Verschollen in den Eisbergen

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Verschollen in den Eisbergen
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Monika Hermes

Verschollen in den Eisbergen

Fantasy Geschichte

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Inhaltsverzeichnis

Titel

In den Eisbergen

Die Suche beginnt

Im Eisschloss

Das Reich der Seelenkinder

Personen dieser Geschichte

Legende über die Eiswelt

Impressum neobooks

In den Eisbergen

Tief, tief im Norden, über den riesigen Felsbergen, begann die große Eiswelt. Ihre kalte, blaue Pracht erschien unwirklich. Beleuchtet von einer blassen und doch wie ein Diamant strahlenden Sonne glitzerten die Eiskristalle auf den Zacken der riesenhaften Bergspitzen. Unendlich viele Töne, blassblau, das Schimmern eines kühlen Bergseeblaus, ein Himmelblau, das von den Strahlen der Sonne einen lila Hauch annahm, ein kräftiges Dunkelblau in den Schatten der Bergriesen, ein Hauch von einem Blau, das direkt aus dem Himmel gefallen schien, ein Weißblau auf den Bergspitzen, in tausenden Abstufungen hinuntergehend bis zum Boden der Eisberge, wo es in einem fast schwarzen Blau in die dunklen Graustufen des Felsens überging. Vermischt mit den Strahlen der Sonne, des Mondes oder der Sterne funkelte das Weiß dann oft in Gelbtönen, einem rosa Hauch, silberner Pracht und variierend in den Farben des Regenbogens, wenn das schmelzende Eis durch die Sonne in märchenhafter Erhabenheit erglühte. Eine Unendlichkeit von Schönheit und Stille. Unter den oft mehrere Meter dicken Eisschichten begann der harte, dunkle Fels. Gelegentlich waren die Schichten aus Eis verrutscht, abgebaut oder von der Sonne geschmolzen, so dass der Fels teils durchschimmerte, teils offen zum Vorschein trat.

Gewaltige Türme aus Eis erhoben sich kilometerweit und ihre bizarren Formen ließen die vielfältigen Wunder der Natur erahnen. Riesige Eisklötze, spitze filigrane Nadeln, denen niemand ansah, wie massiv sie dort standen, Türme und Tore aus einem gletscherartigen Eis, vermischt mit Felsen und durchzogen von unzähligen Kristallstrukturen, Fontänen aus gebrochenen Kristallen, so zerbrechlich wirkend und in Regenbogenfarben leuchtend, weite Flächen mit zerborstenen Eisformationen, ein Terrain, so rutschig und gefährlich, dass kaum jemand sich dort hinwagte, Kristallebenen und weite Ebenen, die wie gefrorene Wüsten wirkten. Ein Land, unwirtlich und doch so wunderschön, dass es jedem die Sprache verschlug.

Inmitten dieser Eiswüste lebten die Eisriesen. Sie waren eine uralte Sippe. Gutmütig, aber schnell übermütig werdend, so dass sie mit ihrer Kraft oft Unheil anrichteten. Vor allem die jungen Eisriesen neigten gerne einmal zu Gewaltausbrüchen. Dann brodelte es auf der Eiswelt, wenn sie in ihrem Übermut mit riesigen Eisbällen, scharfkantigen Eisblöcken oder gar Felsstücken einander bewarfen. Schnell konnte es da passieren, dass sie in ihrem Überschwang einen Teil der Bergspitzen verwüsteten, so dass tiefe Krater von den Geschehnissen zeugten.

Die männlichen Eisriesen wurden etwa 3 Meter groß, die Frauen jedoch erreichten nur gute 2 Meter. Ihre Lederhaut schimmerte weißlichblau, durchzogen von blauschwarzen Adern. Ihre braunen, fast schwarzen Augen stellten einen starken Kontrast zu ihrer Haut dar. Ihre Stimmen klangen wie rauchiges, splitterndes Glas. Die Kleidung der Jungen war bunt gefärbt und mit Verzierungen und Borten bestickt, während die Alten braune und dunkle Farben bevorzugten. Im Weiß des Eises waren sie so schon von weitem sichtbar. Das war sehr wichtig, da die Natur hart mit ihnen umsprang und oft genug ein rechtzeitiges Finden das Überleben sicherte.

Einige hundert von ihnen wohnten zusammen im riesigen Eisschloss, errichtet auf und in dem Felsen und dem Eis, mit filigranen Türmen und Zinnen auf dem erhöhten Hauptstück der Anlage, riesigen und oft wuchtig aussehenden Kästen rechts und links davon, Anbauten, die in die Tiefe reichten. In ihnen wohnten die einzelnen Familien. Verschachtelte Gemäuer für die Tiere, die Handwerker und die Wirtschaftsräume. Von weitem wirkte es wie ein verwobenes Netz aus Felsen, über dem die Zinnen und Türmchen wie zerbrechliche Spitzen herausragten.

Überall an den Ecken der einzelnen Gebäude befanden sich wunderschöne Skulpturen, teils aus Eis, teils aus dem Felsen gehauen. Ihre besondere Schönheit bestand jedoch in dem Gegensatz der fast durchschimmernden, weißlichblauen Eisfiguren zu dem extremen Schwarz der Felsformationen und dem dunklen Blauschwarz der Felsfiguren. Auch an den Gebäuden bezauberten riesige Verzierungen aus Eis, die so meisterhaft gefertigt worden waren, dass jedermann meinte, ein Heer von lebendigen Blüten, Tieren oder Wasserfällen vor sich zu haben.

Tief im Innern des Schlosses waren die Schlafkammern angelegt, um die natürliche Wärme des Felsens zu nutzen. Sie waren weit verzweigt und bildeten unter der Erde ein riesiges Flechtwerk aus wabenartigen Wohneinheiten. Enge Familienbünde hatten ihre eigenen Waben und dazwischen verliefen Wege und Abstiege. Der gesamte Bereich glich einer riesigen Ameisenkolonie. Weiter oben befanden sich die Aufenthaltsräume, in denen sich das tägliche Leben abspielte. Jede Familie hatte zusätzlich ihre eigenen Räume, doch zu den Versammlungen trafen sich alle in der großen Halle des Hauptgebäudes, in dem das Oberhaupt lebte, uralt und weise, und dem die Sippe großen Respekt entgegenbrachte. Der „Uralte“, wie er auch respektvoll von allen genannt wurde, war in seiner Jugend weit über 3 Meter groß gewesen. Auch wenn sein Körper inzwischen voller Runzeln und vom Alter gebeugt war, so stellte er immer noch eine imposante Erscheinung dar.

Hierher in die Haupthalle wurden deshalb auch die übermütigen Burschen zitiert, wenn sie wieder einmal zu sehr über die Stränge geschlagen und zu viel angerichtet hatten. Ihr kindisches Verhalten nahm der Uralte stets zum Anlass, um erzieherische Aufgaben mit den täglichen Notwendigkeiten zu vermischen und die Burschen auch in kreative Bahnen zu lenken. So kam es mehr als einmal vor, dass der übermütigste von ihnen an Stelle der zerstörten Felsen eine Skulptur aus Eis zu errichten hatte und die Vorgaben waren so geschickt gestellt, dass derjenige fluchend und lernend über Tage beschäftigt war und ihm die Lust zu weiteren Dummheiten fürs Erste vergangen war. Andere mussten zur Strafe die ungeliebten Aufgaben der Gewandherstellung übernehmen. Oder sie wurden zur Nahrungsbeschaffung herangezogen. So hielten sich mit der Zeit die Ausbrüche in Grenzen und das Leben zog meist friedlich dahin.

Obwohl die Riesen fast alle künstlerisch begabt waren, nahmen die Skulpturbauer eine herausragende Stellung unter ihnen ein und waren hoch angesehen. Viele Riesen waren Metall- oder Steinbehauer, die herrliche Gebrauchsgegenstände für das tägliche Leben anfertigten. Mit Hilfe von speziellen Eiskristallsteinen verstanden sich andere dagegen auf die Kunst des Heilens und Hellsehens. Die Gerber unter ihnen verarbeiteten mit Hilfe dieser Kristalle die Eisbergziegenfelle zu besonderen Stoffen, die in der Eiseskälte dieser Welt getragen werden konnten und wunderbar wärmten.

Ihre Nahrung bestand unter anderem aus Wurzeln und Pflanzen, die am Eisrand wuchsen. Die Lieblingsspeise der Eisriesen jedoch waren einige besonders schmackhafte Eiskräuter und eine rotblaue Beerensorte, die nur an wenigen Stellen an kleinen Büscheln an Rändern wuchs, die eine glitzernde Eiskruste, bestehend aus verschiedenen Mineralstoffen, enthielten. Deshalb waren sie eine Rarität. Die Kinder liefen auf der Suche nach ihnen oft stundenlang im Eis herum. Natürlich naschen sie dann vor Ort erst einmal. Doch genauso selbstverständlich brachten sie den größten Teil mit heim ins Schloss, damit auch andere in ihren Genuss kamen. Das Sozialleben unter den Eisriesen war sehr stark ausgeprägt. Allein schon bedingt durch die Launenhaftigkeit dieser Welt, deren Gefahren schier ins Unermessliche steigen konnten. Spezielle Eis- und Felsstücke wurden von den Riesen zur Gewinnung von Mineralien und Spurenelementen verwendet. Sie benötigten sie in Massen, um der Kälte so gut zu widerstehen. Das Fleisch und die Milch erhielten sie von den Eisbergziegen, kleinen struppigen Tieren, deren Fell so dick und dicht war, dass sie wie ovale Pelzkugeln aussahen, die über das Eis kugelten. Ihr Fell war grau, mit einem bläulich, metallenen Schimmer. Die Eisriesen hielten sie in ihren Stallungen.

Über Tag suchten die Tiere in der Eiswelt nach Nahrung, winzigen harten Stängeln, die zwischen dem Eis wuchsen. Obwohl sie sich dadurch oft sehr weit vom Schloss fort bewegten, kamen sie abends immer rechtzeitig zu ihren Ställen zurück, bevor die Dämmerung hereinbrach. Das geschah hier oben meist schlagartig. Noch schien die Sonne in einem glühenden Strahlen. Doch im nächsten Moment versank sie so rapide, dass sich sofort eine samtige Dunkelheit über das Eisland legte. Die Eisriesen hatten so schon von Kindesbeinen an sehr schnell lernen müssen, in welchem Rhythmus der Jahreszeit sich Tag und Nacht wechselten.

 

Die für die Riesen notwendigen Eiskristallsteine waren sehr schwer zu finden. Ausgebildete Sucher durchreisten deshalb die Eiswelt ständig auf der Suche nach ihnen. Oftmals waren sie tief in Höhlen und Spalten verborgen. Diese Eiskristalle kamen selten in großen Mengen vor und die Suche nach ihnen konnte auch schon mal tödlich enden, wenn der Sucher/die Sucherin zu leichtsinnig wurde und, den Kristall vor Augen, jede Vorsicht außer Acht ließ. Sie wussten genau, worauf sie bei ihrer Suche zu achten hatten, obschon auch durch Zufall und in völlig unerwarteten Regionen solch ein Kristall gefunden werden konnte. Im Normalfall waren sie mindestens 5 Meter tief im Boden, umgeben von erstarrtem Wasser, das vor Urzeiten dort geflossen sein mochte. Auch in Höhlen, die vordem einmal Wasser beherbergt hatten, waren sie anzutreffen.

Zurzeit waren 53 Sucher überall auf der Eiswelt unterwegs. Sie waren zu zweit oder zu dritt zusammen. Darunter befanden sich auch Paare, die in dieser Zeit notgedrungen auf Nachwuchs verzichten mussten. Sie wollten noch 3 bis 4 Jahre gemeinsam die Eiswelt erleben, bevor die Frauen zum Kinderkriegen im Eisschloss zurückbleiben würden. Die anderen Gruppen bestanden aus jeweils einem weiblichen und einem männlichen Sucher, die oft auch einen Neuling zur Ausbildung mitnahmen. Es waren Mädchen und Jungen, die durch den Uralten getestet worden waren und für die Wahl als Sucher ideal schienen. Niemand wusste, nach welchen Kriterien der Uralte sie wählte und welche Prüfungen die ausgewählten Kinder bestehen mussten. Sowohl die ausgewählten wie auch die abgewiesenen Kinder hüllten sich danach in Stillschweigen und niemand wagte es, in sie zu dringen. Die jeweiligen Partner der Sucher blieben eine Zeitlang im Eisschloss, bis ihre Kinder groß waren. Am Anfang mussten, selbstverständlich, die gebärenden Frauen zu Hause bleiben. Doch später wurden auch die männlichen Partner in die Pflicht genommen, so dass die Frauen wieder auf die Suche gehen konnten. Es hatte sich herausgestellt, dass ein Team aus männlichen und weiblichen Suchern weitaus erfolgreicher war, als eine Gruppe gleichgeschlechtlicher Sucher. Seither sorgte der Uralte dafür, dass immer die richtigen Kombinationen zusammengeführt wurden.

Jedes halbe Jahr trafen sie am Eisschloss zusammen, gaben dem Uralten ihre Ausbeute und wurden fürstlich belohnt. Abends dann begann ein Riesenfest, das meist 3 Tage dauerte. Die Sucher erzählten von ihren Abenteuern und von den Wunderdingen, denen sie begegneten. Es wurde gesungen, gelacht und viel geredet. Danach blieben die Sucher eine Woche im Schloss, um sich zu erholen, etwas für sich zu gestalten und mit Freunden oder ihren Partnern die Zeit zu genießen. Bevor es wieder losging, stellte der Uralte die Gruppen neu zusammen. Die Paare zogen selbstverständlich allein los, die gemischten Gruppen formierten sich, je nachdem, was der Uralte für Konsequenzen aus dem vergangenen halben Jahr gezogen hatte. So entstanden nie Reibereien und die Sucher konnten getrost auf eine glückliche, wenn auch gefährliche und anstrengende Zeit blicken.

Doch dort unten, wo der steile Fels allmählich ins ewige Eis überging, befanden sich die Hütten der Einsiedler. Mit Erlaubnis der Eisriesen hatten sie sich hier niedergelassen und waren nun Mittler zwischen ihnen und den Menschen. Sie zogen eine seltene Sorte von Bergziegen auf, denen die eisige Luft der Bergwelt nichts anhaben konnte, hatten einen riesigen Kräutergarten angelegt und lebten ansonsten zurückgezogen und selbstgenügsam. Mit den seltsamen Gezeiten von Tag und Nacht hier am Eisweltrand hatten sie sich sehr rasch abgefunden, auch wenn sie nicht so extrem verliefen, wie direkt im Eis.

Mit den Eisriesen lebten sie in Harmonie und tauschten oft ihre Kräuter und ihren Ziegenkäse und auch gelegentlich das Ziegenfleisch gegen die seltenen „Eissteine“ der Riesen. Diese waren ja nur in der Eisregion zu finden, und die Einsiedler waren dankbar über die heilenden Kräfte, die oftmals besser wirkten als alle ihre Kräuter. Gerade hier in der Einsamkeit waren sie so von sehr großem Nutzen. Hin und wieder kamen Menschen und auch Eisriesen, um einige Zeit in der Einsiedelei zu leben und von ihnen zu lernen. Einige der Einsiedler beherrschten noch die uralten Handwerke und wussten viel über die Natur und deren Gesetzmäßigkeiten. Auch die Ruhe und die Zurückgezogenheit waren für den einen oder anderen der Antrieb, eine Zeit lang dort zu verweilen.

Am Fuße des Berges lag ein Dorf, umgeben von einem Weidezaun gegen die streunenden Wildziegen und gegen andere Wildtiere. Die Bauern arbeiteten auf den umliegenden Feldern, hatten Kühe und Schweine und hinter jedem Bauernhof gab es große Gärten mit Obst und Gemüse. Das beschauliche Leben hier war immer noch geprägt von der Natur und die nächste Stadt zig Kilometer weit entfernt. Nur ein einzelner schmaler, steiler Weg führte vom Dorf den Berg hinauf zu den Hütten der Einsiedler. Einige Stunden dauerte der beschwerliche Anstieg. Seit einigen Monaten war nun auch Rudi, der 23jährige Sohn des Dorfältesten, zur Ausbildung dort. Sein Vater hatte beschlossen, dass er hier oben den Umgang mit der Natur und mit Wurzeln und Kräutern erlernen solle, damit er später den Hof noch besser führen könne. Anfangs hatte Rudi sich vehement gegen diese Bevormundung gesträubt, doch inzwischen gefiel es ihm ausnehmend gut bei den Einsiedlern. Einmal im Monat durfte er für ein Wochenende nach Hause gehen, um seine Eltern zu besuchen. Vergnügt marschierte er nun wieder auf dem Weg zurück den Berg hinauf. Das frühe Aufstehen störte ihn nicht. Er war mitten in der Nacht aufgebrochen. Dämmerung lag nun über dem Tal, ein Hauch von Silberlicht erschien am Horizont, leise Frühlingsmorgenkühle mit einem satten Hauch von Erwartung schwebte über allem und die ersten Stimmen weckten die Natur. Frieden und Freude vermischten sich mit diesem ersten Schimmern des Morgenlichtes. Tau glitzerte in den Tiefen und Rudi schritt zügig bergan.

Je höher er kam, umso heller wurde es. Tatsächlich hatte er die Zeit so gewählt, dass er genau bei Durchbruch des Morgens die Anhöhe erreichte, wo die ersten Sonnenstrahlen majestätisch die Ansiedlung mit ihrem Licht trafen. In einem Augenblick noch war ein diffuses Dämmern über dem Ort, doch im nächsten Moment erstrahlte alles in einem seidigen Glanz. Wie von innen heraus schimmerten die Hütten in sanftem Schein und der daneben liegende Bergsee erstrahlte in tausenden von irisierenden und leuchtend glitzernden Farben. Schon tauchte die Sonne mit ihren Strahlen den Abhang in ein warmes, flutendes Licht, das aus Bündeln von zitterndem, leuchtenden Staub zu bestehen schien. Alles verwandelte sich zunehmend in einen gelben, verzauberten Teppich.

Dieser Moment war immer wieder einmalig und unglaublich schön - und schon war es vorbei. Mehrere Male hatte Rudi diesen Moment einfangen können - und jedes Mal war es wieder ein neues und aufregendes Schauspiel. Tief die prickelnde Frühlingsluft einatmend stand er für einige Minuten still da und genoss dieses großartige Geschenk der Natur. Gerade wollte er wieder weitergehen, als eine der Hütten aufging und ein bezauberndes Mädchen in den Sonnenschein trat. Wunderschönes langes, blondes Haar umrahmte ein fast durchscheinendes Gesicht mit weißblauer Haut. Die Sonne ließ es wie flüssigen Honig um ihren Kopf herunter perlen. Sie trug eine grünlich schimmernde Jacke auf der in zartbunten Farben Blüten und Schmetterlinge umeinander kreisten. Doch am Beeindruckendsten waren ihre Augen, als sie zur Sonne hinaufblickte. Rasch eilte Rudi auf sie zu.

So etwas war ihm noch nie begegnet. Tiefdunkle, intelligente braune Augen schauten ihm nun entgegen. Ein spöttisches Lächeln in den Mundwinkeln und das Blitzen in diesen Augen brachten Rudi vollends aus dem Konzept. Als er endlich vor ihr stand, versagte ihm die Stimme. Sie war ja riesengroß. Rudi wurde mit seinen 2,24m im Dorf als ein Riesenkerl angesehen, doch dieses Mädel war ja fast genauso groß. Ihre Ausstrahlung nahm ihm den Atem. „Was gaffst du mich so an? Hast du noch nie ein Mädchen gesehen?“ Ihr Lächeln vertiefte sich noch um eine Spur. „Aber du bist früh unterwegs. Wohin des Weges?“ Nun endlich brachte auch Rudi einen Ton heraus: „Ich komme meistens um diese Zeit zurück auf den Berg, um das Wunder der Natur zu sehen. Doch heute hast du es um vieles übertroffen. Mein Name ist übrigens Rudi.“ Nun war es an dem Mädchen, sprachlos zu sein. Doch sie fing sich sofort und grinste ihn an. „Ich bin Carla. Gerade wollte ich zum Bergsee gehen, um ein wenig zu schwimmen. Willst du mit schwimmen?“ „Brrrr. Diese Kälte ertrage ich nicht. Aber ich würde dir liebend gerne Gesellschaft leisten, wenn du es magst.“ Ein prüfender Blick streifte ihn. Was Carla da sah, gefiel ihr sehr gut. Groß und stattlich, dunkles, fast schwarzes, kurz geschnittenes Haar, bei dem eine zu lang geratene Strähne immer wieder ins Gesicht rutschte, rotbraune, von Wind und Wetter gefärbte Haut, sanft blickende, blaue Augen und ein vergnügtes Lächeln in deren Winkeln. „Dann komm mal ruhig mit. Wenn du nichts Besseres zu tun hast.“

Lachend drehte sie sich um und ging beschwingt zum See. Rudi beeilte sich, neben ihr Schritt zu halten. „Ich habe dich bisher noch nie gesehen und ich bin schon einige Monate hier. So etwas Schönes würde ich niemals übersehen!“ „Das mag wohl sein“, erwiderte Carla. „Ich bin erst seit gestern hier. Der Uralte hat beschlossen, dass ich hier in der Kräuterkunde unterrichtet werde und die Stein- und Tongestaltung erlernen darf. Ich freue mich schon sehr darauf, zumal ich danach bei unserem Skulpturmeister ausgebildet werde. Das ist eine große Auszeichnung für mich. Er nimmt nur selten jemanden zur Unterweisung an.“ Ein Strahlen breitete sich bei diesen Worten in ihrem Gesicht aus. „Wer ist der Uralte?“, fragte Rudi, während er sie fasziniert anblickte. „Nun, das ist unser Oberhaupt. Er ist sehr weise und seine Entscheidungen für unsere Sippe sind immer treffend und sehr gut durchdacht. Auch bei mir hat er sehr schnell festgestellt, wozu ich geeignet bin und außerdem weiß er, dass mir diese Arbeiten die meiste Freude bereiten.“ Inzwischen waren sie am See angelangt. Carla zog ihre Jacke aus und ließ sie auf die Erde gleiten. Darunter kam ein Badeanzug in schimmernden Regenbogenfarben zum Vorschein - und schon war sie mit einem kühnen Sprung ins Wasser abgetaucht. Ein Schwall von Eiswasser traf Rudi, so dass er fluchtartig einige Schritte zurücktrat. Oh jeeeh. Das war ja mehr als lausig kalt!

Vergnügt tauchte Carla wieder auf und sah in sein überraschtes Gesicht. "Dir scheint die Kälte ja gar nichts auszumachen", meinte Rudi kopfschüttelnd. "Ich friere schon beim Zusehen!" "Vergiss nicht, ich bin in der Eiswelt großgeworden. Dort oben ist die Temperatur um einiges kühler. Und ich bin es gewohnt, fast jeden Morgen kurz im Gletscherfluss zu schwimmen. Dort allerdings schwimme ich nackt, was ich hier ja nicht darf." Zwinkernd und übermütig sah sie zu Rudi hinauf. Munter plätscherte sie im See herum und schwamm einige Kreise und Bahnen. Rudi konnte sich nicht satt sehen an ihren anmutigen Bewegungen und dem Schimmern des Wassers auf ihrer Haut. Nach einiger Zeit hatte Carla genug und kam heraus. Wieder bekam Rudi einige Wasserspritzer mehr ab, mit Sicherheit etliche mehr als notwendig, dem überschäumenden Lachen von Carla nach zu urteilen. Doch trotz alledem hielt Rudi ihr fürsorglich ihre Jacke entgegen. "Hast du kein Badetuch oder ähnliches?" "Wozu? Es ist nicht kalt. Die Jacke trocknet zudem und ich muss mich ja sowieso gleich umziehen." Vor dieser Logik musste Rudi fassungslos kapitulieren. "Nicht kalt? Ich kann es kaum glauben!"

"Aber was machst du denn nun hier oben?" fragte Carla auf dem Rückweg. "Ich will, bzw. soll nach dem Wunsch meines Vaters die Kräuterkunde lernen. Erst fand ich es schrecklich. Doch inzwischen habe ich Spaß daran gefunden und seit heute finde ich es einfach wunderbar!" Grinsend schaute er Carla an, und sie gab sein Grinsen zurück. "Dann werden wir ja in Zukunft oft zusammen lernen müssen. Au weh!" "Findest du das so schrecklich?" tat Rudi empört. "Das werde ich erst mal sehen und überhaupt. Du scheinst ja mit Kälte überhaupt nicht klarzukommen. Hoffentlich sind die Kräuter da mehr dein Fall." Lachend lief sie davon und verschwand in einer der Hütten. Langsam folgte Rudi ihr, um sich bei den Einsiedlern zurückzumelden und den Tag wie gewohnt zu beginnen. Doch heute war ein neues Lächeln auf seinem Gesicht und in seinem Herzen.

Das bemerkten auch Edgar, Thomas, Adalbert und Berthold, als er zu ihnen ins Zimmer trat. Die vier waren dabei, die Tische zu richten und hatten sich schon über sein spätes Kommen gewundert. Nun grinsten sie einander an. "Ach, wie kommt es wohl, dass du heute so spät dran bist?", spöttelte der grauhaarige Edgar. Er war mit seinen 75 Jahren der Älteste nach dem Prior Karl, der mit seinen 82 noch so rüstig wie ein 50jähriger war. Überhaupt schienen die Nähe der Eiswelt und die Arbeit im Freien die Einsiedler nicht altern lassen zu wollen. Alle waren sie hager und dunkel gebräunt von der Sonne hoch im Berg. Zwar hatten einige, wie zum Beispiel Berthold, einen leichten Bauchansatz, der durch das ansonsten eher dürre Aussehen etwas extrem wirkte, aber das machte sie sehr sympathisch. Thomas und Adalbert, die 55jährigen Zwillinge, waren im Allgemeinen von ruhiger Natur, im Gegensatz zum 58jährigen Berthold, dessen Heiterkeit und Temperament schon oft zu schrägen Situationen geführt hatte. Da konnte dann nur Edgar die Wogen glätten und mit seinem bissigen Humor für Lacher auf allen Seiten sorgen. Dieses Kleeblatt schien geradezu untrennbar. Wo der eine war, waren die anderen mit Sicherheit nicht sehr weit entfernt. Alle vier waren Künstler in der Gestaltung und wussten über Kräuter mehr, als Rudi je für möglich gehalten hätte. Von Anfang an hatten sie den jungen Burschen in ihr Herz geschlossen und nahmen ihn wie selbstverständlich unter ihre Fittiche.

 

Nun schaute er in ihr gemeinschaftliches Grinsen - und ahnte schon ihre nächsten Worte. Und richtig. "Na, ist dir schon jemand heute über den Weg gelaufen? Da scheinen ja jede Menge Strahlen abgesprungen zu sein." Lachend reichte Berthold ihm die Hand. Auch die anderen drei begrüßten ihn herzlich. "Ich habe die Sonne persönlich auf der Erde herumlaufen gesehen", antwortete Rudi verschmitzt. Er kannte seine vier väterlichen Freunde gut genug und wusste, sie würden zwar über ihn lästern, aber niemals ein Sterbenswörtchen darüber den anderen gegenüber verlauten lassen. "Also hat Carla auch dich bezaubert, genau wie alle hier", schmunzelte Thomas. "Na, dann wird das ja eine lustige Zeit werden, da wir euch beide in den nächsten Wochen gemeinsam mit den Anwendungen der Kräuter vertraut machen wollen." "Und vielleicht kannst du Carla ja zwischendurch schon ein wenig über das erzählen, was du bei uns gelernt hast", fiel Adalbert mit ein. Rudi war begeistert. Konnte er so doch ganz zwanglos mit Carla viel Zeit verbringen. "Wenn sie einverstanden ist und ihr Lernpensum es noch zulässt", brummte er jedoch nur. "Keine Angst, das wird schon. Schließlich haben wir ja die Verantwortung für sie. Und da du ja sooo ein gelehriger Schüler bist, werden wir ihr genügend Zeit einräumen, dass sie von dir lernen kann."

Alle vier brachen in schallendes Gelächter aus, dem sich Rudi nur anschließen konnte. Dieses Gelächter lockte auch die anderen Einsiedler herbei und nach und nach füllte sich der Raum, bis alle 40 Männer ihre Plätze zum Frühstücken gefunden hatten. Nur einer blieb frei und fragend schaute Rudi seine Freunde an. "Sie hat schon vor über einer Stunde gegessen", flüsterte Berthold ihm zu. "Sie ist frühes Aufstehen gewöhnt und muss erst noch ihren Rhythmus hier finden." Ein wenig war Rudi enttäuscht, doch nach dem gemeinsamen Gebet stürzte er sich hungrig auf das deftige Essen. Heute gab es wieder Kräuterbrot, nach einem Spezialrezept von Edgar. Zusammen mit dem Bergkäse und der luftgetrockneten Salami war das ein herrliches Frühstück. Auch der würzige, nach Blumen und Eiskristallen schmeckende Kräutertee, hergestellt aus besonderen Kräutern am Rande des Eises, war für Rudi ein Genuss. Anfangs hatte er sich damit sehr schwer getan, weil er nur Kaffee kannte und Tee für ihn kein Männergetränk war. Jetzt aber liebte er ihn und vermisste ihn sogar, wenn er einen Tag lang zuhause war.

Nach dem Frühstück nahm Edgar Rudi mit zur Töpferwerkstatt. "Carla hat schon gestern mit einem kleinen Kunstwerk angefangen. Und wie ich sie einschätze, wird sie heute Morgen schon fleißig daran weitergearbeitet haben", erklärte er ihm. "Sie hat tatsächlich ein natürliches Talent. Wenn sie die handwerklichen Fähigkeiten hier noch erlernt, wird sie sicher großartige Dinge zustande bringen." Edgars Augen leuchteten bei diesen Worten. Töpfern war seine Leidenschaft und eine gute Schülerin war für ihn ein Geschenk des Himmels. Schon betraten beide die Werkstatt, in der Carla tatsächlich so vertieft in ihre Tonarbeit war, dass sie ihr Eintreten nicht einmal mitbekam. Fasziniert sahen die beiden Männer ihr zu. Sie saß auf einem Schemel vor einer niedrigen Töpferplatte. Halb herabgebeugt, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich kleine Strähnchen widerspenstig herausgewunden hatten, die Augen jetzt von ihren langen, seidigen Wimpern bedeckt, die Nase vor lauter Konzentration kraus gezogen und mit geschickten Fingern den Ton formend, gab sie ein Bild völliger Hingabe ab.

Leise räusperte sich Edgar und überrascht zuckte Carla zusammen. "Wir wollten dich nicht erschrecken. Aber da du und Rudi im Augenblick die einzigen seid, die hier bei uns lernen, und ihr deswegen viel Zeit miteinander verbringen werdet, wollte ich euch einander wenigstens vorstellen. - Auch wenn ihr euch schon bekannt gemacht habt." Ein Lächeln huschte über Edgars Gesicht, das sich bei Carla ebenfalls widerspiegelte. In einer fließenden Bewegung stand sie auf, wischte sich ihre Hände an einem Lappen ab und kam auf die beiden zu. Sie trug über einem leuchtend bunten Kleid eine braune Schürze und dieser Kontrast, zugleich mit ihrer überaus hellen Haut, gefiel Rudi ausnehmend gut. "Ich freue mich, dass ich beim Lernen Gesellschaft haben werde", meinte sie, während sie den beiden ihre Hand entgegenstreckte. "Diese Stunden kann ich mit Gewissheit nicht erwarten", erwiderte Rudi mit lächelnden Augen.

"Schau Edgar." Schon wandte Carla sich temperamentvoll an den Älteren und zog ihn zu ihrem Arbeitsstück. "Ich habe die grobe Form fertig und muss unbedingt noch herausfinden, wie ich die filigranen Versatzstücke am besten hineinarbeiten kann." Und ehe sich's Rudi versah, waren beide in eine angeregte Diskussion über die Möglichkeiten und die unterschiedlichen Wirkungen dieser Arbeit vertieft. Schmunzelnd verließ Rudi leise den Raum und suchte Thomas und Adalbert, um mit ihnen ein Beet umzugestalten, dass sie sich schon vorgenommen hatten. Beide waren längst bei ihrer Arbeit und wiesen ihn mit kurzen Worten ein. Bis die Sonne im Zenit stand, arbeiteten die drei unermüdlich und erst das Leuten der Mittagsglocke unterbrach ihr Tun. Zufrieden gingen sie zum Umziehen in ihre Hütten. Die vier Alten hatten eine gemeinsame Hütte. Da Rudi der einzige männliche "Gast" hier war, hatte er, genau wie Carla, eine eigene Hütte für sich. Normalerweise mussten auch alle, die hierher für einige Zeit kamen, mit einem Gemeinschaftsquartier vorlieb nehmen. Doch seit fast vier Wochen hatte Rudi diese Hütte für sich, nachdem die letzten Besucher wieder zurück gegangen waren. Er genoss diese Annehmlichkeit sehr und hoffte, sie noch lange für sich in Anspruch nehmen zu können.

Nun aber sputete er sich, um rechtzeitig zum Essen zu erscheinen, zumal ihn die Aussicht auf ein Gespräch mit einem bezaubernden Mädchen anspornte. Und dieses Mal hatte er Glück. Als er im Essraum erschien, saß Carla schon plaudernd bei Edgar und Berthold. Rasch gesellte er sich zu ihnen und setzte sich Carla gegenüber auf einen freien Platz. Ihr Gespräch drehte sich um Ton und Tonarten, doch bei seinem Erscheinen meinte Edgar: "Lasst uns unsere Fachthemen auf die nächsten Tage verschieben. Dieser junge Mann hier würde sonst vor Langeweile auf dumme Ideen kommen. - Sag Carla, du hattest uns doch gestern von deinen Brüdern erzählen wollen. Wie wäre es jetzt damit?" Blitzend fuhr Carla hoch. "Du langweilst dich hier?" "Aber nein", widersprach Rudi. "Ich lausche gerne deiner Stimme. Sie ist so melodiös. Das reicht mir schon."

Prustend bogen sich Edgar und Berthold auf ihren Stühlen. "Gut gekontert." Carla schaute überrascht zu ihm hinüber. "Aber ich erzähle euch gerne etwas über meine Familie. Ich habe drei ganz tolle große Brüder. Nun ja, meistens ärgern sie mich und ziehen mich auf, weil ich immer so gerne im Gletscherbach schwimme, auch wenn es nicht so gut ist und ich danach eine Weile brauche, um wieder richtig warm zu werden. Doch ich liebe das Toben im Wasser und es stört mich nicht weiter." "Wie lange badest du denn?" fragte Rudi. "Ach, gar nicht so lang. Nur eine gute halbe Stunde. Doch das Wasser ist dort oben an den Rändern fast dickflüssig vom Eis und das bekommt auch uns nicht so gut. Doch es reizt mich immer wieder. Ich gehöre nicht zu den Mädchen, die allzu friedlich ihre Zeit verbringen. Viel lieber tobe ich im Eiswasser oder mit meinen Brüdern in den Eisfelsen herum.