Verschollen in den Eisbergen

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Deshalb haben sie schon oft Ärger mit dem Uralten bekommen - „Sie seien doch schon reifer und sollten mich nicht in ihre Spiele einbeziehen.“ - Aber oft schleichen wir uns heimlich hoch in die Eiszackenberge. Das ist ein Gebiet, weiter weg vom Eisschloss, voller Eiszacken und Geröll, zwar ein wenig gefährlich, aber wir haben schon von klein auf dort unseren Schabernack getrieben, so dass wir uns bestens auskennen und nicht zu Schaden kommen. Ungestört können wir ausprobieren, wer von uns am Geschicktesten ist und wer die meisten Treffer in Richtung der anderen erzielen kann. Wir haben nämlich ein eigenes Spiel erfunden, bei dem wir uns gegenseitig abwerfen, ohne uns direkt zu treffen. Das erfordert viel Übung, die wir uns im Laufe der Zeit angeeignet hatten. Nur darf das natürlich niemand dort oben erfahren." Ein übermütiges Blitzen erschien in ihren Augen. "Unsere Eltern und der Uralte würden wahnsinnig werden. Solche Verrücktheiten sind verboten und die Jungen werden bestraft, wenn sie erwischt werden. Einmal waren wir bei den "normalen" Eisklippen ertappt worden. Doch meine Brüder hatten mich da verstecken können und haben allein die Bestrafung in Kauf genommen. Im Grunde lieben sie mich sehr, auch wenn sie das Sticheln nie lassen können."

Die ganze Zeit hingen Rudis Augen gebannt an Carla, da sie ihre Erzählung mit viel Temperament und ausholenden Gesten unterstrich. "Wie perlendes Mineralwasser", kam es ihm in den Sinn. Ihre Augen strahlten von innen heraus und ihr Lächeln war offen und von einer entwaffnenden Ehrlichkeit. Während sie immer noch von ihrer Familie erzählte, füllte sich der Raum. Als alle vollzählig versammelt waren, bat der Prior um Ruhe. " Meine lieben Brüder. Wie ihr alle wisst, haben wir seit gestern einen neuen Gast in unseren Reihen. Wieder einmal ist uns ein Mädchen aus den Eisbergen anvertraut worden. Ich freue mich, Carla nun offiziell bei uns willkommen zu heißen." Lächelnd schaute er zu ihrem Tisch hinüber. "Wir alle hoffen, dass du dich hier wohl fühlst, dass du viel lernst und unsere Freundschaft mitnehmen kannst in deine Welt." Zustimmendes Gemurmel schlug in Wogen hoch. "Wir wissen, dass du regelmäßig zurück in deine Welt musst", fuhr der Prior fort. "Auch wenn wir hier die Kälte deutlich spüren, ist für euch Eisriesen diese Temperatur viel zu warm und in deinem Alter noch nicht auf Dauer zu ertragen. Deshalb werden deine Brüder dich in drei Monaten wieder abholen, so dass du dich eine Woche im Eis erholen kannst. Du hast deine Lehrer Edgar, Thomas, Adalbert und Berthold ja gestern schon kennen gelernt, und wie es aussieht, kennst du auch schon deinen Mitschüler Rudi. Wir alle wünschen dir hier eine schöne Zeit." Anhaltendes Klatschen beendete seine Rede. Carlas Wangen waren vor Verlegenheit rot angelaufen, doch ein Scherz von Berthold entspannte sie schnell. Beim Essen plätscherte das Gespräch dann munter dahin. Nur Rudi war ein wenig stumm geworden. Diese Tatsache war ihm bisher nicht bekannt und schon jetzt bedauerte er die Zeit, in der er Carla nicht sehen würde.

Am Nachmitttag war Kräuterkunde angesagt. Rudi durfte alle ihm bekannten Kräuter zusammenstellen, während Thomas und Adalbert Carla auf die Besonderheiten jeder einzelnen Pflanze hinwiesen. Hin und wieder gab Rudi eigene Kommentare und Anregungen zum Besten. Wie im Fluge vergingen die Stunden mit Lernen und viel Spaß. Nach dem Abendessen saßen die beiden jungen Leute noch in angeregtem Gespräch zusammen, während die Älteren schon die Ruhe bevorzugten. So vergingen die Tage mit Lernen, Unterhaltungen und so manchem Schabernack. Die beiden lernten sich immer besser kennen und verstehen. Rudi war begeistert von Carlas Unkompliziertheit, ihrem schäumenden Übermut, wenn sie mit tausend Teufeln in den Augen nette Dummheiten gegen ihre Lehrer ausheckte, ihren wirren Ideen, über die sogar die Älteren nur noch den Kopf schütteln konnten, ihrer kreativen Leichtigkeit beim Formen wunderschöner Tonfiguren, ausgefallener Vasen und verwinkelter Schalen. Carla hingegen fühlte sich wunderbar aufgehoben in Gegenwart von Rudi. Seine ruhige Art, der stille, aber treffende Humor, seine Warmherzigkeit, mit der er immer wieder allen hilfreich zur Seite stehen konnte, seine Art, zuzupacken, wenn Kraft und Ausdauer gefragt waren, all das ließ ihre Augen bewundernd zu ihm hinblicken.

Ehe sie sich's versahen, brach der Morgen an, an dem Carlas Brüder sie abholen sollten. Beiden viel die Trennung schwer, denn sie waren unmerklich zu echten Freunden geworden. Gemeinsam warteten sie vor den Hütten auf Carlas Brüder. Mit lautem "Hallo" tauchten endlich Sloban und Urban, die beiden Ältesten, auf. Begeistert umarmten sie Carla. Rudi war von ihnen stark beeindruckt. Beide überragten sie ihn um mehr als einen halben Meter. Ihre temperamentvolle Art, ihre Gesichtszüge, die der Carlas ähnelten und die Art, wie sie sich mit Leichtigkeit bewegten, ließen unschwer erkennen, dass sie und Carla Geschwister waren. Nachdem Carla sie einander vorgestellt hatte, wurde Rudi mit prüfenden Blicken taxiert. Doch schon bald tauten alle auf und unter Lachen und Lärmen verging einige Zeit. Endlich mahnte Sloban zum Aufbruch. Ein letzter Händedruck, und Carla verschwand hinauf in die Eiswelt.

Betrübt ging Rudi wieder an seine Pflichten. Was er auch tat. Ihm fehlten das Lachen und das Temperament seiner Freundin. In dieser kurzen Zeit schon hatte sie sein Denken und Fühlen beeinflusst. Wie leer war die Zeit ohne ihre Verrücktheiten, ohne das Chaos, das sie nach ihren töpferischen Ausflügen zu verursachen verstand, ohne den Übermut und ihre wirren Ideen. Wie viel schöner waren die Arbeit und das Lernen an ihrer Seite. Doch endlich war diese Woche um. Schon früh war Rudi auf den Beinen und spähte immer wieder den Berg hinauf. Seine Freunde ließen ihn in Ruhe, wussten sie doch, was ihren jungen Schützling bewegte. Doch auch diese Tage gingen vorüber.

Plötzlich tauchten zwei dunkle Punkte oben am Berg auf und schon bald war das perlende Lachen Carlas auch aus der Ferne zu hören. Schnell eilte Rudi ihnen entgegen. Carla wurde dieses Mal von Sloban, dem Ältesten, begleitet. Er trug ihre umfangreiche Tasche. Doch auch Carla trug etwas, das in einem schimmernden Tuch eingewickelt war. Fröhlich begrüßten sie einander und sowohl Carlas wie auch Rudis Augen blitzten voller Freude. „Komm, ich nehme dir dein Paket ab“, meinte Rudi, während er Carla die Arme entgegenstreckte. Doch sie wich einen Schritt zurück und drückte ihr seltsames Paket fest an sich. „Nein!“ rief sie mit sich überschlagender Stimme. Irritiert sah Rudi sie an. Beruhigend legte Sloban ihr die Hand auf die Schulter, während er zu Rudi schaute. „Das geht nicht. Carla trägt ihren Wassertänzer. Und den vertraut sie niemandem an. Nicht einmal ich durfte ihn ihr tragen helfen. Er ist ein besonders wertvolles Instrument, das auf sie ausgerichtet worden ist.“ Fragend schaute Rudi die beiden an. „Es tut mir leid, dass ich so schroff reagiert habe“, erklärte daraufhin Carla mit einem kleinen Lächeln. „Aber dieses Instrument ist wirklich etwas Besonderes – und es ist tatsächlich auf mich eingestimmt worden. Wenn wir angekommen sind, kann ich es dir ja mal zeigen und ein wenig demonstrieren.“ „Da bin ich aber echt neugierig!“ stimmte Rudi zu. Und einträchtig gingen sie den Rest des Weges bis zu den Hütten.

Dort angekommen, wurden die Eisriesen von den gerade anwesenden Einsiedlern begrüßt. Als sie sahen, was für ein Paket Carla trug, folgten alle ihr aufgeregt in die große Halle. Dort packte Carla vorsichtig ihr Instrument aus und begann, es zusammenzubauen. Es bestand aus einem durchsichtig schimmernden Glas, das voller kleiner, blauer Sprenkel war. In einigen Teilen dieses Glases befand sich etwas, das weder richtig flüssig, noch richtig fest zu sein schien. Es schimmerte eigenartig und während Carla die Teile zusammensetzte, war ein leises plätscherndes Klingen zu hören. Zuerst steckte sie die Beine in die Querstangen. Darüber wurden in seltsamer Ausrichtung unterschiedlich dicke, lattenartige Glasstangen und -pfosten befestigt. Über das ganze kamen dann Querstreben in unterschiedlicher Länge, die nebeneinanderliegend eine Ebene bildeten. Diese waren die gefüllten Teile. Jedes Teil war zudem unterschiedlich geformt. Über diese Ebene spannte Carla ein seltsames Band, das sie mit einzelnen Streben verband. In der Mitte des Bandes war eine Mulde eingearbeitet. Darin setzte Carla einen funkelnden Kristall von atemberaubenden Farben. Schon war sie fertig und wandte sich lächelnd an Rudi. Rund um sie herum war es inzwischen mäuschenstill. Man hätte tatsächlich eine Stecknadel fallen hören können.

„Das hier ist mein Wassertänzer. Siehst du den Kristall in seiner Mitte? Er hat sich auf meine Schwingung eingestellt und will von niemand anderem angefasst werden. Deshalb bin ich da ein wenig seltsam. Es tut mir leid, dass ich dich so abgewiesen habe.“ „Aber das kann ich doch sehr gut verstehen“, versicherte Rudi ihr. „Ich glaube, ich würde dann ebenfalls so reagieren. Magst du denn etwas vorspielen?“ Carla sah rundherum in erwartungsvolle Gesichter. Rasch holte sie sich einen Stuhl heran. Schon strich sie sacht über die verschiedenen Streben, mal tupfte sie sie an, mal sah es aus wie ein Streicheln, dann wieder ein schnelles Klopfen, ein Wischen – und eine unglaubliche Melodie aus klingendem Wasserrauschen und einer Glockensymphonie breitete sich im Raum aus. Immer neue wundersame Tonfolgen erklangen und zogen alle in ihren Bann. Während des Spieles flossen Regenbogenwellen vom Instrument auf Carla über und wurden von Carla mit ihren eigenen Schwingungswellen beantwortet.

Als Carla aufhörte, ging ein Seufzen der Bewunderung und des Entzückens durch die inzwischen vollständig versammelten Einsiedler. Dann brach ein tosender Applaus los. Strahlend kam der Prior auf Carla zu. „Wunderschön! Du hast uns allen eine Riesenfreude mit deinem vortrefflichen Spiel gemacht. Ich weiß ja inzwischen, dass diese besonderen Wasserträger nur jemandem gegeben werden, der meisterhaft darauf zu spielen imstande ist. Ich erkenne es an dem Seelenstein in seiner Mitte. Hin und wieder durfte ich schon das Spiel auf einem normalen Wasserträger hören, doch etwas so wunderschönes höre ich heute zum ersten Mal. Genauso, wie ich heute zum ersten Mal eines dieser unglaublichen Instrumente zu sehen bekomme. Dein Spiel ist wirklich virtuos! Ich danke dir im Namen aller Anwesenden für dieses Geschenk.“ Carla errötete vor Freude über diese Worte. Dann begann sie, vorsichtig das Instrument auseinanderzulegen und seine Teile in ihr Tuch zu verstauen. Die Einsiedler verteilten sich wieder und gingen ihren gewohnten Verrichtungen nach. Schon bald waren Carla, Rudi und Sloban allein.

 

Voller Stolz erzählte Sloban: „Carla besitzt dieses Instrument schon seit gut einem Jahr. Das in den Streben befindliche Wasser ist mit einem Eiskristall bearbeitet worden, um in der Lage zu sein, diese Klänge hervorzubringen. Doch nur wirkliche Meister schaffen es, darauf zu spielen. Und Carla gehört zu den allerbesten. Der Uralte ist auf sie aufmerksam geworden, als sie vor Jahren ganz gedankenverloren auf einem der üblichen Wasserträger in der Halle unseres Schlosses gespielt hatte. Er ließ sie ausbilden – und letztes Jahr im Frühjahr wurde sie zum Baumeister gerufen. Dort stand dieses wundervolle Stück – und Carla durfte sich ihren Seelenstein aus einer Schale aussuchen.“ „Ohhh jaaa“, seufzte Carla in Erinnerung an diese Stunde. „Es war wundervoll. In der Schale lagen eine Handvoll Steine. Doch dieser hier“ – und sie zeigte strahlend auf den Stein - „dieser zog mich magisch an. Als ich ihn berührte, durchströmte mich ein Blitzen und ich hörte seine Stimme, die mich rief. Im gleichen Augenblick leuchtete er auf, pulsierend und in Farben, die ich nicht beschreiben kann. Er sang, als ich ihn in die Mulde legte – und seither höre ich sein Lied, sobald er dort ruht.“ Carlas Gesicht strahlte so voller Glück, dass Rudi sie wie gebannt anstarrte.

„Das wirklich Wundersame allerdings ist, dass jedes Instrument ein gewisses „Eigenleben“ hat, da die Klänge je nach Instrument und Bediener variieren können.“, fügte Sloban noch hinzu. „Und vergiss nicht zu erwähnen, dass es nur sehr wenige Seelensteine gibt. Sie verbinden sich mit dem Spieler, deshalb ist jedes Instrument nur auf einen Spieler abgestimmt. Diese Spieler müssen gleichzeitig eine natürliche Anziehungs- und Verbindungskraft haben, die sie mit dem Eiswasser eingehen können. Das ist die zweite Bedingung, die an das Spielen dieses Instrumentes geknüpft ist.“ Nun glühte Carla knallrot voller Verlegenheit und sie fuhr ihren Bruder spielerisch an: „Nun ist es aber gut. Ich weiß ja, dass du vor Stolz platzen willst, aber so wichtig brauchst du das auch nicht zu nehmen.“ Rudi grinste. „Er hat aber recht, und er kann tatsächlich mehr als stolz darauf sein, eine so wunderschöne und talentierte Schwester zu haben.“ Lachend schnappte sich Carla ihr Paket und verschwand damit in ihrem Raum. Zurück blieben Rudi und Sloban, die es sich gemütlich machten und über die jeweiligen Ereignisse der letzten Tage redeten. Kurz darauf kehrte Carla zurück und beteiligte sich ausgelassen an den Erzählungen. Viel zu schnell verging dabei die Zeit und Sloban musste zurück. Die beiden jungen Männer waren sich mittlerweile sehr sympathisch geworden und Rudi konnte Carlas Trauer verstehen, als sie sich von ihrem Bruder verabschiedete.

An diesem Tag war Rudi von seinen Pflichten befreit worden und verbrachte vergnügliche Stunden mit Carla beim Erzählen. Nach dem Abendessen kamen auch Edgar, Thomas, Adalbert und Berthold dazu und es wurde ein ausgelassener Abend. Am nächsten Tag nahm der Alltag wieder seinen Einzug. Wie im Flug verging die Zeit mit lernen, arbeiten und Unterhaltungen abends im Aufenthaltsraum. Oftmals gingen Carla und Rudi in ihrer Freizeit schwimmen, denn auch Rudi hatte sich an das Baden gewöhnt, selbst wenn er es nie so lange im Wasser aushielt wie Carla. Doch wenn sie dort zusammen tobten, vergaß er die Kälte vorübergehend.

Eines Nachmittags schlug Carla vor, den Wassertänzer mit an den See zu nehmen, um dort zu spielen. Sie könnten ja später noch schwimmen. Grinsend sah sie Rudi an, der enthusiastisch zustimmte. „Jaja, du willst dich heute wohl vor dem Schwimmen drücken?“, kicherte sie. „Nööööö! Dein Spielen klingt jedoch einfach zu schön. Ich könnte dir stundenlang zuhören.“ Carla strahlte. Während sie an ihrem üblichen Schwimmplatz den Wassertänzer aufbaute, schaute Rudi ihr fasziniert zu. Die Sonnenstrahlen streichelten ihre Haut, das Wasser glänzte silbrig im Sonnenschein und die Wellen gluckerten sanft im leisen Wind. Schon setzte Carla sich auf einen Felsstein und begann zu spielen. Rudi wagte kaum zu atmen, so unglaublich schön erklang nun ihre Musik. Die Wassertropfen schienen mitzuschwingen, die Sonne spiegelte sich wie verzaubert in dem Instrument und eine Symphonie, so unwirklich und wie aus einer anderen Welt, erklang. Rudis Herz erbebte vor Glück und er spürte die Klänge bis ins Innerste seiner Seele. Eine Stille breitete sich in ihm aus, die gleichzeitig ein singendes Jubilieren war. Er saß wie erstarrt und konnte die Augen nicht von diesem Zauberbild wenden. Und dann fing Carla an zu singen. Ihre perlende Stimme mischte sich mit dem klingenden Glockenklang des Instruments, eine unbeschreibliche Schwingung voller Regenbogenwellen entstand zwischen der Spielerin und ihrem Wassertänzer und gebannt lauschte Rudi:

Leise klingt die Glasmusik,

tief in dir so Stück für Stück.

Spiel die Kraft der Melodie,

ewig bindet Träume sie.

..

Findest du was in dir ruht?

Dann wird auch dein Leben gut.

Welt erlischt und wird gebaut,

wer sich weit ins Leben traut.

..

Zauber, tief im Stein versenkt,

der dich doch so sicher lenkt.

Wassertropfen, Glas erklingt,

wenn der Wassertänzer singt

..

Zauberlebensmelodien,

die für dich im Wasser zieh’n.

Ton in dir so ankerfest,

wenn dein Herz du treiben lässt.

..

Glas, Musik, Gefühl erwacht,

Zauberflug zum Stern der Nacht.

Farbenmeer im Lied des Lebens,

Ewigkeit klingt nie vergebens.

Waren Minuten vergangen? Oder Stunden? Waren es Ewigkeiten? Rudi hätte es nicht zu sagen vermocht. Als Carla still vor ihrem Wassertänzer verharrte, umarmte er sie und sagte bewegt: „So etwas hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht zu hören gedacht. Du bist wirklich mehr als eine Meisterin.“ „Vor allem liegt es auch an dem Wasser hier“, lächelte Carla. „In geschlossenen Räumen klingt ein Wassertänzer wunderschön. Spielt ihn jemand im Freien, verstärkt dies seine Kraft und Schönheit noch. Doch am Wasser erwacht für jeden seine ureigenste Melodie und das Wasser zeigt sein Geheimnis auf unvergleichliche Weise.

Wenn die Sonnenstrahlen sich im Wasser spiegeln, erwacht eine Symphonie, die unwirklich klingt. Sie lässt die Herzen erbeben, so dass jeder still wird und den Klängen bis ins Innerste lauschen kann.

Ich habe keine Ahnung, was du in dir vernommen hast. Und jeder andere wird etwas anderes hören, ganz so, wie sein Herz und seine Seele es geben. Das ist das wirkliche Geheimnis eines Wassertänzers und seines eingestimmten Spielers.“ „Und es ist ein traumhaftes Erlebnis. Ich kann dir gar nicht genug dafür danken“, flüsterte Rudi, noch ganz versunken. „Was ist das für ein wunderschönes Lied gewesen?“ „Es ist ein uraltes Lied, das Lied des Wassertänzers. Dieses Lied lernen wir als allererstes. Es ruft den Wassertänzer und bevor wir ihn das erste Mal spielen dürfen, singen wir für ihn dieses Stück. Wenn dann die Wellen vom Wassertänzer ausgesendet werden, ist er bereit, uns zu akzeptieren. Der Uralte hat mir erzählt, dass einmal ein Spieler von seinem Wassertänzer abgelehnt wurde. Der Stein wurde daraufhin ganz dunkel. Es dauerte etwas, bis der richtige Wassertänzer gefunden worden war. Die Wassertänzer haben ihre eigenen Vorlieben, was die Stimme eines Spielers betrifft.“ Rudi war perplex und sah Carla schockiert an. „Der Wassertänzer entscheidet, welcher Spieler ihn spielen darf? WOW!“ „So ist es nun mal. Die echten Wassertänzer waren noch nie einfach. Sie sind mehr als ein Instrument. Sie sind so etwas wie Gefährten fürs Leben.“ Liebevoll strich sie über die Streben.

Hand in Hand saßen sie nun am Wasser und schauten dem Spiel der Wellen zu. Erst, als es anfing zu dämmern, schauten sie sich erstaunt an und merkten, wie viel Zeit plötzlich vergangen war. „Diesen Nachmittag werde ich nie im Leben vergessen. Er war himmlisch.“ Glücklich schaute Rudi Carla an. „Auch ich werde diese Stunden für immer im Gedächtnis behalten. Denn auch mich berührt der Wassertänzer jedes Mal. Vielleicht mehr, als jeden anderen, denn er spricht gleichzeitig zu mir. Und wenn dann noch das Wasser antwortet, werden Geheimnisse zu Träumen verwoben. Ich liebe es, am Wasser zu spielen.“ Carla packte sich ihr Bündel und gemeinsam gingen sie zum Abendessen zurück.

Wenn Rudi nun seinen freien Tag hatte, ging er recht ungern ins Dorf und zu seinen Eltern, denn Carla konnte ihn noch immer nicht begleiten. Eisriesen brauchten etwa ein Jahr, um sich an die Wärme der unteren Regionen anzupassen. Danach war auch das möglich, und Rudi freute sich schon auf den Tag, an dem er Carla mitnehmen und seine bezaubernde Freundin seinen Eltern vorstellen konnte. Auch diese waren schon auf dieses ungewöhnliche Mädchen gespannt, von dem ihnen Rudi nie genug erzählen und vorschwärmen konnte.

Ehe sich alle versahen, war wieder ein viertel Jahr herumgegangen. Für Carla war es nun wieder Zeit, für eine Woche nach Hause zu gehen. Dieses Mal konnte sie alleine zum Eisschloss hinauf. Schließlich kannte sie ja den Weg und wollte nicht wie ein kleines Kind immer wieder abgeholt werden. Deshalb begleitete Rudi sie ein kleines Stückchen. Doch bald ging es für ihn nicht weiter. Die eisige Kälte ließ seine Glieder schlottern und Carla drang in ihn, nun endlich umzukehren. Sie versprach ihm, beim nächsten Mal eine Extrakleidung mitzubringen, die es den Menschen ermöglichte, sich in der Eiswelt aufzuhalten. Nach einem letzten Händedruck marschierte Carla hinauf Richtung Eisschloss und Rudi kehrte schweren Herzens um. Viel lieber hätte er Carla noch begleitet, doch auch er sah die Unmöglichkeit ein.

Am nächsten Morgen wachte Rudi mit einem eigenartigen Gefühl auf. Er hatte geträumt, dass Carla nach ihm gerufen hätte und er sah noch ihr angstvolles Gesicht aus seinem Traum vor sich. Den ganzen Vormittag über lief er unruhig herum, so dass seine Freunde schon lächelten und lästerten. Da erzählte er ihnen, was er geträumt hatte. „Na, mach dir mal keine Gedanken“, beruhigte ihn Berthold. „Dir bekommt wohl die Trennung von ihr nicht und du träumst schon von Gespenstern.“ Ein wenig beruhigt ging Rudi seiner Arbeit nach, doch trotzdem schweiften seine Gedanken immer wieder hin zu Carla und seinen bösen Träumen über sie.

Kurz nach dem Mittagsläuten tauchte plötzlich Sloban auf und verlangte, den Prior zu sprechen. Einige Minuten später wurde auch Rudi zum Prior gerufen. Als er das Zimmer betrat, sah er beide Männer in heller Aufregung. „Du hattest gestern doch Carla begleitet“, fing der Prior an. „Sie ist nicht im Eisschloss aufgetaucht und ihr Bruder ist soeben gekommen, um zu fragen, was los sei. Ich hatte ihm schon berichtet, dass sich Carla, wie geplant, gestern auf den Weg gemacht hatte. Erzähl du uns doch bitte, was du darüber weißt.“ Rudi wurde blass. „Sie ist nicht angekommen? Aber ich habe sie doch bis zum Gipfel gebracht. Als ich die Kälte nicht mehr ertragen konnte, hat Carla mich zurückgeschickt und ist den Weg weitergegangen.“ Sloban fragte Rudi nun aus und meinte im Anschluss: „Wir werden sie suchen müssen. Wer weiß, vielleicht ist sie eine falsche Abzweigung gegangen, obwohl sie den Weg eigentlich kennt. Aber sie kann genauso gut eingebrochen sein. Das Eis ist tückisch, und niemand ist ganz sicher vor der Gefahr. Selbst erfahrene Bergsucher übersehen hin und wieder tückische Stellen, wo sich kantige Kristalle mit lockerem Schnee vermischt haben und eine dünne Kruste auf Spalten bilden.“

 

„Kann ich mich an der Suche beteiligen? Ich könnte nicht ruhig hier sitzen und abwarten.“ Sloban freute sich. „Das hatte ich gehofft, da ich weiß, wie gut ihr euch versteht. Ich habe deshalb spezielle Eisweltkleidung für dich mitgebracht, die dir passen sollte. Hilfe können wir bestimmt gebrauchen. Ich kenne die Tücke des Eises nur zu gut. Oft genug sind mehrere Personen vonnöten, um jemanden zu befreien. Auch kenne ich Carla und bin überzeugt, dass sie nicht versehendlich den falschen Weg genommen haben kann. Sie kennt die Eiswelt wie ihren eigenen Wassertänzer. Also muss etwas geschehen sein.“ Damit reichte er Rudi einen Sack, den er mitgebracht hatte. „Probier die Kleidung am besten gleich an. Wir haben zwei Größen ausgesucht, da wir uns nicht sicher waren.“ „Können wir anderen euch irgendwie helfen?“, fragte der Prior. "Vielleicht kann die zweite Garnitur von einem von uns benutzt werden, um an der Suche teilzunehmen. Wir stellen euch auch alles zur Verfügung, was irgendwie hilft.“ „Auch das nehme ich sehr gerne an“, strahlte Sloban. „Doch ihr wisst genau, wie hart die Eiswelt ist. Sucht also einen Freiwilligen, dem diese Mühsal nicht zu viel wird.“

Während Rudi die Kleidung probierte, begann er, über seinen Traum zu erzählen. Erst überrascht, doch dann völlig schockiert und mit offenem Mund hörte Sloban ihm zu. „Du musst eine sehr starke Bindung zu unserer Schwester haben. Ich fürchte, dein Traum war ein Hilferuf Carlas über die Intuition an dich. Dort spricht Geist zu Geist. Das ist selten.“ Nun fragte er ihn nach allen möglichen Einzelheiten aus. Und während Rudi antwortete, fiel ihm immer mehr ein. Schon bald hatte Sloban eine ungefähre Vorstellung. „Das ist wirklich mehr als hilfreich“, strahlte er. „Wenn dein Traum richtig ist, und davon gehe ich nunmehr aus, können wir das Gebiet eingrenzen. Ich werde zum Eisschloss gehen und Hilfe zusammentrommeln. Du Rudi, und der 2. Freiwillige, ihr könnt schon eine Abzweigung untersuchen, die von hier aus als nächstes möglich wäre. Dann arbeiten wir uns so nach und nach durch.“

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