Lendenfeuer

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Lendenfeuer
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Max Rudolf Huber

Lendenfeuer

Max Rudolf Huber erzählt in dem Erzählband Lendenfeuer neun ungewöhnliche dramatische Geschichten um Liebe, Leidenschaft und Laster. Die Protagonisten erleben alle eine folgenschwere, leidenschaftliche Begegnung mit einem Menschen, welcher sie in ihren Bann zieht, um auf tragische Weise ihr weiteres Leben zu bestimmen.

Imprint

Lendenfeuer

Max Rudolf Huber

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Einbandillustration A.P. Müller Zürich/Paris

® Copyright by Max Rudolf Huber

Konvertierung: Erik Kinting | www.buchlektorat.net

Über das Buch

Adrian von Reusser klebt der Erfolg an den Fersen – im Geschäft, bei den Frauen und im Spiel. Er wagt hohe Einsätze und er gewinnt. So wie er heute gewonnen hat und die Amerikaner mit ihren eigenen Waffen geschlagen hat auf dem Schlachtfeld um Geld und Macht bei enema Abschluss in Heidelberg. Bei enema Bummel durch die Altstadt von Baden-Baden begegnet er in einer kleinen Buchhandlung Denise, seiner einstigen Jugendliebe, die ihn vor Jahrzehnten verlassen hatte. Sie war seine erste Liebe. Vielleicht seine einzige Liebe. Bis heute …

“Ganz, Florian”, stand da, hingeschrieben in einer grossen, die Linien überfahrenden Schrift, “Beruf: Regisseur”. Regiesseur! Was für ein unglaublicher Zufall. Lynn wusste mit weiblicher Intuition ganz plötzlich, dass er das Wesen war, auf das sie heimlich gewartet hatte, wenn die Zukunft ihr Angst machte und die Bekannten sie auslachten, mit dem sie sprechen konnte über das Theater, über ihre Pläne; der Mensch, der ihr den Text abhören würde, und sie wusste, dass ihr Herz verloren war …

Über den Autor

Max Rudolf Huber, 1945 in Luzern (Schweiz) geboren und aufgewachsen, war für über 35 Jahre im Theater – und Fernsehgeschäft in Deutschland und in der Schweiz tätig. Er lernte Intrigen zu durchschauen und Eitelkeiten zu belächeln. Nichts Menschliches blieb ihm fern, und die Erkenntnise aus seinen Beobachungen hat er in Gedichtbänden, Theaterstücken und Erzählungen niedergeschrieben. Lendenfeuer wurde an der Leipziger Buchmesse 2000 zum ersten Mal veröffentlicht. Im Dezember 2017 erschien sein Gedichtband Was wir Liebe nennen im Deutschen Lyrik Verlag.

Ein Abend in Baden – Baden

Adrian von Reusser liebt dieses Gefühl der Anspannung, die seinen Körper durchzieht wie eine schwingende Saite, liebt es im Ledersitz seines Jagurars zu sitzen und dahinzurasen auf dem unsichtbaren Grat zwischen Leben und Tod und er glaubt zu wissen, dass ihm nichts geschehen kann, denn der Erfolg klebt an seinen Fersen im Geschäft, bei den Frauen und im Spiel und er wagt hohe Einsätze und er gewinnt. So wie er heute gewonnen hat bei dem Abschluss in Heidelberg, und die Amerikaner geschlagen hat auf dem Schlachtfeld um Geld und um Macht, mit ihren eigenen Waffen.

Der Verkehr wird dichter und Adrian reiht sich ein. Die Luft vor seinen Augen flimmert, Schweiss perlt auf seiner Stirn. Die Finger in Kalbslederhandschuhen trommeln auf das Steuer. Staus machen ihn nervös und schnüren ihn ein, lassen Zweifel aufkommen, ganz sacht und kaum bewusst, an seinem Glauben über die Machbarkeit der Dinge und an seine Unfehlbarkeit. Zeit für eine Pause.

Aber noch sonnt Adrian von Reusser sich im Gefühl des Triumphs über den Sieg an diesem Nachmittag in den gediegnen Räumen des alten Palais. Wenn dann doch Zweifel hochkommen,dann und wann, in seltenen Augenblicken der Müdigkeit und der Schwäche, und ihn daran erinnern, dass er in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren nicht immer nur erfolgreich war auf seiner Jagd nach Erfolg und Anerkennung, dann verdrängt er diese ungeliebten Mahnungen in Visionen einer glorreiche Zukunft.

Im langsamen Fahren lässt seine Konzentration nach, schweifen seinen Gedanken ab auf Nebensächliches, und von Reusser bemerkt, dass sein Hemd am Rückenpolster klebt und der Stoff seiner Hose an den Schenkeln.Trotz Klimaanlage, die er wohl vergessen hat richtig einzustellen, und er nimmt, etwas ungehalten, zur Kenntnis, dass er hungrig ist und die Blase voll. Soweit es den Hunger betrifft, hätte er durchfahren können, aber die zwei Stunden nach Luzern, wo sich der Sitz seiner Firma befindet in zwei weiträumigen Wohnungen mit hohen Stukkaturdecken und Blick auf den See, die Bucht und die Berge dahinter, würden die Blase nicht durchstehen.

Während er noch hin und her überlegt, bemerkt Adrian das Hinweisschild nach Baden – Baden und schlagartig wird ihm klar, was er tun wird. Er zieht seinen Wagen auf die rechte Fahrspur, etwas das bei ihm nur selten vorkommt, und reiht sich ein in die Kolonne der Langsamfahrer. Dass er nicht früher daran gedacht hat, erstaunt ihn und er führt es auf seine euphorische Stimmung und die Hitze zurück. Denn es ist für ihn schon zum Ritual geworden, in Baden – Baden einen Halt einzulegen, wenn er auf der A5 südwärts fährt , zurück von seinen Kunden, die er berät und zu neuen Erfolgen führt. Er mag diese kleine Stadt an der Oos, schätzt einige ihrer Lokale, in denen er schon so ausgezeichnet gegessen hat, liebt die erholsame Kühle im schattigen Park und liebt – und dies vor allem – das Casino.

Adrian von Reusser ist kein Spieler aus Leidenschaft, verliert nie das Kalkül, nie die Beherrschung. Aber er liebt die Atmospäre im Casino, das Klappern der Kugeln, die ruhigen Stimmen der Croupiers, das Raunen und Geflüstere, die eleganten Kleider der Frauen, ihren erlesenen Schmuck, den Duft ihres Parfüms und die Erregung die in ihm wächst, wenn eine ihm besonders gefällt. Und er liebt die Spannung wenn die Kugel langsamer rollt und hüpfend endlich zum Stehen kommt. Er setzt geschickt auf Manque und Passe, Pair, Impair, Rouge und Noir, auf das erste Dutzend, das zweite oder das dritte oder, mit Bedacht und Intention, auf eine der sechsunddreissig Zahlen. Wichtig für Adrian von Reusser ist nicht der Gewinn, wichtig ist die Herausforderung. Aber nie, das hat er sich geschworen, verlässt er das Casino ohne nicht mindestens zehn Prozent seines Einsatzes gewonnen zu haben, denn das käme einer Niederlage gleich im Kampf gegen das herausgeforderte Schicksal. Und jetzt, am späten Nachmittag dieses erfolgreichen Tages, fühlt er sich unschlagbar und er weiss, dass er den Roulett–Tisch bald wieder verlassen wird – als Sieger im spielerischen Ringen um die Herrschaft über sein Glück.

Er stellt den Jaguar in das Parkhaus, streift die Handschuhe ab, rückt sich mit Blick in den Außenspiegel die Krawatte zurecht und zieht das Jackett seines Nadelanzugs über. Zum Spielen ist es noch zu früh. Er weiss, das zu dieser Zeit nur Anfänger und alte Damen an den wenigen geöffneten Tischen sitzen würden. Der Gang zur Toilette, ein kurzer Bummel durch die Stadt , um sich die Beine nach dem langen Sitzen zu vertreten, und ein leichtes Essen, etwas Lachs vielleicht und ein halbes Dutzend Schnecken mit Kräutersauce überbacken und ein kühler Rosé ist das, wonach er jetzt Lust hat. Nach der wohltuenden Erleichterung im gekachelten Pissoir, wo es nach Kampfer riecht und Fichtennadeln, taucht er an die Oberfläche empor aus dem Labyrinth der Unterwelt, geht mit zügigen Schritten – denn langsames Gehen kennt er nicht – an den teuren Auslagen der exclusiven Boutiquen in den Jugenstilpavillons am Kurpark vorbei, überquert die Oos auf der Reinhard Fieser Brücke und schaut, mehr zufällig als gewollt, in das Schaufenster der alten Hofbuchhandlung und bleibt stehen. Er bleibt nicht stehen, weil er einen neuen Roman entdeckt hätte oder gar ein Buch, das er schon lange suchte. Denn für das Lesen von Belletristik hat er seit bald drei Jahrzehnten nichts mehr übrig, weil er damals zum Schluss gekommen war, dass es wichtigeres gäbe, als untätig herumzusitzen und seine Zeit mit dem Lesen ersonnener Geschichten zu vertun. Doch jetzt bleibt er stehen, weil ihm der rot-schwarze Hochglanzumschlag eines Bildbandes in die Augen sticht mit einem vierarmigen fernöstlichen Gott darauf abgebildet und einer nackten schmuckbehangenen Frau, in in Ekstase ineinander verschmelzen. Das große Buch des Tantra. Das interessiert ihn. Adrian von Reusser hält sich für einen guten Liebhaber – sportlich, phantasievoll, ledig und reich. Aber über Frauen kann man nie genug wissen, und über ihre verschlungenen Wege der Liebe, die ihm ein ewiges Geheimnis sind, denkt er, während er in den Laden tritt um sich das Buch näher anzuschauen. Er findet es in einem der hohen mit Intarsien verzierten Holzregale, verloren fast zwischen Anleitungen zur glücklichen Ehe in Wort und Bild, Wiehalteichmichfitbüchlein und Interpretationen von Frauenträumen. Blätternd betrachtet er die Federzeichnungen und es trifft ihn schmerzlich, sich eingestehen zu müssen, dass er für die meisten der vorgeschlagenen Positionen die zur Vollendung der Lust empfohlen werden, doch zu ungelenk und wohl auch zu alt ist. Trotzdem erregen ihn die Zeichnungen. Er beschliesst das Buch zu kaufen und geht damit zur Kasse.

Vor ihm stehen noch zwei junge Männer die plaudernd warten und eine Frau, und Adrian von Reusser spürt, wie die Ungeduld in ihm hochsteigt, denn warten ist verlorene Zeit, und er schaut sich um nach einer zweiten Kasse oder einer zweiten Verkäuferin. Doch es ist eine kleine Buchhandlung und eine gemütliche und die Leute verspüren keine Eile. Er betrachtet also die Regale, vermisst das moderne Outfit, die Übersicht und Effizienz, und er betrachtet die Frau die einen halben Schritt vor ihm steht, so wie er alle Frauen betrachtet, prüfend und abschätzend. Sie mochte ungefähr in seinem Alter sein, ein wenig älter vielleicht, so gegen fünfzig, mit langen kastanienbrauen Haaren, Silberfäden durchwirkt, die sie, erstaunlich für ihr Alter, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trägt. Sie ist dünn und drahtig, mit einer nur schwachen Andeutung von Busen, hat große Augen unter schmalen Brauen, hervorstehende Backenknochen und eingefallene Wangen. Ihre dünne Figur wird unterstrichen durch einen langen buntbemalten Faltenrock, einer schwarzen Bluse und einem großen Dreieckstuch, das hinten bis zur Taille fällt, in den gleichen warmen Farben, von ocker bis gelb-orange, wie am Rock. Ihre sehnigen Füsse stecken in Sandalen, die mit ledrigen Riemen gebunden sind. Adrian hat sie kurz zur Kenntnis genommen, bestaunt als exotischen Schmetterling, wendet sich jetzt wieder ab und schaut hinaus auf den Platz, wo sich die letzten Sonnenstrahlen in der Glasfassade der Bank gegenüber spiegeln, bevor sie hinter den Bäume auf dem Klinikhügel über dem Kurpark versinken.

 

Grusslos gehen die beiden jungen Männer an ihm vorbei und hinaus in den kühler werdenden Abend, und Adrian von Reusser dreht sich um und fragt sich, wie lang er wohl noch warten müsse. Von der Kasse her hört er die Stimmen der Verkäuferin und der Frau in Bunt, die mit leicht fremdländischen Akzent ein Buch bestellt. Amerikanerin, denkt er, oder Engländerin. Vielleicht Kanadierin. Oder Australierin oder Neuseeländerin. Südafrikanerin. Er wundert sich, wie viele Länder ihm einfallen, in denen weisse Frauen englisch sprechen, und gleichzeitig weiss er auch, dass es ihn gar nicht interessiert.

"Denise Zimmermann-Hopcroft", hört er die Frau ihren Namen nennen. Er hört es nicht sehr deutlich und ungewollt. Aber wie ein Bannstrahl treffen die Worte ihn und schnell, ja hektisch fast, macht er den einen Schritt neben sie und schaut ihr in die Augen – Mein Gott. – Denise? – und sucht in dem verhärmten Gesicht ihre gemeinsame Vergangenheit.

Sie war seine erste Liebe. Vielleicht seine einzige wirkliche Liebe. Bis heute. Er hatte in der vordersten Reihe des Stadttheaters gesessen, in Orpheus in der Unterwelt. Da hatte er sie gesehen. Eines der Mädchen im Corps de Ballett, auf Spitzen, mit bebänderten Schuhen und weißem Tutu, und sie hatte ihm den Schlaf geraubt in der Nacht und den Seelenfrieden am Tag. Knappe achtzehn Jahre war er damals alt. Es war jene Zeit, in der er noch las, noch Musse hatte ins Kino zu gehen, zum Tanzen und ins Theater, alleine manchmal, oder mit Mädchen, in die er verliebt war, ohne zu wissen, was die Liebe ist, mit denen er schmuste in dunklen Hauseingängen oder auf Bänken im Schutze riesiger Kastanien im alten Friedhof, an deren Blusen er linkisch nestelte oder ihnen drängend zwischen die Beine griff, ohne je zu erfahren, wie das nun war, wovon er all die vulgären Namen kannte, wonach er sich verzehrte in quälenden Träumen, ohne es sich jedoch genau vorstellen zu können. Es war die Zeit, in der er brillierte an Feten und bei Diskussionen mit Witz und mit Chamre und er stolz darauf war, Lessing gelesen zu haben und Kloppstock und Gewinner zu sein eines Wettbewerbes, in dem es darum ging, sämtliche sechsunddreissig Shakespearetitel zu einer einzigen Geschichte zu verweben.

Nach diesem Abend aber vergass er all seine Gespielinnen, die unbefriedigenden Flirts und besessen von Denises Bild, dass sich tief eingebrannt hatte in seine Seele, streifte er um das Theater, wie ein läufiger Rüde, immer in der Hoffnung, sie zu sehen, immer entschlossen, sie anzusprechen, sie einzuladen auf einen Drink oder einen Kaffee ins Dézalay, einem gemütlichen Lokal dem Theater gegenüber in dem es nach geschmolzenem Käse roch und Bohnerwachs. Er stand ungezählte Stunden in einer windgeschützten Nische neben dem dem Künstlereingang und wartete auf das Ende der Vorstellung und liess sich anwehen von der Abluft aus dem vergitterten Lüftungsschacht, einem Duftgemisch von Schminke, Staub und Schweiss, die ihm ein wenig Wärme brachte in bissig kalten Winternächten. Er sog diesen geheimnissvollen Geruch in sich hinein und wußte, dass er zu dieser Welt hinzugehören wollte. Und ein paar Monate lang lebte er tatsächlich mit der lächerlichen Vorstellung, Schauspieler werden zu wollen. Doch Abend für Abend kam sie heraus, eingehüllt in wollene Schals und bedeckt mit einem weiten Poncho, Abend für Abend mit der Schar ihrer Kolleginnen – einem lachenden und schwatzenden Haufen junger Frauen, der begleitet wurde von einigen Musikern und Schauspielern auch, die sich, geil und einsam die einen, geil und der Ehe überdrüssig die andern, eine süsse Nacht erhofften im Bett einer der Tänzerinnen. Adrian von Reusser war eifersüchtig auf jeden Einzelnen, denn er wußte nicht, dass sie vergebens hofften und hatte nicht den Mut, sich an sie heranzumachen, sich vor all den Fremden der Lächerlichkeit preis zu geben.

Dann – er weiss es noch, als wäre es nur Wochen her – es war nach einer Aufführung der La Traviata, am einem Donnerstag im November, kräftige Winde bliesen aus Norden und brachten Schnee schon bis in die Niederungen und er selbst war in der Vorstellung, zum dritten Mal, in seiner flaschengrünen Samtjacke, dem senfgelben Hemd und dunkelbrauner Fliege, um ihre Taleraugen zu suchen zwischen all den Paaren die sich wiegten im Licht aus dem Proszenuim, um zu sehen wie sie tanzte am grossen Ball, in langer Robe entlang der Rampe schwebte, wie ein Engel, und dann verschwand hinter den Säulen aus Steropur, getragen von den furiosen Klängen von Verdis Musik. Auch an diesem Abend wartete er auf sie nach der Vorstellung beim Lüftungsschacht, auch an diesem Abend kam die Gruppe heraus, laut und aufgekratzt, doch diesmal war sie nicht dabei, und er fragte sich, was wohl geschehen war, wo sie bleibe und fühlte neue Hoffnung keimen. Und er wartete. Und die Kälte des eisigen Boden stieg durch seine dünnen Ledersohlen hindurch den Beinen entlang hinauf und breitete sich aus über seinen ganzen Körper. Aber er wartete. Zitternd, die Arme eng um sich geschlungen, mit den Händen an die Oberarme klatschend und mit den Zähnen klappernd.

Die Zuschauer hatten das Theater schon seit geraumer Zeit verlassen und die Musiker und die letzten Sänger waren beim Pförtner längst vorbeigegangen und hatten gute Nacht gewünscht, die Uhr der nahen Jesuitenkirche halb zwölf geschlagen, als sie endlich kam, an der Seite eines andern Mädchens aus dem Corps, schlendernd, schwatzend, die Schritte aus der Hüfte setzend und an ihm vorbei ging, ein weiteres Mal, ohne ihn zu beachten. Als sie auf seiner Höhe war, sprach er sie an, sagte, was er in endlosen Selbstgesprächen geübt hatte ihr zu sagen, und lud sie ein. Die beiden Frauen warfen sich rasche Blicke zu, die Freundin lächelte verständnisvoll, sagte etwas auf englisch, was Adrian nicht verstand und sie – das unbekannte Wesen, das ihn nicht mehr schlafen liess, das durch seine Träume ging und durch seine Gedanken – sagte zu, liess ihre Freundin ziehen, schaute ihr kurz nach, wie sie in die Bahnhofstraße einbog und verschwand und liess sich von Adrian ins Dézalay führen, wo er ihr einen Tee – a tea if you don`t mind – und sich selbst einen Grog bestellte.

Sie war ziemlich scheu, so als schäme sie sich der fremden Sprache, so als wolle sie ein Geheimnis für ihn bleiben, nickte freundlich wenn er sprach, lächelte ihn an, aus grossen, wenn auch müden wunderschönen Augen und hörte zu und verstand nur wenig, wie er später erst begriff. Immerhin erfuhr er, dass sie Denise Hopcroft hiess, ihr Vater Lehrer war an einer private School und dass sie aus Hastings in East Sussex stammte, im Süden Englands, wo die Bäume in den Himmel wachsen und das Gras der Weiden grüner grünt als anderswo. Kurz vor halb eins, als das Personal anfing, die leeren Stühle um sie herum aufzustuhlen und mit dem grossen Besen unter den Tischen kehrte, da zahlte er, schaute Denise zu, wie sie sich in ihre Schals wickelte und hielt ihr den Poncho, in den sie hineinschlof wie in eine Rüstung und ihren Körper versteckte unter einer Mauer von fussliger Wolle und zusammen gingen sie hinaus, am Theater vorbei, über den Reusssteg, auf die andere Seite des Flusses, über den Kornmarkt in die Furrengasse, wo sie vor einer Tür unter einer schummrigen Lampe, die dort schon seit mehr als hundert Jahren hing, stehen blieb und sagte "Thank you very much. It was nice to meet you! Hope to see you again, some time. By!"

Damit öffnete sie die Tür, schlängelte sich durch den schmalen Spalt und verschwand. Hope to see you again. Some time. Das hatte er verstanden, so weit war er in seinen schulischen Bemühungen, Englisch zu lernen schon gediehen, dass er das verstehen konnte und jetzt, da er wußte, dass sie nichts dagegen hatte, ihn wiederzusehen, jetzt, da er ihren Geruch wahrgenommen hatte, ihre Stimme vernommen, ihre Augen ihn angeschaut hatten und ihre Lippen zu ihm gesprochen, jetzt wurde seine Liebe zu ihr zur Bessenheit.

Sein Leben auf der Bank, wo er als Lehrling im Tresor tief unter der Erde bei künstlichem Licht und gefilterter Luft kleine Coupons aus grossen Bögen schneiden musste und Nummern aufschreiben und Bordereaux ausfüllen, war seine Hölle, in der er Stunde um Stunde für all seine Sünden, die vergangenen und die zukünftigen büsste. Er dachte an nichts anderes als an Denise, er dachte an keine Weihnachtsgeschenke, die er hätte besorgen müssen, an keine Aufgaben , die er zu lösen hatte für die Berufsschule, er sehnte sich nur nach ihrem Körper, den er sich vorzustellen suchte, Tag und Nacht, jede seiner Poren und den Duft ihrer Haut und die seidige Weichheit des Haares. Nach jeder ihrer Vorstellungen stand er bei der Pforte und wartete, wurde mit einem Lächeln begrüsst und aufgenommen in die Runde und mitgenommen, in die Lokale, in denen sie verkehrten, oder zu einer Kollegin nach Hause oder einem Musiker. Sie genoss seine harmlosen Zärtlichkeiten und sie entspannte sich dabei von den Anstrengungen ihres Tanzens. Anschliessend durfte er sie nach Hause begleiten, vor die grosse Tür aus Eichenholz an der Furrengasse und immer, Nacht für Nacht, ging er neben ihr her, den Arm in ihrem Poncho vegraben, immer mit der Hoffnung im Herzen und in den Lenden, mit ihr die steile Treppe zu ihrer Eineinhalbzimmer-Wohnung unter dem Dach mit Blick auf den Fluss und die Kapellbrücke, hinaufsteigen zu dürfen, um das grosse Geheimnis Frau endlich zu enträtseln. Doch Denise, freundlich aber bestimmt, lächelte sybillisch, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand in der Dunkelheit des Treppenhauses.

Dann wurde es Heilig Abend. Lieblos hatte Adrian im letzten Augenblick noch die vergessenen Geschenke gekauft und unter den Baum gelegt. Wie immer, solang er sich zurückerinnern konnte, wurde,wenn es eindunkelte, Kaffee getrunken bei Kerzenlicht, und wie immer wurden die Lichter am Baum entfacht und wie immer las Vater von Reusser verhallten, aber mit pathetischem Tremolo in der Stimme: "Es begab sich aber in jenen Tagen, dass von Kaiser Augustus ein Befehl erging..."Aber Adrian hörte nicht zu. Seine Gedanken waren nicht bei der Familie in Bethlehem. Er dachte an das Mädchen aus Sussex, das jetzt alleine war, wie er vermutete, in der schmerzenden Einsamkeit ihrer Wohnung, unter einem Mistelzweig, der verloren an der Lampe hing. Langsam brannten die Kerzen bei den von Reussers und langsam vergingen die Stunden. Adrian wickelte die Geschenke aus dem Papier, ohne sie richtig wahrzunehmen, und dachte dabei nur an das eine Päckchen, das noch in seinem Zimmer lag, das einzige, an das er rechtzeitig gedacht und mit viel Liebe ausgesucht hatte.

Er hielt es nicht länger aus in der bürgerlichen Verlogenheit seiner Familie. Nach dem Essen schlich er sich davon und eilte durch die Altstadt mit wehendem Mantel und rasendem Puls, hinunter zur Furrengasse und klingelte. Endlos schienen die Sekunden die er wartete. Zweifel kamen auf, steigerten sich zur Selbstanklage und Verzweiflung. Was für ein Idiot er doch war! Er wußte es, sah es ganz deutlich wie sie in den Armen eines Anderen lag und sich trösten liess. Warum nur, fragte er sich, bin ich ein solcher Schwachkopf? Warum nur habe ich mich nicht einfach eingeschlichen in ihre Wohnung und sie genommen, wie es jetzt ein anderer tut, in dieser stillen, heiligen Nacht? Dann hörte er Schritte und wie der Schlüssel sich drehte im schmiedeeisernen Schloss und Denise stand vor ihm und lächelte ihn an mit wundervollem Lächeln. Ihr Haar fiel offen auf die Schultern und aus ihre Augen strahlte sie ihn voll Wärme an.

"Merry Christmas!"

sagte sie, küsste ihn, zum ersten Mal, auf den Mund, nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinauf in ihre Wohnung, ging mit ihm den Weg, den er in seinen Träumen so oft gegangen war. Sie öffnete das Päckchen das er ihr gab, riss das Papier auf, von Neugier getrieben wie ein Kind, und stiess einen leisen Schrei des Entzückens aus, als sie das schwarze Negligé vor sich sah und es entfalltete und an sich hielt.

 

Sie zündete eine Kerze an und schenkte Sherry ein. Von einem Mistelzweig war nichts zu sehen, nur der Ast einer Fichte zwischen dem diese Kerze stand, lag auf dem kleinen Rattlantisch. Er hatte sich neben sie gesetzt und sie stiessen wortlos an. Dann küssten sie sich, zärtlich zuerst und vorsichtig, jeder nahm den Geruch des andern in sich auf, prüfend und wägend. Adrian wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war als Denise sich aus seinen Armen wand und hinüberging zu ihrer Plattensammlung mit Balletmusik – Tschaikowskji und Delibes vorwiegend, aber auch kühneres war dabei von Debussy und Saint-Saens und englisches von Sullivan und Elgar und einiges zum Träumen. Sie legte eine Platte auf. Dancing by candlelight. Mantovanis schmelzendes Vibrato ertönte, leise klirrend, während Denise hinter der Tür zum Badezimmer verschwand. Adrian schaute ihr nach, lehnte sich dann zurück, befangen plötzlich und unsicher geworden vor dem ihm Unbekannten das jetzt geschehen mochte. Und dann stand sie vor ihm, in ihrem neuen Negligé und Adrians atmete flacher und sein Herz schlug schneller, und er liess sich hochziehen von ihr. aus der Sicherheit seines Sessels. Sie legte ihre Arme und seinen Nacken. Schwerelos drehten sie über das Parkett in langsamem Dreivierteltakt von Charmaine, Fascinationund Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein. Denise roch nach Make up, Amaraige de Givenchy und süsslichem Schweiss. Unter dem dünn gewobenen Stoff sah er ihre kleinen, festen Tänzerinnenbrüste, wie sie hüpften und sich verformten bei ihren Bewegungen aus dem Schultergürtel. Mit laszivem Biegen presste sie ihren Körper an den seinen, liess ihn jeden ihrer Knochen spüren, im drängednem Verlangen eins zu werden – wie ihre Schatten an der Wand über dem Bett mit der Patchworkdecke. Adrians Hände zitterten als sie unter die seidigen Falten drangen, sich der Wirbelsäule entlang tasteten, hinauf und hinunter bis zu den festen Backen. Mit trockenen Lippen küsste er ihren Nacken, die Augen, die Ohren. Im Geiste redete er sich gut zu, nahm all seinen Mut zusammen und streifte ihr die Träger von den fleischlosen Schultern und den Ellenbogen. Sie liess es geschehen, streckte ihre Arme dem Himmel entgegen, wiegend wie ein Röhricht im Wind und fordernd kreiste ihr Becken, als er den Hauch von Stoff über ihre Hüften rollte, im Dreivierteltakt, auf seine Knie sank, ihr den Bauch und die Schenkel küsste. Muskulöse Nackheit! Erregende Schönheit! Herbeigesehnt in seinen nassen Träumen. Er liess sich die Knöpfe öffnen, fühlte ihre langen, rotlackierten Nägel über seine Haut gleiten und weisse Spuren ziehen und spürte, wie Denise seinen Schwanz befreite aus der Enge der gesäumten Nähte. Sie sprang an ihm hoch, leicht und gelenkig, umschlang ihn wie eine Pyton und ihre sirrpenden Schreie erschreckten ihn, als er in ihre nasse Spalte drang, tanzend, immer noch tanzend im Dreivierteltakt. Ihr Kampf um die Lust, jede Nacht millionenfach gefochten auf der Welt, dauerte bis zum frühen Morgen. Dann hatten sie Erlösung gefunden und Ruhe von ihren so lange unerfüllten Wünschen und als der Weihnachtsmorgen heraufdämmerte, stellten sie sich unter die Dusche und seiften sich ein und spülten das Blut von sich und den Schweiss und das Sperma. Und wie neu geboren, als Mann und als Frau, tranken sie Kaffee und schauten hinaus in den stillen Morgen und auf den Fluss mit seinen über der Strömung tanzenden Nebeln.

"Mein Gott – Denise?"

Sie dreht sich zu ihm, überrascht und etwas verwirrt, so unerwartet angesprochen zu werden von einem Fremden, der ihren Namen kannte.Ihr Blick streift von seinen Ballyschuhen über den tadellos sitzenden Anzug hinauf zu seinem Gesicht, trifft, die Vergangenheit langsam erkennend, seine Augen und lächelt das nichtssagende Lächelnd der Verlegenheit.

"Oh – "

sagt sie und greift nach ihrer Handtasche, "Adrian. – Nett Dich zu sehen. Geht es Dir gut? – Was frage ich. Natürlich geht es Dir gut. Das sieht man."

Adrian erwidert nichts. Schaut sie nur an. Ihm fällt nichts sein, was er hätte sagen können. Ihr Lächeln erlischt und sie denkt zurück an ihre gemeinsame Zeit und sie fragt sich, ob es ihr heute besser ginge, wäre sie damals bei ihm geblieben und weiss doch, dass sie nicht hatte bleiben können, denn er war ihr zu jung, zu ungestüm und zu lächerlich in seinem Drängen nach Heirat. Er hatte keine Zukunft, er war noch ein Niemand, verborgen hinter dem undurchdringbaren Schleier der Jugend, während sie doch eine Tänzerin war, schön und begabt, auf dem Weg zu einer grösseren Bühne und weiter, immer weiter hinauf in Richtung Erfolg der vor ihr lag, wenn sie nur daran glaubte, und von dem sie heute weiss, dass sie ihn damals hätte gehen können.

Hinter seiner perfekten Fassade aus Eleganz, seiner weltmännischer Gelassenheit und seinem Charme – einem Charme allerdings der in den letzten Jahren brüchig geworden ist, nur hat sich noch niemand gefunden, der sich traute es ihm zu sagen – kämpfen seine Gefühle, wirbeln und pendeln zwischen Neugier, was aus der Frau geworden ist die vor ihm steht, und leisem Entsetzen über ihren dünn gewordenen Körper, über dieses Gesicht, das es so sehr geliebt hatte, und aus dem jetzt die Verzweiflung spricht, die Qual vergeblichen Bemühens. Aber die Augen, aus deren brauner Tiefe ihn das Mädchen von einst anschaut, sind noch immer wunderschön, wenn auch glanzloser geworden und resigniert.

"Was machst Du in Baden-Baden?", ist alles was ihm einfällt und ein längst vergessener Schmerz würgt in ihm hoch, überbrückt die Zeit und den Verfall und erinnert ihn an sein Leiden in jenem Frühsommer, als die Theatersaison zu Ende ging, und an seine Verzweiflung.

Oft noch hatten sie sich in ihrer kleinen Wohnung getroffen, hoch über der Fluss mit dem Pilatus vor dem Fenster, der sie beschützte in den guten Tagen und bedrohte in den schlechten, hatten sich geliebt und verzehrt im Streben nach vollkommener Vereinigung ihrer Leiber und ihrer Seelen und das Mädchen, selbst zur Frau geworden, hatte aus ihm einen Mann gemacht. Doch nach und nach fiel ihm auf, dass sie immer weniger Zeit für ihn hatte, immer häufiger über Rückenschmerzen klagte nach den Vorstellungen, ihre Tage immer länger dauerten. Und dann, Ende Mai, die letzten Premieren waren vorüber und die ersten Schauspieler abgereist, hatte Denise sich aufgelöst. wie zarte Nebel in der Septembersonne, war sie, plötzlich und unerwartet, zum Phantom geworden. Sie erschien nicht mehr an der Pförtnerloge, die Tür zu ihrer Wohnung blieb verriegelt, die Lichter erloschen und ihre Kolleginnen aus dem Corps de Ballett behandelten ihn wie Luft. Als Adrian von Reusser begriff, dass er sie verloren hatte, ging er in trostloser Einsamkeit all die Wege, die sie oft gegangen waren, suchte sie in den Lokalen die sie voll überschäumender Lebensfreude gemeinsam besucht hatten, ging über die Brücke, immer wieder, hin und zurück, hindurch zwischen fotografierenden Touristen, Ausschau haltend nach der Frau, ohne die zu leben er sich nicht vorstellen konnte.

Erst am Abend der letzten Aufführung der Saison hatte eines der Mädchen Mitleid mit der traurigen abgemagerten Gestalt, zu der er geworden war, die an der Hinterseite des Theaters stand, ohne Hoffnung, sich aber noch immer an diese Hoffnung klammerte wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz in der Uferlosigkeit des Meeres – Claudine hiess sie – er wird den Namen dieser Nymphe nie vergessen – ging auf ihn zu und fragte ihn, mit unschuldigem Augenaufschlag, ob er noch immer auf Denise warte, ob er denn nicht gehört habe, dass sie aus dem Vertrag ausgestiegen sei, ihn nicht mehr habe erfüllen können, aus gesundheitlichen Gründen wie es heisse, ihre Wirbelsäule, er wisse schon, und mit dem Contrabassisten weggezogen sei, in irgendeine Stadt im Ruhrgebiet. Nein, er hatte es nicht gehört. Und wenn er es gehört hätte, er hätte es nicht geglaubt. Ihre Wirbelsäule! Das Lachen blieb ihm in der Kehle stecken. Ihre Wirbelsäule war so elastisch und biegsam wie eine Stahlfeder! Mit dem Bassisten! Ausgerechnet mit diesem farblosen Langweiler namens Zimmermann, ein lebendiger Leichnam mit schütterem Haar und zu grossen, abgetragenen Kleidern der nur für die Musik und ständig auf Pump lebte. Denise also hatte entschieden, hatte diesen Weg gewählt aus einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten, unbewusst und doch überzeugt, das Richtige zu tun für sich und ihre Karriere. Adrian von Reusser schlenderte davon an diesem Abend in die Leere hinein, auf einem Boden den er unter seinen Füssen nicht mehr spürte, weil Denise ihn weggezogen hatte, machte einen grossen Bogen um die Altstadt, um sich der quälenden Erinnerung zu entziehen und sehnte sich nach der wärmenden Sanftheit einer weiblichen Haut.