erholung von zu Hause und Erholung von allem, was ihr über die Leber gelaufen war. Meistens trafen sie sich erst am späten Nachmittag, weshalb sie eine leere Bank erwartete, doch zu ihrer Überraschung winkte Emi.

Eigentlich hieß Emi Emilia. Ihre Familie stammte aus Polen. Wegen damaliger politischer Unruhen in diesem Land flüchteten ihre Eltern nach Österreich. Erst vor einem halben Jahr lernten sie sich in der Schule kennen. Sie verstanden sich auf Anhieb und wurden beste Freundinnen. Gleichaltrig wie Lea frisierte Emi ihre glatten, langen, braunen Haare auf einen Seitenscheitel, die sie in Augenhöhe mit einer Spange zusammenhielt. Manche hielten sie wegen ihrer Ähnlichkeit für Schwestern, was beiden schmeichelte. Umso mehr, da beide keine Schwester besaßen, nur je einen Bruder. Super wäre, wenn sie in dieselbe Klasse gehen würden. Machten sie aber nicht.

Nahe genug herangekommen, las Emi an Leas Gesicht ab, dass ihr irgendetwas über die Leber gelaufen war. „Erzähl!“

Schwerfällig ließ Lea sich neben ihr auf die Bank plumpsen und winkte ab. Die fünf in Mathe war zwar wieder gegenwärtig, dennoch hatte sie keine Lust, dieses Thema im Moment breitzutreten. Im Augenblick beschäftigte sie der Rest ihrer Probleme viel mehr.

„War er schon da?“

„Wer? Fabio?“

Leas Ungeduld stieg. „Wer denn sonst?“

Emi lachte: „Es ist kaum vier. Fabio ist sicher noch

mit seinen Kabeln beschäftigt.“

Er lernte Elektromechaniker.

Lea zweifelte: „Ob er heute kommt?“

„Mir scheint, du bist in ihn verliebt?“

„Du spinnst ja.“

Trotzdem konnte es Lea nicht leugnen, Fabio fehlte ihr. Er machte sich rar in der Clique und das seit Wochen. Insgeheim wünschte sie nichts sehnlicher, als dass er sich endlich wieder blicken ließe. Doch sie hütete sich, das auszusprechen. Niemand durfte wissen, was wegen Fabio in ihr vorging. Wenn, dann bestenfalls er selbst.

„Du hättest ihn nicht vergraulen sollen“, plädierte Emi, damit andeutend, dass seine Reaktion, sich unsichtbar zu machen auf Leas grobe Behandlung hin, für sie mehr als verständlich war.

„Und er hätte mich nicht ständig ärgern sollen“, platzte Lea patzig heraus.

Es war ihr ein Rätsel, warum ihr Fabio fehlte. Eigentlich wusste sie nicht, ob er ihr überhaupt fehlte. Zurzeit verstand sie sich selbst nicht. Irgendetwas passierte mit ihr, seit er nicht mehr kam, aber es war ihr nicht möglich zu definieren was. Noch weniger war sie in der Lage das dumpfe Gefühl in ihrer Brust, das sie seit seinem Verschwinden plagte, zu kontrollieren. Im Grunde könnte sie froh sein, ihn nicht mehr ertragen zu müssen. Trotz seiner siebzehn Jahre benahm er sich in ihrer Gegenwart meistens wie ein alberner Fünfjähriger. Schraubte ihr jegliches Zubehör vom Fahrrad ab und versteckte es hinterher. Vom Klingeldeckel bis zum Sitz. Was er dann Spaß nannte.

 

Die Sachen von ihm wieder zurückzubekommen verlangte viel Anstrengung, Ärger und Zeit. Was zur Folge hatte, dass sie nicht nur einmal zu spät nach Hause kam.

Und um den eigenen Frust, der schimpfenden Mutter und dem drohenden Hausarrest vorzubeugen, kam sie in letzter Zeit zu Fuß – ohne Fahrrad – zur Spielplatzlaube. Eine Anstrengung, die sich als überflüssig erwies. Fabio ließ sich nicht mehr blicken.

„Du hättest ihm nicht ins Gesicht schreien sollen, wie widerlich du ihn findest“, plädierte Emi weiter.

Lea stutzte und zweifelte an Emis Loyalität. „Du bist wohl auf seiner Seite!“

„Blödsinn.“

Ein Dackelmischling kam des Weges und ließ die Mädchen verstummen. Keuchend zog er sein Frauchen an der Leine hinterher, und je mehr er keuchte und hechelte, desto mehr zog er.

Kaum waren Hund und Hundebesitzerin um die Ecke verschwunden, fragte Lea: „Und wie läuft es mit dir und Walter inzwischen?“

Emi wurde verlegen. „Was meinst du?“

Mit spitzbübischem Augenzwinkern schubste Lea sie an.

„Ich hab bemerkt, dass du ein Auge auf ihn geworfen hast.“

„Dir entgeht wohl gar nichts, wie?“

„Und was sagt Karli dazu?“

Für ihn schwärmte Emi noch vorletzte Woche, leider ohne Erfolg. „Ach der“, meinte sie herablassend.

„Und?“ Abwartend sah Lea auf die Freundin.

Die tat, als verstünde sie nicht. „Was – und?“

„Bist du verliebt?“

„Was du wieder denkst. Er gefällt mir, weiter nichts.“

„Weiß er es?“

Emi erschrak. „Walter? Neiiin!“

„Du musst es ihm sagen.“

Das war das Letzte, was Emi machen würde. „Er ist eh viel zu alt für mich.“

„Nur ein Jahr älter als Fabio.“

„Achtzehn – und ich fünfzehn. Mein Bruder schlägt mich tot, wenn ich mit einem Achtzehnjährigen rummache.“

„Du musst ja nicht gleich rummachen mit ihm.“

Sie schwiegen eine Weile und beobachteten die Mütter mit ihren Kindern nebenan, wie sie im Sand-

kasten Kuchen formten.

„Vielleicht will er dich gar nicht.“

„Wahrscheinlich.“

Emi seufzte.

Möglicherweise lief es mit Walter genauso ab, wie es immer ablief mit ihr und den Jungs. Der, der ihr gefiel, bemerkte sie nicht, und den, dem sie gefiel, den wollte sie nicht.

Sie seufzte wieder. Wie sie Walter einschätzte, würde er sich über sie lustig machen oder noch ärger, sie auslachen, wenn er von ihrer Zuneigung für ihn erfuhr.

Lea gab sich gönnerhaft. „Wenn du willst, weihe ich ihn ein.“

Ein gutherziger Samariterdienst der Emi erschreckt von der Bank hochfahren ließ. „Bist du verrückt?!“

Ihr lautstarker Gefühlsausbruch bewirkte, dass einige Mütter im Sandkasten aufmerksam in ihre Richtung sahen. Emi war das megapeinlich. Hastig setzte sie sich auf die Bank zurück, in der Hoffnung dann nicht mehr Mittelpunkt ihrer fragenden Blicke sein zu müssen.

„Soll er blöd sterben?“, bohrte Lea ungerührt weiter.

„Ja, soll er.“

Nun fiel bei Lea der Groschen. „Du ängstigst dich vor deinem Bruder.“

„Auch“, gab Emi zu.

„Warum erlaubt dein Vater, dass dich dein Bruder so mies behandelt?“, fuhr Lea auf. Allein der Gedanke an seinen Namen – Thaddäus – brachte sie in Rage.

„Vater ist schwer herzkrank, darum.“

„Und du findest das in Ordnung.“

„Natürlich gefällt mir das nicht, aber Thaddäus ist achtundzwanzig. Ich kann mich nicht gegen ihn wehren.“

Lea verstand sie plötzlich. Ihr Bruder Bernd war zwar erst achtzehn, aber auch sie kannte das Gefühl, sich in manchen Situationen nicht gegen ihn wehren zu können.

„Tja, und deine Mutter kann als Taubstumme ohnehin nichts dagegen sagen“, brummelte Lea.

Fernes Getöse einer Werkssirene ließ sie verstummen. Nach Leas Zeitgefühl vermeldete das Signal halb fünf. Sekundenlang hielt sie den Atem an, denn ihr war bewusst geworden, dass Fabio gerade seinen Arbeitstag beendete.

Die Vorstellung, er mache auf seinem Heimweg vielleicht einen Abstecher zur Laube, brachte ihr Herz aus dem Takt. Dabei rückte der unsympathische Thaddäus automatisch in den hintersten Winkel ihres Denkens.

Erwartungsvoll blickte sie in die Richtung, woher

Fabio stets auftauchte – wenn er auftauchte.

Emi schlug vor: „Hast du Lust im Jugendzentrum eine Runde Tischtennis zu spielen?“

Das Jugendzentrum war gleich um die Ecke, im Keller des Pfarrhauses, wo sich sämtliche Räume der katholischen Jungschar befanden. Der Pfarrer Macadi bemühte sich schon seit einiger Zeit, Lea und Emi als Jungschar-Mitglieder zu ködern. Jedoch zeigten die beiden Mädchen bisher kein Interesse an Basteln, Singen und Lesen innerhalb einer Gruppe von Zehn- bis Dreizehnjährigen.

„Und ich werd euch doch noch kriegen“, scherzte der Pfarrer jedes Mal mit erhobenem Zeigefinger, wenn er sich abermals eine Abfuhr der Mädchen einhandelte.

„Gehen wir, oder gehen wir nicht?“, drängte Emi.

Lea hätte lieber Fabio abgepasst. Eventuell fuhr er ja mit seinem Moped an der Laube vorbei, würde sie sehen und – anhalten. Ein Ding der Unmöglichkeit, das verpassen zu wollen. Bedauerlicherweise ließ Emi nicht locker und ging schon voraus. Worauf Lea ihr widerstrebend folgte.

Die Tischtennishalle wirkte riesig mit den nur vier Tischtennistischen und den beiden Aufbewahrungskästen darin. Zwei Jungs und vier Mädchen beanspruchten gerade drei Standplätze für sich. Das Klopfen der Tischtennisbälle hallte, sobald sie auf den Platten aufschlugen, hohl von den Wänden, genauso wie die Anfeuerungen und Kommandos der Spielenden.

„Wir können“, freute sich Emi, die einen leeren Tisch erblickte. Rasch angelte sie Schläger und Bälle aus einem der seitlich stehenden Schränke, die der Pfarrer zur freien Entnahme dort für die Jungschar-Mitglieder bereithielt, und schon ging es los.

Obwohl Emi der Freundin das Spiel erst kürzlich beibrachte, beherrschte Lea es bereits vortrefflich.

„He, du wirst immer besser“, meinte Emi lachend, nachdem sie wieder nur knapp einen Satz gewonnen hatte.

„Darauf kannst du wetten“, pflichtete Lea ihr bei. Eine Zeit lang hüpfte der Ball über den Tisch hin und her ohne jeden Kommentar der beiden. Lea fiel es schwer, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Fabio schwirrte ihr im Kopf herum und sie bereute, dass sie sich von Emi weichkochen ließ, mit ihr hier zu spielen.

Sämtliche Bälle aus ihren Jackentaschen waren verworfen und auf dem Boden gelandet. Gemeinsam sammelten sie sie auf und steckten sie wieder ein. Ein Vorrat, der das Bücken verminderte. Emi stellte sich in Position und erinnerte: „Ich gebe. Auf die Plätze, fertig, los!“Anfängergerecht, damit Lea den Ball traf, schlug sie an.

Im Normalfall wäre ihr Anschlag keine große Herausforderung für Lea gewesen. Doch wegen Fabio unkonzentriert, schlug sie derart hart zurück, dass die Kugel in weitem Bogen über Emi hinweg sprang und am anderen Ende des Saales landete.

„Du passt nicht auf“, schimpfte Emi, der das Suchen der Bälle langsam lästig wurde. Worauf Lea sich ernsthaft vornahm, Fabio für die nächste halbe Stunde aus ihrem Gedächtnis zu streichen.

Sie wollte nicht mehr daran denken, dass er vielleicht am Spielplatz vorbeifuhr, sie womöglich suchte, während sie hier mit Emi … na ja.

Ein spielender Junge nebenan fixierte die beiden Mädchen, seit sie in die Halle gekommen waren. Emi hatte es längst bemerkt und wurde zunehmend zappeliger unter seinen Blicken. Bald hielt sie es nicht mehr aus.

Sie eilte zu Lea und flüsterte ihr ins Ohr: „Der Junge mit blauer Jacke und Brille beobachtet uns schon eine ganze Weile.“