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Zwischenruf Jacqueline Fehr

Freiheit, Gleichheit, Solidarität – die drei Pfeiler der Aufklärung stelle ich mir immer als Frauengesichter vor. Warmherzig der Blick der Solidarität, streng und ernst das Gesicht der Gleichheit. Und die Freiheit? Unbeschwert ist sie, jung, zart und erwartungsvoll. Wie von Nelson Mandela beschrieben: «Ich bin nicht mit dem Hunger nach Freiheit geboren. Ich war frei geboren – frei in jeder Art, die ich wissen konnte. Frei in den Feldern rund um die Hütte meiner Mutter rumzurennen, frei im klaren Strom zu schwimmen, der durch mein Dorf führte, frei Maiskolben unter den Sternen zu braten und auf den breiten Rücken der langsamen Stiere zu reiten.»1 Seine Freiheit spürte der junge Mandela nicht. Sie war einfach da, sie war unhinterfragt, selbstverständlich. Erst ihre Einschränkung macht die Freiheit beziehungsweise das Drängen nach Freiheit spürbar: «Als ich als junger Mann gemerkt hatte, dass man mir meine Freiheit schon weggenommen hatte, habe ich einen Hunger nach Freiheit entwickelt», kommentierte der spätere Nobelpreisträger. Der Kampf für Freiheit war das Lebenswerk von Nelson Mandela.

Er reihte sich damit in die lange Kette von Menschen weltweit ein, die für Freiheit auf die Strasse gehen, protestieren und schon nur durch diese Proteste ihr Leben riskieren. Sei es für das Recht zu wählen, die Möglichkeit, ihre gleichgeschlechtlichen Partner zu heiraten oder einfach nur Auto fahren zu dürfen und das Kopftuch abzulegen.

So unspektakulär Freiheit für diejenigen sein mag, die sie leben können, so unendlich wichtig ist sie für alle anderen. Menschen in Gefängnissen sehnen sich nach unzähligen Dingen, die für die Aussenwelt so selbstverständlich sind, dass man sie längst nicht mehr als Besonderheit wahrnimmt. Zum Beispiel, die Liebsten zu besuchen oder anzurufen, wenn einem danach ist, im Internet zu surfen, im Sommer ein Eis zu essen, generell selbst entscheiden zu können, was man essen möchte, oder am Wochenende ausgedehnt Sport zu treiben. Das grosse Aufatmen nach der Entlassung aus der Haft weicht irgendwann der Routine, die Freiheit wird wieder zur Selbstverständlichkeit. Das ist richtig, und es gehört zu den Errungenschaften der modernen Gesellschaft, dass wir uns nicht permanent unserer Freiheit erfreuen. Freiheit ist im Alltag genauso wenig spürbar, wie frische Luft nicht als Besonderheit registriert wird.

Freiheit und frische Luft gehören zum Normalzustand. Wo sie gegeben sind, nehmen Menschen sie kaum wahr. Es ist die Unfreiheit, die wir erkennen und die uns belastet. Diese Belastung hat sich im Laufe der Geschichte allerorts immer wieder ins Unerträgliche gesteigert – bis sie sich in Widerstand wandelt. Die Unfreiheit weckt die Zivilcourage und legt damit die Basis für das Aufbegehren gegen die Unterdrückung durch die Mächtigen.

Die Reaktion von Einzelnen kann dann ungeahnte Folgen haben – ein chaostheoretischer Schmetterlingseffekt in der Gesellschaft. Wie der Protest von Mohamed Bouazizi. Für den 26-jährigen tunesischen Gemüsehändler war es nicht in erster Linie die grassierende Armut und die unerträgliche Schufterei fürs gerade mal Lebensnotwendige. Was ihn am 17. Dezember 2010 in den Suizid trieb, waren die Schikanen der Behörden, die Demütigungen durch die Machthabenden, die Sehnsucht danach, nicht fremdbestimmt zu sein.

Der Arabische Frühling war ein Aufstand für Freiheit. Genauso wie die zahlreichen Revolutionen in den Jahrhunderten zuvor. Doch so sehr sich die mutigen Menschen auf den Strassen dieser Welt diese Freiheit wünschten – der Rückschlag liess in vielen Fällen nicht lange auf sich warten. Oft war die Nach-Revolutionsphase unfreier als die Zeit davor. Die alte Ordnung war zerstört und im Vakuum machten sich Despoten aller Art breit. Auf den Sturm der Bastille folgte die Schreckensherrschaft von Robespierre, die Oktoberrevolution ging rasch über in die Diktatur der Sowjets, der Sturz des Schahs zog die Herrschaft der iranischen Theokratie nach sich, und selbst die in der Popkultur verherrlichten Freiheitskämpfer Lateinamerikas entpuppten sich bald als machohafte, selbstherrliche Oligarchen.

Ist die Geschichte der Freiheitskämpfe also eine Geschichte des Scheiterns? Ist die Freiheit nur ein Versprechen ohne Chance auf Verwirklichung? Nein. Wenig hat die Welt so stark geprägt wie das Streben nach Freiheit. Sie treibt die Menschen an, sie macht Menschen mutig.

Die friedliche Überwindung der Berliner Mauer, die Überwindung des Stalinismus in Europa und die Globalisierung von Informationen sind Beispiele jener Freiheitskämpfe, die Frieden und Demokratie brachten und somit erfolgreich waren. So erfolgreich, dass gemäss dem britischen The Economist heute knapp die Hälfte der Weltbevölkerung unter mehr oder weniger demokratischen Bedingungen lebt und viele Formen der Freiheit als selbstverständlich erachtet. Natürlich reicht dieses Ergebnis nicht aus. Selbstverständlich wünsche ich mir eine Welt, in der alle Menschen von den Errungenschaften einer offenen und freien Gesellschaft profitieren können. Bis dahin ist der Weg vielleicht gar nicht so weit. Es ist ein Ziel, das es auf jeden Fall hartnäckig zu verfolgen gilt. Auf dem Weg dahin lauern viele Gefahren. Sei es, dass auf Migrationsbewegungen mit zusätzlichen Mauern und Hindernissen reagiert wird, sei es, dass Grundrechte im Nachgang terroristischer Anschläge mit Füssen getreten werden.

So selbstverständlich das Erleben der Freiheit ist, so selbstverständlich sollte der Schutz der freiheitlichen Errungenschaften sein. Dieser Schutz ist jedoch nicht kostenlos und auch nicht einfach so zu haben. Genauso wie beim Kampf für mehr Freiheit braucht es für die Verteidigung der erreichten Freiheit Zivilcourage, Mut und Engagement von uns allen.

Wie das funktionieren kann, zeigte Nelson Mandela eindrücklich. Als Schwarzer während der Apartheid drangsaliert und als Häftling gefoltert, malträtiert und gedemütigt, reagierte er nach seiner Freilassung ausgleichend und baute Brücken. Brücken für das Verständnis entfremdeter Gruppierungen, unterschiedlicher kultureller Hintergründe und divergierender politischer Strömungen. Diese Brücken wurden zu Brücken in die Freiheit.

Über den Liberalismus hinaus. Freiheit, das «Gattungswesen» Mensch und ökologische Abhängigkeiten
Raul Zelik

Die These, dass der Rechtspopulismus auf dem Weg sei, die liberale Gesellschaft zu zerstören, gehört wohl zu den abgedroschensten Floskeln des Tageszeitungsjournalismus. Ausser Frage steht jedoch, dass die neue Rechte überall eine autoritäre politische Wende im Staat forciert und gleichzeitig gegen jene «Minderheiten» mobilmacht, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mühsam Anerkennung und eine gewisse Gleichstellung erkämpft haben: Nichtweisse, Migrantinnen und Migranten, LGBTQ-Menschen und Frauen, die zwar nie eine Minderheit waren, aber von der maskulin dominierten («Mehrheits-»)Gesellschaft wie eine behandelt wurden. Die neue Rechte will den Ausbau von Armee, Justiz und Polizei und greift zugleich die gesellschaftliche und kulturelle Differenz an. Die Anerkennung sexueller Identitäten wird als «Toiletten-Debatte» lächerlich gemacht, Gleichstellungsbemühungen werden als «Gender-Gaga», die Ächtung rassistischer Begriffe als «Sprech- und Denkverbote» attackiert.

Hinter dieser Offensive steckt ein eigentlich leicht zu durchschauendes Manöver, das man mit Hannah Arendt als Wiederkehr des alten Bündnisses von «Mob und Eliten» bezeichnen könnte. Denn die neurechten Bewegungen setzen zwar auch auf eine Anti-Eliten-Rhetorik, doch hinter ihnen stehen fast überall Superreiche wie Donald Trump, Christoph Blocher, der deutsche AfD-Spender August von Finck oder der Medienzar Rupert Murdoch, der die Brexit-Kampagne finanzierte. Deren politisches Angebot besteht darin, die unter Druck geratene, weiss und männlich geprägte Mehrheitsgesellschaft gegen Ansprüche «von unten» zu mobilisieren. So drischt der Milliardär Donald Trump auf Migranten, Feministinnen und andere vermeintliche «Randgruppen» ein und erhält dafür den begeisterten Applaus eines weissen und männlichen Publikums, das zwischen Mittelschicht und Arbeiterklasse angesiedelt ist. Wie fast immer wird bei der Rechten in Anbetracht sich verschärfender ökonomischer Verteilungskämpfe von sozialen Widersprüchen abgelenkt und ein klassenübergreifender Pakt geschmiedet, der die Verteilungsfrage nach unten, nicht aber nach oben formuliert. In dieser Auseinandersetzung gerät dann auch der bürgerrechtliche Liberalismus unter die Räder, der den individuellen Rechten von Individuen gegenüber Staat und Mehrheit traditionell immer schon grosse Bedeutung beimisst.

Unseligerweise ist diese neurechte Diskursverschiebung auch von Teilen der Linken aufgegriffen worden. Das hat damit zu tun, dass sich vor allem in den USA in den vergangenen dreissig Jahren ein eigenartiges politisches Projekt formiert hat, das die US-amerikanische Soziologin und Feministin Nancy Fraser als «progressiven Neoliberalismus» bezeichnet. Es verbindet eine aggressive Wirtschaftspolitik im Dienst kleiner Finanzeliten mit durchaus fortschrittlichen, aber auf Symbole fokussierten Elementen der Anerkennungspolitik. Was bei Fraser allerdings als Aufruf an Frauen, antirassistische oder LGBTQ-Menschen gedacht war, ökonomische Forderungen stärker zu berücksichtigen und sich gegen die neoliberale Agenda zu positionieren, wurde von manchen Linken als Einladung verstanden, von rechts geschürte Ressentiments zu übernehmen.

In Deutschland beispielsweise schrieb die linke Politikerin Sahra Wagenknecht 2018 in einem Meinungsbeitrag, «Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz» seien «Wohlfühllabel, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren». Richtig an dem Hinweis war, dass der Neoliberalismus mit der Anerkennung anderer sexueller Orientierungen und Identitäten den reaktionären Kern seines Projekts verschleiert. Aber Wagenknecht nutzte gleichzeitig eben auch die Gelegenheit, um der antirassistischen oder LGBTQ-Bewegung ihre Bedeutung abzusprechen. Der Spiritus Rector der von Wagenknecht initiierten (mittlerweile allerdings wieder eingeschlafenen) Aufstehen-Bewegung, der Berliner Dramaturg Bernd Stegemann, ging noch einen Schritt weiter. Er knüpfte an den neurechten Spott über Gender-Debatten an, indem er die These vertrat, eine postmodern gewendete Linke habe «Hypermoralismus» und «paradoxe Sprachspiele» hervorgebracht. Für den Kapitalismus aber, so Stegemann weiter, sei die «offene Gesellschaft nur ein Türöffner, um die sozialen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zerstören zu können».

Als Reaktion auf diesen Affront bekannten sich nun wiederum andere Linke plötzlich trotzig zum Liberalismus. Sie feierten das bürgerliche Freiheitsverständnis und bezogen sich ausgerechnet auf das Konzept der «offenen Gesellschaft» von Karl Popper (1902–1994), das letztlich auf einen ziemlich platten Pluralismusbegriff hinausläuft. Denn Popper, der zu Lebzeiten wohl auch deshalb ein erbitterter Gegner der linken Frankfurter Schule gewesen war, weil er deren Gesellschaftskritik schlichtweg nicht verstanden hatte, propagierte einen unideologischen Antitotalitarismus, der es der Gesellschaft ermöglichen soll, sich immer auf die jeweils beste Lösung eines Problems zu verständigen. Dass das in der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich sein könnte, weil das Prinzip der Gewinnmaximierung uns die meisten Entscheidungen abnimmt, lässt sich mit Popper nicht verstehen. Für den Totalitarismus kapitalistischer Warengesellschaften ist die Theorie der «offenen Gesellschaft» blind.

In diesem Wust von Diskursen ist zuletzt alles durcheinandergeraten: Rechte fantasieren weisse Männer als Opfer von Frauen und verrückten linksliberalen Akademikern. Linke versteigen sich zu der Wahnvorstellung, Antirassismus sei ein Projekt des Kapitals. Und antirassistische Linke halten plötzlich die seichteste Ideologie für ein taugliches Werkzeug im Kampf gegen rechts.

Grundlagen des Liberalismus

Es lohnt sich deshalb, alles noch einmal auseinanderzudividieren und ein paar grundlegende Fragen zu stellen: Was zeichnet diesen Liberalismus, der heute in aller Munde ist, eigentlich aus? Welche Errungenschaften gehen auf sein Konto? Und warum grenzte sich die Linke einst von ihm ab?

In diesem Zusammenhang muss man zunächst der Annahme widersprechen, Rechtsgleichheit und die – relativ – demokratische Verfasstheit des Staates1 gingen auf das Konto des Liberalismus. Tatsächlich hatten die liberalen Vordenker, ebenso wie das Bürgertum im Allgemeinen, ein erstaunlich flexibles Verhältnis zu Sklaverei, gewaltsamer Kolonialisierung und Menschenschinderei. George Washington, Benjamin Franklin und Thomas Jefferson, die Gründer der modernen liberalen Staatlichkeit in den USA, fühlten sich nicht nur der Idee der Gewaltenteilung und den Idealen der Aufklärung verpflichtet, sondern waren auch Sklavenhalter und hielten das offenbar für keinen grösseren Widerspruch zu ihren Freiheitsidealen. Auch die Tatsache, dass der Staat Arbeiter, Frauen und Nichtweisse in den darauffolgenden Jahrhunderten nach und nach als Bürgerinnen und Bürger mit gleichem Wahlrecht akzeptierte, war keineswegs eine Errungenschaft des politischen Liberalismus, sondern eine Reaktion auf gesellschaftliche Kämpfe. In Grossbritannien und Preussen herrschte noch bis ins Jahr 1918 ein Drei-Klassen-Wahlrecht, das den Vermögenden die politische Macht sicherte. So entsandten die reichsten vier Prozent der männlichen Bevölkerung in Preussen ebenso viele Abgeordnete ins Parlament wie die vierzig Prozent männlicher Arbeiter. Fünfzig weitere Prozent der Bevölkerung, nämlich die Frauen aller Klassen, hatten überhaupt nichts zu melden. Sprich: Zwei Prozent der Bevölkerung hatten ein Drittel der politischen Macht. Erst mit der Bewegung der Suffragetten (die sich im Übrigen militant Gehör verschafften und dafür teilweise im Gefängnis landeten) und mit den Arbeiter- und Soldatenrevolutionen setzte sich 1918 in den meisten europäischen Ländern das allgemeine und freie Wahlrecht durch. (Die Schweiz war hier insofern ein Sonderfall, als demokratische Bewegungen schon im 19. Jahrhundert wichtige Erfolge errungen hatten. Doch dafür blieben und bleiben Frauen und Eingewanderte hier besonders lange aussen vor.)

Man muss sich das vergegenwärtigen: Auf der einen Seite ist der moderne Staat ein ganz anderes politisches Gebilde als jener bürgerliche Staat, den die Linken des 19. Jahrhunderts von Marx bis Bakunin attackierten. Andererseits sind allgemeines Wahlrecht, soziale Sicherungssysteme und die rechtliche Emanzipation von Frauen, Arbeitern und Schwarzen – also die zentralen Errungenschaften moderner Staatlichkeit – nicht an bürgerlichen Schreibtischen ersonnen, sondern in den sozialen Kämpfen von Unterdrückten und Ausgeschlossenen geboren worden. Die Widersprüche des liberaldemokratischen Staates sind genau hierin begründet: Seine Gesetze und Institutionen sind Kompromisse, mit denen man auf soziale Forderungen reagierte, ohne die Herrschaftsbeziehungen als solche zu gefährden. Und so erklärt sich denn eben auch, warum der Staat eine formale Gleichheit formuliert, die von den ökonomischen Verhältnissen im realen Leben zur Farce gemacht wird.

Wenn der Liberalismus aber, anders als gemeinhin angenommen, weder das allgemeine Wahlrecht noch die Bürgerrechte für Schwarze, Arbeiter und Frauen zu verantworten hat, womit haben sich die Denker des Liberalismus dann eigentlich beschäftigt? Als Meilenstein des liberalen Denkens gilt unbestrittenermassen John Lockes 1689 veröffentlichte Schrift «Über die Regierung». Wer sie liest, wird möglicherweise einigermassen überrascht sein, denn der Text ist eine Rechtfertigungsschrift der Staatsmacht. Er kreist um die Frage, wie politische Gemeinschaften entstehen und welche Macht an diese übertragen werden soll. Mit dem Aufbau des Staates, der bei Locke noch gar nicht so heisst, sondern «Commonwealth» genannt wird, wird eine äussere Macht etabliert, die als Souverän über den Individuen thront. Locke befürwortet diese Konzentration politischer Macht in den Händen des Staates. Zwar verzichte der Einzelne «auf die Gleichheit, Freiheit und Exekutivgewalt des Naturzustands» und lege seine Rechte «in die Hände der Gesellschaft», doch dafür sorge der Souverän dafür, «seine Freiheit und sein Eigentum besser zu erhalten». Zentrale Bedeutung misst Locke dabei – hier ist er ganz Kind seiner ökonomischen Verhältnisse – dem Schutz des Eigentums bei. Man ist gegenüber diesem Anliegen vielleicht auch als Linker etwas weniger streng, wenn man berücksichtigt, wie Unbewaffnete in den vorbürgerlichen Gesellschaften von Raubrittern, Söldnern und Adeligen terrorisiert wurden. Trotzdem wurden hier vor allem die Interessen solcher Menschen formuliert, die zwar bereits ökonomische, aber noch keine politische Macht besassen. Unberücksichtigt blieben hingegen diejenigen, die weder das eine noch das andere hatten.

Lockes zweites grosses Thema, das dann auch den Verfassungsprozess in den USA beeinflussen sollte, war die daran anschliessende Frage, wie die neue politische Macht begrenzt werden könne. Hier entwickelte der englische Aufklärer eine Theorie der Gewaltenteilung zwischen legislativer, exekutiver und föderativer Macht. Man könnte also sagen: Locke war ein Apologet der Staatsmacht, der sich gleichzeitig aber auch mit der Frage beschäftigte, wie die Macht des Souveräns durch Verrechtlichung und Gewaltenteilung begrenzt werden könne. Gegenüber der Willkür feudaler Macht oder – noch schlimmer – des Kriegszustands war das ein Fortschritt, aber es war eben keineswegs eine Theorie von Demokratie und allgemeiner Rechtsgleichheit. Von sozialer Gleichheit ganz zu schweigen.

John Stuart Mills fast 200 Jahre später, nämlich 1859 veröffentlichte Schrift «Über die Freiheit» ist ein weiterer zentraler Text des Liberalismus, und auch hier geht es um eine Form der Herrschaftsbeschränkung. Für Mill, der auch entschieden für Frauenrechte eintrat und immer wieder die Überwindbarkeit von Naturzuständen betonte, in dieser Hinsicht also bereits von allgemeineren Emanzipationsgedanken beeinflusst war, geht es um das Recht auf Individualität. Wenn Mill den Mut des Exzentrikers rühmt, sich nicht einfach den herrschenden Moralvorstellungen zu unterwerfen, eigene Werte zu entwickeln und der Autorität Grenzen zu setzen, dann klingt er fast wie ein früher Achtundsechziger. Und tatsächlich leistet der Liberalismus an diesem Punkt einen wichtigen Beitrag. Er weist darauf hin, dass Minderheiten und Individuen unveräusserliche Rechte haben, die von der Mehrheit nicht angetastet werden dürfen. Die marxistische Linke, die das Recht auf Differenz und Selbstbestimmung im 20. Jahrhundert mehr als einmal mit Füssen getreten hat, täte gut daran, sich dieses Argument zu eigen zu machen. Doch andererseits darf man sich nichts vormachen: Auch Mill versteht Freiheitsrechte selektiv und garantiert sie am Ende vor allem den ökonomisch Privilegierten. So ist er zwar der Ansicht, dass man die Meinung, wonach «Getreidehändler die Armen aushungern oder Eigentum Diebstahl» ist, äussern können muss. Doch diese Meinungsäusserung sollte bestraft werden, wenn jemand ein entsprechendes Flugblatt beispielsweise vor dem Haus eines Getreidehändlers verteilt. Das bürgerliche Recht auf Reichtum steht auch bei Mill im Ernstfall vor der Meinungsfreiheit und dem Recht auf Essen.

Kritik von links

Damit ist schon angedeutet, warum sich die im 19. Jahrhundert entstehende Linke vom bürgerlichen Denken distanzierte. Der Liberalismus propagiert Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheiten und formale Gleichheit, verteidigt gleichzeitig jedoch Eigentums- und damit auch Machtverhältnisse, die die liberalen Versprechen Makulatur werden lassen. Denn Armut und ökonomische Ungleichheit sind die massivsten Freiheitsbeschränkungen, die man sich vorstellen kann. Die Tochter einer eingewanderten Fabrikarbeiterin hat die Wahl, ob sie Friseurin oder Kassiererin werden möchte, der Amazon-Paketbote die Freiheit, in der Kneipe seine Meinung zu äussern. Der Milliardärssohn hingegen kann seinen Vorlieben nachgehen, sich in allen Lebensbereichen verwirklichen und hat auch ganz andere Möglichkeiten, politisch mitzubestimmen. Er kann sich einen TV-Sender kaufen, einen Thinktank gründen oder ein Lobby-Unternehmen unter Vertrag nehmen, damit seine ökonomischen Interessen gewahrt bleiben. Dadurch, dass der Liberalismus nur die politische, nicht aber die ökonomische Despotie kritisiert, bleibt sein Demokratisierungsprojekt auf halbem Weg stehen. Es ist genau dieser Widerspruch, der regelmässig schwere Krisen des politischen Systems und der demokratischen Repräsentation provoziert. Die Menschen spüren nämlich, dass sie zwar wählen dürfen, aber nicht viel zu entscheiden haben, denn egal, welche Regierung ins Amt kommt, die Wirtschaftspolitik ist immer dieselbe. Und in genau diese Bresche ist der Rechtspopulismus gesprungen, der zwar nicht minder neoliberal wie die staatstragenden Parteien ist, aber doch zumindest die Verlogenheit des politischen Systems zur Sprache bringt und damit als Tabubrecher auftritt.

Die Unfähigkeit, jene Despotie zu erkennen, die sich aus den Eigentumsverhältnissen und der daraus folgenden Ungleichverteilung von Macht erklärt, die Ignoranz gegenüber der banalen Tatsache, dass man zur Wahrnehmung von Freiheiten auch die sozialen Voraussetzungen benötigt – das sind die zentralen Einwände der Linken gegen den Liberalismus. Dahinter steckt eine grundlegende Kritik der bürgerlichen Weltsicht, die Marx im 19. Jahrhundert als idealistisch charakterisierte. Die radikalsten Denker seiner Zeit konzentrierten sich darauf, die Religion zu hinterfragen und Meinungsfreiheit für diese Debatte zu fordern. Sie glaubten, die Gesellschaft verändern zu können, indem sie die bestehenden Ideen zertrümmerten. Marx betonte hingegen, dass die Herrschaftsverhältnisse nicht von der Religion oder einer falschen Moral herrühren, sondern vom «wirklichen Lebensprozess» der Menschen und den ökonomischen Beziehungen. Die Produktionsmittel als Privateigentum in den Händen einiger weniger spalte die Gesellschaft in soziale Klassen, mache die Ware zum Dreh- und Angelpunkt des gesellschaftlichen Lebens und stehe einer bewussten und demokratischen Kooperation im Weg. Wie Marx in einem mehrere Jahrzehnte andauernden Untersuchungsvorhaben herausarbeitete, zogen diese Eigentumsverhältnisse eine spezifische Weltsicht, die Verdinglichung sozialer Beziehungen und neue Formen der Herrschaft nach sich, die subtiler daherkamen als die Despotie der Fürsten und Könige.

Die Marx’sche Kritik richtete sich nie gegen das liberale Freiheitsversprechen; sie wies vielmehr darauf hin, dass dieses Versprechen in einer Gesellschaft der Warenbeziehungen und der Profitmaximierung, der sozialen Ungleichheit und allgemeiner Konkurrenz unerfüllt bleiben muss.

Zu diesem alten Argument kommt aber noch ein neueres hinzu, das mit den philosophischen Grundlagen der Aufklärung zu tun hat. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, lässt sich kaum noch leugnen, dass die westliche Moderne auf einem völlig artifiziellen Menschenbild beruht. Sie geht von einem Subjekt aus, das von sozialen Bindungen und Verpflichtungen losgelöst scheint. Fast so, als ginge es darum, sich von sozialen Kontakten «zu emanzipieren». Der spanische Philosoph César Rendueles hat das als «Soziophobie», als Angst vor der Gesellschaft, parodiert. Und tatsächlich hat das «freie Individuum» – ob nun als Homo oeconomicus der Wirtschaftstheorie oder als «Lonely Wolf» der maskulinen Popkultur – wenig mit unserer realen Existenz zu tun. Wir Menschen sind nicht nur «Gattungswesen», also soziale Geschöpfe, wie schon Marx notierte, sondern grosse Teile unseres Lebens auch extrem pflege- und sorgebedürftig. Die Moderne hat diese Bedeutung von «Care», also «femininen» Tätigkeiten und Verhaltensweisen, immer ausgeblendet. Das erlangt zunehmend auch eine ökologische Dimension. Wir brauchen nicht nur die Gemeinschaft, sondern sind eingebettet in unsere Umwelt. Die Vorstellung eines Subjekts, das sein Schicksal mithilfe des freien Willens gestaltet, ignoriert die soziale und ökologische Verschränkung und richtet sich auf Dauer deshalb gegen das Sein des Menschen selbst. Der Klimawandel und das Artensterben verweisen darauf, wie dringend wir eine Weltsicht brauchen, die nicht von atomisierten Subjekten, sondern von den Abhängigkeiten zwischen Mensch und Natur beziehungsweise zwischen den Menschen ausgeht.

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