Sommerchaos hoch fünf

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Sommerchaos hoch fünf
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lebt mit ihrer Familie und Kater Felix in Oberösterreich. Sie schreibt seit ihrem 12. Lebensjahr in mehreren Genres. Ab dem Jahr 2006 veröffentlichte sie als freie Schriftstellerin heitere Romane, Kurzgeschichten, Jugendbuch, Kinderbücher, Hörspiele für Kinder und ein Theaterstück. Die Bilder für ihre Kinderbücher und Covers für ihre Romane zeichnete und gestaltete sie selbst.

Impressum neobooks

Monika Starzengruber

Sommerchaos hoch fünf

Sommerchaos

hoch fünf

Monika Starzengruber


Impressum 2020

Text: © Copyright by Monika Starzengruber

Umschlag: © Copyright by Monika Starzengruber

Verlag: Neopubli GmbH

Köpenicker Straße 154a

10997 Berlin

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

„Steffen, ich telefoniiiere!“

Marlene hörte Selbstlaute – und verstand kein Wort. Zumindest hatte sie begriffen, wer dran war. „Wie?“ Falten gruben sich zwischen ihre Augenbrauen. Sie riss sich das Handy vom Ohr, sah in Richtung „Fußballmannschaft“ und rief nochmals: „Steeeffen, ich te-le-fo-niiiere!“

Steffen stöhnte, keuchte, gab pausenlos Kommandos für den Hund ab und Caligo bellte, als hätte man ihn darauf trainiert.

Marlene hielt sich ein Ohr zu und horchte konzentriert mit dem anderen in das sprechende Ding hinein. Ihre Grimm-Falten verschwanden, sie strahlte. “Waaas? … Nein! Wiiirklich …?“ Nickend erfasste sie, dass Frau Wanninger das nicht sehen konnte. „Ja, natürlich“, sprudelte sie hektisch hervor, unterdessen sie zum Schreibtisch flitzte. „Wann sagten Sie?“ In Windeseile überblickte sie die Arbeitsplatte. Locher, Rosenquarz, aufgeschlagene Bücher, Brillenetui, benutzte Kaffeetassen, Glücksbringer, unfertige Manuskriptseiten, Lautsprecher, Zeitschriften ... Ein Wunder, dass er nicht zusammenkrachte, bei der Ansammlung von Krimskrams obenauf. Da war doch auch der Timer gewesen...

Marlene kramte, schob beiseite, hob hoch, ließ unabsichtlich fallen …

„Wo steckt das Trum!“

Wo man hinsah, die winzige Wohnung war vollgestopft. Kein Wunder bei drei trendgesteuerten Kindern, Mann, Maus und Hund.

Vorhin lag ... der Kugelschreiber ... noch da ... Und ... wo ... zum Kuckuck war der ... Timer! Unter den Zeitschriften? Marlenes Augen weiteten sich. Nicht rutschen, niiiiicht rutschen! Bitte nicht! ...uuuiiije! Na dann … Der Zeitschriftenteppich am Boden musste warten, ... oh …

„Wo sagten Sie?“ Marlene nickte und kurbelte ihren Denkapparat an. „Dienstag, neunzehnter Juni, sechzehn Uhr. Schon notiert.“ Im Oberstübchen. Falls sich in den nächsten Minuten nicht Alzheimer einstellen würde, reichte das fürs Erste.

Steffen kickte den rollenden Ball heran, um Marlene herum und der weiß-braun gefleckte Bernhardiner - ein beachtliches Kalb - tapste hartnäckig hinterdrein. Mit dumpfem Gebell brachte er zum Ausdruck, dass er die Kugel auch haben wollte. Nur über meine Leiche sagte Steffens Blick. Keuchend tänzelte er den Ball zwei Schritte vor, einen nach links, und einen zurück. Außer Atem japste er: „Hast … du … gerufen, … Mam?“

Zuviel der Störungen. Marlene schlug mit der Hand aus, wie ein Pferd mit den Hinterbeinen, wenn es bockte. Strengen Blickes führte sie ihren Zeigefinger an den Mund, was hieß: Sei gefälligst still! Auch du Hund! Doch der knurrte und bellte - immerfort Steffen im Visier.

„Ich werde da sein, Frau Wanninger.“

Auf die pantomime Abmahnung seines „Häuptlings“, der es im Moment scheinbar vorzog, mit dem Telefon zu reden, machte Steffen kehrt und kickte den Ball fort, durch die Bude. Nach wie vor bestrebt, die gummiartige Kugel nicht an den hartnäckigen Vierbeiner zu verlieren, der um seine Beine schwänzelte und kläffte, als gelte es, einen Bellmarathon zu gewinnen.

Krach! Erschrocken riss Marlene ihre Augen auf und das Handy vom Ohr. Verräterisches Klirren, Steffens Entsetztes: „Huch“, und Caligos winseln, lies erahnen, das war mal Geschirr gewesen. Die Wohnung war halt kein Fußballfeld, das ein Fußballmatch überlebte. Wenn etwas überlebte, dann die Klarheit, dass die Behausung zu klein für sieben Köpfe war - Maus und Hund mitgezählt. Dass es Steffen in der winzigen Wohnung überhaupt gelungen war, außer Atem zu kommen, bewies seine Ausdauer. Eine lächerliche Bewegungsfreiheit von fünf Quadratmetern pro Kopf zwang sie tagtäglich, durch die Wohnung zu stolpern.

Sie mussten raus aus diesem winzigen Loch, bevor sie in den Türmen von Haushaltsartikeln und zusätzlichem Geraffel noch erstickten.

Himmel, Frau Wanninger! Schwungvoll führte Marlene ihr Nokia ans Ohr … was hatte sie gesagt? … Ihr Gesicht begann zu strahlen. „Ja … ich freue mich riesig … vielen Dank auch, Frau Wanninger.“

Fassungslos, wie hypnotisiert starrte sie nach nirgendwohin, nachdem sie den Trennungsknopf gedrückt hatte, und konnte es nicht wahrhaben, fünf Sekunden lang.

Schließlich straffte sie sich, stob die Hände in die Höhe und jubelte: „Wir haben sie! Oh Gott, wir haben sie!“, um ihrer ausbreitenden Fassungslosigkeit endlich Luft zu machen.

Alarmiert von ihrem lautstarken Gefühlsausbruch flitzte „Juniorkicker“ Steffen herbei. Nachdem er mit Adlerblick alle Ecken erspäht hatte, wieselte er in sämtliche Ecken und schrie: „Wo ist sie, wo!“, jederzeit bereit, einen Hechtsprung durchzuführen. Zum Vorschein kam aber keine „sie“, sondern nur verräterische Staubfussel, die sich durch den Luftzug seiner heftigen Bewegungen zu Knäuel formten und federleicht über den Boden hopsten. Er war enttäuscht. „Wo hat sie sich jetzt wieder verkrochen?!“

Marlene schwebte in Freudensphären und schwärmte: „Lilienstraße 10.“

Gütiger Gott, welchen Klang dieser Straßenname hatte. Sie war selig. Der sechs Jahre alte Steffen irritiert. Das merkte sie an seinem Blick, als er sie mit den vorwurfsvollen Worten von ihrem Freudenflug auf die Erde katapultierte: „Das kommt davon, weil du immer Türen und Fenster aufreißt!“

„Fips“, seine weiße Maus, vor Tagen aus dem Käfig ausgebüxt, kratzte sich seitdem unsichtbar, aber nicht unhörbar durch die Fünfundfünfzig-Quadratmeter-Wohnung. In der Lilienstraße zehn glaubte er sie für immer verloren.

Die offenkundige Zornesblase über seinem Haupt verlieh Marlene das Prädikat „Schuldig“, was flugs den Verteidiger in ihr zum Leben erweckte, den es drängte zu posaunen: „Bei den minimalen Kubikmetern Luft, die uns hier drin zur Verfügung stehen, muss ich hin und wieder Türen und Fenster aufreißen. Sonst vergasen wir.“

Ein Argument, das bei ihrem Sprössling fruchtete wie ein Apfel in der Gefriertruhe.

„Na gut. Für Neues bin ich immer zu haben. Dann üben wir eben. Vielleicht kommen wir über kurz oder lang auch ohne Sauerstoff aus“, ging sie auf das scheinbar lebensnotwendige Anliegen ihres Jüngsten ein.

Überlebensnotwendiger war es allerdings, die Treffpunktdaten mit Frau Wanninger zu notieren. Reine Vorsichtsmaßnahme sollte das Vergessteufelchen zuschlagen wollen.

„Hast du meinen Timer gesehen?“ Marlenes suchender Blick endete auf dem Boden. Sie runzelte die Stirn. Grundsätzlich widerstrebte es ihr, sich mit Dingen aufzuhalten, die das Schicksalsteufelchen eingefädelt hatte. Doch in Anbetracht, dass gleich eine Horde Kinder über das Parkett und wohl auch über die Zeitschriften trampeln würden, ging sie in die Knie und sammelte, auf allen vieren, eine Zeitschrift nach der anderen ein. Nicht so genau hinsehen, stand in ihrem Gesicht. Denn Staubfussel und Krümel auf dem Parkett mahnten, dass es dringend an der Zeit wäre, wieder einmal Ordnung zu schaffen, in der ewig hinterlassenen Unordnung dieser Familie. Bügelwäsche, Schmutzwäsche, Geschirrspüler und Fenster schrien noch viel lauter.

Indessen Marlene Zentimeter für Zentimeter unter dem Schreibtisch vorwärts krabbelte, „stach“ ihr in der dunkelsten Nische plötzlich ein Eckchen Papier ins Auge und sie stutzte. Um sich gleich darauf zu strecken, danach zu langen und es hervorzuziehen. Welch unverhoffter Fund! Der Notizblock, den sie schon eine halbe Ewigkeit gesucht hatte. Und genau da zu finden, wo sie ihn zu hundert Prozent vermutet hätte. Auf dem Boden unter dem Schreibtisch. „Und du, Kugelschreiber, kommst mir auch gelegen“, murmelte sie, als sie den Stift daneben sichtete. „Aua!“ Schmerzhaft verzog sie das Gesicht. Etwas Spitzes hatte sich durch die dünne Sommerhose in ihre Haut gebohrt. Sie änderte ihre Krabbelstellung in eine seitlich Sitzende und rubbelte an ihrem Knie. Ein winziges Kieselsteinchen flog davon. Ein deutlicher Wink ihres Haushaltes, dass dieser auch über einen Staubsauger verfügte. Nur war der im Aufbewahrungskämmerchen schwer zu hieven, verbarrikadiert hinter den sechs Waschmittel- und Weichspülerflaschen, die sie beim letzten Aktionskauf zum Schnäppchenpreis erworben und davor abgestellt hatte. Nicht gewollt. Gemusst. Die Wandregale waren proppenvoll. Zudem lehnte die Haushaltsleiter darüber. Irgendwann aber musste sie sich an das saugende Ding durchwühlen, das wusste sie. Doch bis dahin würden wahrscheinlich auch ein Berg Taschentücher und Klopapier obenauf liegen, wegen der neuesten Aktionspreisknüller im neuesten Flugblatt. Nie und nimmer konnte sie sich die entgehen lassen, denn der Klopapierverschleiß ihrer Sippe war bombastisch.

 

Marlene verscheuchte alles, was mit Haushalt zu tun

hatte, aus ihren Gedanken, aktivierte ihren geistigen Terminkalender und notierte das Date, das sie vorhin per Handy mit Frau Wanninger vereinbart hatte, im gefundenen Kalender. Danach zog sie ihr Haupt ein, um auf allen vieren unter dem Pult hervorzukriechen, ohne sich den Kopf anzustoßen. „Pffhh“. Kopf doch angestoßen. Wieder in voller Größe auf ihren Füßen legte sie Block und Schreiber wohin sie gehörten. Auf die Schreibtischplatte! Ausnahmsweise war die wegen der fehlenden Zeitschriften vier Quadratdezimeter zu sehen. Marlene tastete nach der wehen Stelle ihres Hinterkopfes und stöhnte: „Willkommen Beule.“ Der Dippel an ihrem Kopf schwoll trotzdem an, aber so wenigstens mit weniger Grimm im Bauch. „Selbst getan ist am Verlässlichsten“, brummelte sie, indes ihr Blick zu Boden auf dem Zeitschriftenteppich fiel. Aufseufzend nahm sie ihre Hand von der wehen Stelle, ging in die Hocke und gemäß einer gefühlten Sklavenarbeit lag der Blätterwald kurz darauf turmgerecht erneut obenauf. Der übliche Zustand in dem erdrückenden Chaos dieser vier Wände war damit wieder hergestellt.

Schon im Vorzimmer packte einen die Platzangst, wenn man die Wohnung betrat. Jeder Garderobenhaken, an dem drei bis vier Jacken und Mäntel hingen, verdeutlichte, dass es in der gesamten Wohnung zu eng war. Wegen der lebensnotwendigen Dinge, die man unbedingt brauchte, wie: Spielsachen, Hundespielzeug, Mauskäfig, zudem Schuhe und Kleidung nach neuestem Trend. Nicht zu vergessen die Accessoires für Körper, Geist und Seele. Die Sachen beanspruchten mehr Raum, als vorhanden war, sie litten bereits an chronischem Luftmangel. Die Dinge, die ständig hinzukamen, machten den Dingen, die längst ihren Platz in den Kisten und Kästen gefunden hatten, den Platz streitig. Sie drückten gegen die Kastentüren, sodass sie mehrmals täglich heraus und zu Boden purzelten und schließlich liegen blieben, wohin die Schwerkraft sie lenkte. Diese Umstände schrien geradezu nach mehr Freiraum, nach dem sie zunehmend gierten. Der Hund reagierte zuerst und verschaffte sich seinen Freiraum auf der Couch im Wohnzimmer. Die zu verlassen war er nur mehr durch anhaltendes Zerren gewillt. Aber noch waren sie nicht bereit, mit ihm zu tauschen, und mit seiner Hundedecke am Boden vorliebzunehmen. Wen wundert, dass Marlene immer öfter Türen und Fenster aufriss, um Küchendünste, Hundeatem und den Geruch des Mauskäfigs zu überleben. Nur so entrann sie zeitweise der Enge in den Räumen wenigstens gefühlsmäßig. Oft sehnte sie sich nach der Zeit zurück, in der Caligo und die Maus noch zu den unerfüllten Kinderwünschen zählte. Damals bettelten und drängten die Kinder so lange, bis sie schließlich nachgab und mit ihnen ins Tierheim fuhr, um Ruhe zu haben. Jedoch unter der strengen Voraussetzung: „Wir schauen bloß und schaffen uns kein Tier an!“ Doch als der tollpatschige Welpe Caligo ihnen im Gehege zulief, waren sie Knall auf Fall verliebt. So allerliebst drollig tapste er schwanzwedelnd um sie herum, dass sie es schlichtweg verdrängten, dass er für die kleine Wohnung bald viel zu groß sein würde.

Haustiere fördern das Pflichtbewusstsein bei Kindern, sagen schlaue Leute. Nach wie vielen Jahren eigentlich?

Das Platzproblem hatte sich mit dem Anruf von Frau Wanninger zum Glück gelöst. Die vor Tagen besichtigte Wohnung war ein Knaller. Sie war hell und geräumig. Und das Schönste: Sie besaß genügend Zimmer. Was hieß: Jedes der Kinder würde sein eigenes Reich bekommen. Himmel, wie schön – keine Streitereien mehr, wem wann was gehörte. Keine Diskussionen mehr, wer wann im Stockbett oben schlafen durfte. Drei Kinder in einem Zimmer unterzubringen verlangten einen Schiedsrichter mit bärenstarken Nerven. Vergangenheit. Marlene strahlte. Sie musste sich bewegen, wollte sie nicht platzen vor Glück. Blind für alles andere stolperte sie über Caligo, der gerade in diesem Moment kläffend an ihr vorbei hinter Steffen und dem rollenden Ball herrannte. Torkelnd versuchte sie, an den Möbeln Halt zu finden, und … krachte auf ihrem Allerwertesten beinhart zu Boden. Schmerz lass nach! Mit zusammengebissenen Zähnen wurde ihr gezwungenermaßen wieder einmal bewusst, dass auch an der Körperstelle ihre Proportionen nicht stimmten.

Marlenes Figur glich einem Grashalm. Aber im Gegensatz zu einem Grashalm fielen ihre Körpermaße ins Auge. Was die Höhe anbelangte. Einen Meter achtundachtzig. Zudem verunstaltete ein Eckzahn ihren lieblich geformten Mund. Schief über dem Schneidezahn gewachsen, gab er ihr das Profil eines Vampirs. Marlene Didrich fand sich alles andere als attraktiv. Sie glaubte nicht wirklich daran, begehrt zu werden, trotz ihrer zehn gemeinsamen Ehejahre mit Pit. Sie fand sich zu dünn, zu lang und zu unscheinbar. Ihre magere Statur brachte sie um die begehrten weiblichen Rundungen. Ihrer Oberweite sah man die drei Kinder nicht an. Eher das Kind.

Ihre Pobacken pochten. Marlene kniff Augen und Lippen zusammen, bestrebt den tobenden Schmerz tonlos zu bewältigen. Den Rücken gekrümmt und die Füße in die Höhe gestreckte kam es stöhnend aus ihr heraus: „Steffen!“ Warum missbrauchte der Bengel die winzige Wohnung immer als Fußballplatz? Das Handy war ihr während des Sturzes aus der Hand gefallen und unter die Couch gerutscht. Noch mit der Marter im Sitzfleisch ringend, wälzte sie sich auf den Bauch, um darunter zu kriechen – ächz – und es hervorzufischen, als es unpassenderweise auch noch anfing zu dudeln. Im Eiltempo vorwärts robbend, die Qual im Hintern, die Staubfussel in der Nase und darauf bedacht die Nasenspitze nicht „abzurasieren“, war sie gewillt das Ding zu erreichen, bevor es verstummte. Nachdem sie es endlich gegrapscht hatte, musste sie es erst mal, von den daran klebenden Staubfusseln befreien, die Tastatur war kaum mehr zu sehen. Die Couch über ihr, das Parkett unter ihr, war sie mehr schlecht, als recht in der Lage sich zu bewegen. Deshalb holte sie tief Luft und pustete sie aus, um nicht hyperventilieren zu müssen, worauf ihr flugs eine Staubwolke ins Gesicht stob. Reflexartig kniff sie die Augen zu, ebenso reflexartig hielt sie die Luft an, um einem Hustenanfall vorzubeugen, und erwartete, dass sich die Staubwolke verflüchtigen würde. Aus Platzmangel blieb die Staubwolke aber, wo sie war. Ihre Lungen verlangten trotzdem nach Sauerstoff und so rang sie japsend nach Luft. Schließlich drückte sie keuchend und hustend auf den Verbindungsknopf. Pit war dran; ihre auch nach zehn Jahren noch konstant bessere Ehehälfte. Jedenfalls sah er das so.

Sofort „bombardierte“ sie ihn mit: „Wo ... hust, hust ... wohnen wir?“

Überrumpelt vergaß er, weshalb er angerufen hatte und stotterte: „Jo ... hann ... straße acht.“

Sie lachte über sein dümmlich dreinsehendes Gesicht geistigen Auges vor sich. „Irrtum - Lilienstraße 10“, hust, keuch.

Überwältigt schnappte er nach Luft. „Wir haben sie?“

Erschrocken über seinen eigenen Aufschrei sah er sich im Buchladen stehend verstohlen um. Mehrere Kunden hatten aufgehorcht und sich fragenden Blickes nach ihm umgedreht, worauf er ihnen seinen freudigen „Brunftschrei“ erklärte: „Ich ziehe um.“

Mit glänzenden Augen und happy bis über beide Ohren nickte Marlene, wie ein Kind, das vor Stolz überschäumte.

„Ist das nicht herrlich?“ Nach einer weiteren Runde auf „Wolke herrlich“ segelnd, kam sie zu dem Schluss: „Du musst sammeln.“

„So mager sind wir wieder bei Kasse?“

In die Bäckergasse, neben den anderen Schnorrern, wollte er sich nur ungern mit Hut stellen, um so das Geld hereinzubringen, das seine Frau wieder einmal zu viel verbraucht hatte. Zu gut kannte er ihre Leidenschaft für Mode und passende Accessoires.

„Nicht Geld“, tadelte Marlene, „Kartons um unsere Sachen einzupacken.“

„Die meisten Sachen hat sowieso der Hund zerbissen. Gib es in die Abfallinsel.“

„Dafür brauche ich auch Kartons.“ Pause. „Warum hast du eigentlich angerufen?“

„Wieso? ... äh, … um dir zu sagen, dass es heute später wird.“

„Schon wieder? Peter! Diese Woche haben die Kinder dich kaum gesehen.“

Wenn sie „Peter“ anstatt „Pit“ zu ihm sagte, hörte der Spaß auf, das wusste er.

„Und ich auch nicht.“

„Marlene …“

„Was gibt´s denn wieder Dringendes im Laden abzuarbeiten?“

„Unser Schlichtsortiment von Verlagen auf Genres zu ändern, tausende Bücher umzuschlichten, braucht seine Zeit. Damit komme ich nur nach Ladenschluss voran. Meistens bin ich tagsüber allein hier, falls dir das entgangen ist.“

„Ho...“, sie stockte. Hoffentlich - hatte sie sagen wollen, biss sich aber gerade noch auf die Zunge. Sie durfte sich von Amelies Reden nicht anstecken lassen, auf keinen Fall.

„Dabei wüsste ich mir was viel Besseres“, raunte seine Stimme plötzlich, wie sie öfter raunte, wenn sie allein waren und Zeit für sich hatten. He, Telefonsex, mal was Neues. Erwartungsvoll spitzte sie die Ohren, zudem erwachte ihr sinnlicher Blick. „Und das wäre?“, gurrte sie. Sein Räuspern klang verheißungsvoll. Gespannt und für alle Schweinereien gerüstet erwartete sie den kommenden "Kick".

„Das wirst du sehen, wenn ich da bin.“

Oh. Eine eiskalte Dusche unter der Brause wäre behaglicher gewesen, als diese, in Form seiner sich schlagartig veränderten Tonlage. War etwa ein Kunde in Hörweite? Ihr Bedauern über das gewaltsam abhandengekommene Thema veranschaulichte ihre Miene und übertrug sich auf ihren Ton, als sie sagte: „Sieh zu, dass es nicht allzu spät wird.“ Ihr Brustkorb drückte. Während des Telefonierens eingezwängt unter der Couch auf dem Bauch zu liegen, zählte nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Sie robbte sich schlängelnd zurück … es kitzelte in der Nase, „haaatschi“ … und unter der Couch hervor.

„Suche inzwischen schon Vorhänge für unsere neue Wohnung aus.“

„Würde ich glatt tun …“, wieder auf ihren Füßen stehend, rubbelte sie an ihrer immer noch kitzelnden Nase. Es roch penetrant nach Staub. Marlenes Blick schweifte durchs Zimmer. Wo kam der her? Als ihr Blick schließlich an ihr hängen blieb, hatte sie das Rätsel gelöst: Sie sah aus, wie ein benutzter Staubwedel! Mit flinken Bewegungen strich sie die Staubfussel an ihrem modischen Outfit fort, dass sie nur so flogen. „… aber ... heute Nachmittag ... bin ich dran ... die Mütterrunde zu vertreten, ... und ihre Kinderschar zu bändigen. Sie müssen jeden Moment hier sein.“

Er lachte. „Dann bist du ja sinnvoll beschäftigt.“

„Ha, ha, ha“, äffte sie, genau wissend, was er mit „sinnvoll“ meinte. Strapaziös! „Ich hoffe, du auch.“

Nachdem Marlene den Trennungsknopf ihres Handys gedrückt hatte, wirkte sie sehr, sehr nachdenklich. Einerseits, weil Freundin Amelie ihr schon seit Wochen mit dem gleichen „Gesang“ in den Ohren lag, … „dein Pit ist untreu“ … vielleicht stimmte es? ... und andererseits … weil zum ersten Mal nach zwanzig Jahren Maren plötzlich aus dem Nichts erschienen war und in strahlendem Outfit vor ihr stand. Mit wohlproportionierten fraulichen Rundungen an den richtigen Stellen und Zähnen, die an eine weiße Perlenkette erinnerten.

Maren betrachtete Marlene eingehend und meinte: „Marlene Didrich, du glaubst deinem Pit nicht. Stimmt´s?“

Maren war Marlenes inneres ich und stellte ihr Wunschgebilde vom äußeren ich dar. Sie besaß zwar die gleichen Gesichtszüge wie Marlene, aber im Gegensatz zu Marlene auch die weiblichen Rundungen an den richtigen Körperstellen und linear gewachsene Zähne. Kurz - einen Frauenkörper, den Männer an Frauen bevorzugten. Gerade so einen, wie Marlene ihn gern für sich gehabt hätte. Bis dato war Maren der Außenwelt verborgen geblieben, weil sie nie dauerhaft zugegen gewesen war. Auch für Marlene nicht. Zudem hatte Marlene sie verschwiegen, um in ihrem Umfeld nicht als verrückt zu gelten. Über die letzten Jahre war das leicht zu handhaben gewesen, da Maren sich nie, auch nicht in kleinster Weise, in ihr gemeldet hatte, geschweige denn ihr erschienen war. Marlene hatte schon vergessen gehabt, dass sie existierte. Zum letzten Mal verkörperte sie sich in Teenie-Schulzeiten. Immer dann, wenn sie neidvoll registrierte, wie das tolle Aussehen anderer Mädchen von ihren Mitschülern bewundert wurde. Denn alles was man an ihr bewunderte, war ihre himmellange magere Gestalt, was ihr schließlich den Spitznamen „Bohne“, abgeleitet von Bohnenstange, einbrachte. Der Spitzname „Bohne“ bewirkte, dass sie eine Zeit lang alles Essbare in sich hineinstopfte, um sich die Kurven anzufuttern, die in den Medien als perfekt vorgegaukelt wurden. Am Ende ähnelte sie dann einem prall gefüllten Kartoffelsack mit schrägem Zahn im Mund, was Bewunderung anderer Art auslöste. Umgetauft von „Bohnenstange“ in „Fettbarsch“, scheute sie es, fortan bemerkt zu werden. Ihre (un)freiwillige Isolation führte mit der Zeit zu Selbstgesprächen, die schließlich Maren ins Leben riefen. Ihr heutiges Erscheinen war typisch und identisch mit ihrem Erscheinen von damals. Auch diesmal war sie in einer Situation aufgetaucht, in der Marlene drohte aus dem Sattel zu fallen.

 

„Was machst du hier?!“, krächzte Marlene irritiert, mit versagender Stimme und einem Blick, der besagte: Was zum Kuckuck … warum taucht Maren plötzlich auf?

Die lachte amüsiert. „Wieso tust du so erstaunt? Du hast mich doch gerufen.“

„Ich dich gerufen?“

„Bist du nicht hin und her gerissen von dem, was Amelie dir seit Wochen erzählt?“

Marlene zuckte gelassen die Schultern. „Amelie ist schon immer eine fantasievolle Plaudertasche gewesen.“

„Klar. Du willst es nicht wahrhaben. Aber du vergleichst dich wieder mit anderen Frauen. Mit attraktiveren Frauen.“

„Nach zwanzig Jahren Kontaktpause mit dir bin ich eine Andere geworden. Du kennst mich überhaupt nicht mehr.“

„Du vergisst, dass wir eins sind. Ich bin in dir drin und weiß mehr über dich, als dir bewusst ist.“

„Was du nicht sagst.“

„Kein Wunder, dass dein Mann seine Abende außer Haus verbringt. Nach der Geburt deiner drei Kinder siehst du ja immer noch aus, als gäbe es an einer Frau weder Busen noch Po.“

Ein Stich mit dem Messer in die noch offene Wunde, Marlenes Gesichtsausdruck offenbarte es nur zu genau.

„Mehr Beweise nötig?“

Okay, Maren kannte sie nach wie vor. „Ich habe es längst aufgegeben, an meinem Äußeren herumzumäkeln.“

„Du belügst dich ja schon wieder. Verständlich. Reiner Schutzfaktor. Wenn man bedenkt, dass Pit dich nur geheiratet hat, weil du schwanger warst.“

„Sieh mal an, die alte, aufbauende Maren, wie eh und je.“

„Ich bin das, was du fühlst.“

„Irrtum. Du bist eine Krücke aus der Vergangenheit, die ich nicht mehr brauche. Inzwischen habe ich nämlich akzeptiert, dass ich aussehe, wie ich ... eben aussehe.“

„Frommer Wunsch. Ob er sich je erfüllen wird? Gib zu, du befürchtest, dass Pit „andere Wege“ eingeschlagen hat.“

„Pit ist mir treu.“ Marlene kam Amelie in den Sinn und brauste auf: „Und auch du wirst es nicht schaffen, mich vom Gegenteil zu überzeugen.“

„Amelie kannst du vielleicht was vormachen, mir nicht. Nach zehn Jahren Ehe ist eure Partnerschaft ... nur mehr eine Partnerschaft.“

Die Türklingel schellte.

So unerwartet Maren aus dem Nichts erschienen war, so unerwartet verflüchtigte sie sich bei dieser „Störung“ auch wieder ins Nichts. Marlene kannte das von früher.

Steffen sauste in ihre verwirrten Gedanken, indem er an ihr vorbei zur Tür stürmte, gefolgt von Caligo. Die Ungeduld des davor Stehenden, der die Türklingel ununterbrochen im Takt drückte, als wäre es ein Musikinstrument, legte sich erst, nachdem er die Tür aufgerissen hatte. Das erste Mitglied der Mütterrunde mit Kind war eingetrudelt. Steffen grinste, als sähe er den Nikolaus und Weihnachtsmann in persona. Während er einen Schritt beiseitetrat, um die beiden hereinzulassen, sah er verschmitzt auf die Ankömmlinge. Mit einem Auge. Mit dem anderen peilte er den Boden an. Wohl hoffend, dass Marlene sich geirrt und Maus Fips sich nicht in die Lilienstraße 10 verflüchtigt hatte und irgendwo noch in der Wohnung herumkroch. Vermutlich befürchtend, die Maus könne unverhofft aus einer Ecke hervorschießen, um doch noch in die Freiheit auf Abenteuerreise zu entschwinden, denn er beschleunigte das Eintreten der beiden, indem er sie in den kleinen Vorraum zog. Anschließend schloss er eilig die Tür. Mit dem Wissen, auch eine dritte Wohnetage stellte bei offener Tür für Mäuse kein Hindernis dar.

Amelie und ihr Sohn Henrik brachten einen Hauch Sommerluft mit; ein Segen für die stickigen Räume. Sie japste nach Luft. „Ich werde nie verstehen, warum es gesetzlich nicht verankert wird, dass in jedem Stockhaus ein Lift eingebaut werden muss“, böllerte sie schwer atmend.

Amelie besaß die weiblichen Kurven an den richtigen Körperstellen. Nur leider viel zu üppig. Ihre zwanzig Kilo Übergewicht wollten nicht weichen, obwohl sie mit ihren Stöcken im Takt zügig durch die Welser Auen walkte, wann immer ihr innerer Schweinehund schlief. Das war nötig, das wusste sie. Denn ihre sitzende Arbeit halbtags im Büro, Abteilung Mahn- und Rechnungswesen, förderte ihre schlanke Linie, wie ein aufgesetzter Diätplan unbeachtet in der Schublade. Trotzdem jede normale Bewegung für sie schon anstrengend genug war und sie nach fünf Schritten bereits schnaubte wie ein gereiztes Nilpferd, war der Wille abzunehmen vorhanden. Auch, weil Marlene sie mit ihrer schlanken, um nicht zu sagen dürren Figur, unbewusst daran erinnerte, dass ihre gemästet aussah. Wäre sie eine Gans, wäre sie reif für den Schlachter.

„Bin ich zu früh?“, fragte sie auf Marlenes abwesenden Blick hin.

Die erwachte aus ihrem „Dornröschenschlaf“, von Maren verursacht, blickte vage lächelnd, mit matter Handbewegung, auf die Freundin und sagte: „Ach wo.“

Unterdessen sie sich mit Küsschen links und rechts begrüßten, knuddelte Henrik Caligos Fell. Was der sich freudig hechelnd und schwanzwedelnd gefallen ließ.

Nach Beendigung dieses immer wiederkehrenden Rituals, wenn sie kamen, schmiss Amelie schwungvoll ihre Handtasche auf die danebenstehende Kommode auf irgendwelchem Krimskrams. Sodass er in Bewegung geriet und mitsamt der Tasche auf den Boden zu fallen drohte. Im Hinblick auf ihre Leibesfülle hopste sie beachtlich rasch hinzu, erhaschte die rutschenden Sachen, um sie dann ein paar Dezimeter daneben obenauf wieder rutschfest zu platzieren. Leicht genervt brummte sie: „Alles ist so proppenvoll hier.“ Sie krauste die Nase und sagte dann in normaler Lautstärke: „Die Schuhe behalte ich an. Die paar Staubkörnchen auf meinen Sohlen können das längst verstopfte Sieb nicht noch mehr verstopfen. Wie der Boden aussieht, kenne ich die meisten Staubfussel vom letzten Mal. Hallöchen, ihr da unten.“ Gewohnheitsmäßig steuerte sie die Küche an.

Marlene runzelte die Stirn, folgte ihr und sagte: „Du weißt, wo der Staubsauger steht. Bedien dich ruhig.“

„So habe ich das nicht gemeint ...“ Pause ... „Auf eine Tasse Kaffee kann ich bleiben.“. Fühlend, dass irgendetwas anders war, als sonst, gab Amelie ihrer Intuition nach. Sie wandte sich um, betrachtete Marlene von oben bis unten genauer und rief entzückt: „Wau, dein heutiges Outfit übertrifft alle Modemagazine. Toll!“

Worauf Marlene endgültig aus ihrer Starre erwachte. Erhobenen Kopfes stellte sie sich in Pose. Um gleich darauf mit der Miene einer Majestät und den Bewegungen einer Ballerina, um die Freundin herumzutänzeln. Um ihr den bestickten Chiffon-Parka, den mit Strasssteinchen gespickten Gürtel und die farblich abgestimmte Sommer-Marlene-Dietrich-Hose an sich vorzuführen. Dabei bauschte sie ihre trendig geschnittene Naturlockenkrause mit der Hand hoch, um einen Hauch von Verruchtheit zu demonstrieren. Mit jeder ihrer Bewegungen baumelten die übergroßen Creolen an ihren Ohren mit.

„Gut auszusehen war schon immer mein Faible“, hauchte sie, mit gespielt verführerischem Blick, a la Marlene Dietrich in dem Film „Der Blaue Engel“. Ihre Aussage entsprach aber nicht a la Film, sondern der Wahrheit. Dabei störte der schiefe Zahn in ihrem Mund noch am wenigsten. Wenn sie vor einem „George Cloony“ oder „Brad Pitt“ stand, lächelte sie ohnehin mit geschlossenem Mund. Sie wusste, das brachte ihre lieblich geschwungenen Lippen voll zur Geltung in ihrem schmalen Gesicht. Ein klitzekleiner Bonus von Mutter Natur, wegen der himmelschreienden Ungerechtigkeit, ihr restliches Äußeres derart karg ausgestattet zu haben. Vielleicht darum war es ihr wichtig - spleenig wichtig - ordentlich geföhnt, dezent geschminkt und modisch gekleidet zu sein. Natürlich mit den dazu passenden Accessoires. Ob beim Spazierengehen, im Buchladen, oder in der Küche vor dem Herd, gut auszusehen war ein tägliches Muss für Marlene. Selbst ihr Schlafanzug wies mehr Ziernähte auf, als manche Straßenkleidung anderer. Trotzdem war Sparen angesagt. Die Mode von Armani begeisterte sie zwar, jedoch ihr Design auch zu tragen war ihr, bei drei trendgesteuerten Kindern, um drei Spuren zu kostspielig.