Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
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Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

Schriften zur Kulturgeschichte der Literatur

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Umschlagabbildung: Paul Klee (1879–1940), Offenes Buch, Aquarell, Gouache auf Papier, 45,7 x 42,5, Moderne, 1930, Deutschland © Solomon R. Guggenheim Foundation, New York. credit: culture-images/fai

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

Satz: pagina GmbH, Tübingen

ISBN 978-3-7720-8615-1 (Print)

ISBN 978-3-7720-0215-1 (ePub)

Inhalt

  Wem sonst,

  „Literatur persönlich genommen“. Statt eines Vorworts

  EINLEITUNG – AUFRISS EINER PHILOLOGIE ALS KULTURGESCHICHTE DER LITERATUR

 „UNENDLICHER DEUTUNG VOLL“. POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT„Binnenland-Horizonte“. Paul Klee Offenes Buch (1930)Das Modell POIKAI„EXPERIMENTALphilologie“. „Die Kunst der Fuge mit Wörtern“

 KULTURGESCHICHTE DER LITERATURVoraussetzungenDas Projekt einer Kulturgeschichte der LiteraturZur Geschichte einer Kulturgeschichte der LiteraturZwischenbilanz und Ausblick

  TEIL 1 POIESIS – PHILOLOGIE ALS ÜBERLIEFERUNGSGESCHICHTE

 ANTIKE UND ABENDLANDDie aristotelische Poetik als PermatextEuropa literarisch

 AUFKLÄRUNGLenz Die Algierer (1771 / 1775)Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774 / 1786 / 1787)Lenz Pandämonium Germanikum (1775)Johann Georg Schlosser Anti-Pope (1776)Heinrich Leopold Wagner Kinderpastorale (1777)Plädoyer für eine historisch-kritische Schubart-Ausgabe

 MODERNEFranz Blei als EditorRobert Musil: Ein EssayfragmentFranz Werfel Der Weltfreund (1911)Franz Theodor Csokor Medea postbellica (1947)

  TEIL 2 KATHARSIS – PHILOLOGIE ALS WIRKUNGSGESCHICHTE

 LITERATUR UND GATTUNGSGESCHICHTEChristian Weise Masaniello (1683)Ludwig Philipp Hahns Dramen (1776/1778)Joseph Martin Kraus Tolon (1776)Karl Philipp Moritz Blunt oder der Gast (1780)Heinrich von Kleist Der zerbrochne Krug (1811) im DeutschunterrichtFriedrich Hebbel Maria Magdalena (1844)Goethe Prometheus-Ode (1785)Merck: Gedichtete Fabeln und lyrische GedichteSchubart Die Fürstengruft (1781)Hölderlin Luther (1802/1806)Mörike Er ists (1832), Auf eine Lampe (1846)Goethe Rede zum Schäkespears Tag (1771)Adam Müllers Literaturkritik (1806)Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855)

 LITERATUR UND REZEPTIONSGESCHICHTESüßkind von Trimberg (1250/1300), Torberg Süßkind von Trimberg (1972)Johannes Secundus Basia (1539), Goethe Liebebedürfniß (1776/1789)Das Leibniz-Bild bei Herder (1765/1802)Goethes Reformationskantate (1816)Döblin und die Bücherverbrennung (1933)Literaturgeschichte im Fernsehen (2009)Luther und die Literatur der Moderne (Klepper, Zaimoglu, Lehnert)

 LITERATUR UND WISSENSCHAFTSGESCHICHTEWissenschaftsgeschichte des Sturm und DrangDie Goethe-Blockade

 LITERATUR ZWISCHEN TEXTIERUNG UND NOTATIONJohann Klaj Oratorien (1645–54)Gerstenberg, J. Chr. Fr. Bach Die Amerikanerinn (1759/65)Wieland Stabat Mater (1779), C.Ph.E. Bach Der Frühling (1760)G.A. Homilius Die Freude der Hirten über die Geburt Jesu (1777), C.E. Weinlig Ein Kind ist uns geboren (1770)Luther, Schubart und die RhapsodieMozart Krönungsmesse (1779)Mozarts Requiem – Mozarts VermächtnisMendelssohn-Bartholdy Paulus. Der erste Teil (1836)Johannes Brahms Ein deutsches Requiem (1867/68)Friedrich Kiel Der Stern von Bethlehem (1884)

  TEIL 3 AISTHESIS – PHILOLOGIE ALS DEUTUNGSGESCHICHTE

 LITERATUR UND DISKURSGESCHICHTEZur Diskursgeschichte des MöglichkeitsbegriffsThesen zu Anakreontik und RokokoLessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das TrauerspielMörike und die romantische TraumtheorieGestalttheorie und Gegenstandstheorie bei Robert MusilAnmerkungen zu Döblins immanenter RomanpoetologieLiteratur und Fernsehen im kulturellen ProzessBehinderung als kulturelles Deutungsmuster? Disability Studies in der Literaturwissenschaft

 LITERATUR, BIOGRAFIK UND QUELLENKRITIKLenz und GoetheLiteraturgeschichte des KleinenLenz und Carbonnières

 LITERATUR ALS MEDIUM EINER KULTURGESCHICHTE DER SCHULEKulturgeschichte der SchuleSchule als Ort männlicher SozialisationSozialgeschichte des HofmeistersConrad Ferdinand Meyer Das Leiden eines Knaben (1883)Arno Holz, Johannes Schlaf Der erste Schultag (1899)Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906)Döblins SchulerfahrungenFranz Rieger Internat in L. (1986)

 LITERATUR ALS MEDIUM EINER KULTURGESCHICHTE DES BEGEHRENSDie lustvolle Frau: Zur Kulturgeschichte eines literarischen BildsPornografie und Aufklärung: Lina’s aufrichtige Bekenntnisse (ca. 1790)Kindsmord als kulturelles Deutungsmuster: Wagner Die Kindermörderin (1776)Zwei Liebesexperimente: „Das Evangelium von echter Lust und Liebe“ (Fr. Schlegel) und „Heilige Gespräche“ (Musil)Patriarchatskritik als kulturelles Deutungsmuster: Jelinek Die Klavierspielerin (1983)Trivialmythos Lust und Liebe – Jelinek Lust (1989)

 

 LITERATUR UND MODERNEKlassische ModerneAbwehr der Moderne – Heinrich Mann Professor Unrat (1905)Ästhetik der Moderne – Carl Einstein Bebuquin (1912)Die Erklärbarkeit der Moderne – Döblin Prometheus und das Primitive (1938)Klassiker der Moderne – Joyce und Musil philosophisch gelesenKultur als Text: Musil Der Mann ohne EigenschaftenLiteratur und Psychoanalyse um 1900: Bahr und FreudAllegorie und Psychomachie: Klinger und DöblinFriedrich Glausers literarische AnfängeJoachim Ringelnatz Im Park (1938)

 MIKROGESCHICHTE DES BUCHSTÄBLICHENGoethe Willkomm und Abschied (1775)Werther – Lotte – Albert: Ein LetternspielBuchstäblichkeit und symbolische Deutung: Fontane Effi Briest (1894/96)Der aleatorische Text – Okopenko, Cortázar

 AnhangSiglenDrucknachweiseBibliografieTitelregisterSachregisterNamenregisterLetzte Seite

Wem sonst,

als

dir?Hölderlin, Friedrich1

„Je mehr ich erfuhr, desto stärker erinnerte mich die Geschichte an mein Lieblingsspielzeug aus Kindertagen, ein rotes Kaleidoskop, in dem man Muster aus winzigen bunten Perlen betrachten konnte. Man drehte ein wenig, und alles sah anders aus. Ich konnte stundenlang hineinsehen. Eine Geschichte wird nicht klarer dadurch, dass viele Leute sie erzählen.“Zeh, JuliUnterleuten2

„[…] kan man sagen Wortdod (Philologus,) Witdodschaft (Philosophia) wie man sagt Wissenschaft / Brüderschaft / Gesellschaft und dergleichen: Wortdodschaft: (Philologia[).] Aber dieser Wörter Angenemhaltung stehet bey künfftig beliebtem Gebrauch.“Lobrede der Teutschen PoetereyKlaj, Johann3

„Literatur persönlich genommen“1. Statt eines Vorworts

Im Jahr 1776 schreibt ein Anonymus in der Straßburger Zeitschrift Der BürgerfreundDer Bürgerfreund:

„Sie haben Recht: die Bücher wachsen in unsern bösen Zeiten fast geschwinder als Erdschwämme, vervielfältigen sich mehr als Polypen; und die Kabinete der Gelehrten sind in mehr als einem Betrachte den Weberstühlen der geschäftigsten Manufacturen ähnlich. – – –

Die ungeheure Menge der wirklich vorhandenen Bücher ist also der natürlichste Einwurf, gegen den sich ein neu auftretender Schriftsteller gefaßt machen muß. Jeder Buchladen, vor dem er vorüber geht; jede Bibliothek, die er besucht, und beraubet, scheinen ihm mit leiser Stimme eben das zuzurufen, was Sie uns in ganz vernehmlicher Sprache sagen: Man hätte seine Bemühung sparen, und immerhin seine Weisheit für sich behalten können.

Auch sind die meisten Vorreden nichts als glückliche, oder unglückliche Versuche, diese so furchtbare Anklage von sich abzulehnen, und an der Schwelle des Tempels dem entgegen strebenden Haufen von Schreibern, und von Lesern zu beweisen, daß man wohl auch noch verdiene, eingelassen zu werden.“2

KulturgeschichtlichKulturgeschichte gesehen handelt es sich hierbei um eine alte zivilisatorische Klage, die schon in der Bibel dokumentiert ist im Buch Kohelet mit den Worten: „des vielen Büchermachens ist kein Ende“ (Pred 12, 12). Und auch SchillerSchiller, Friedrich klagt im Brief an GoetheGoethe, Johann Wolfgang vom 19. März 1795 über „die Menge elenden Zeugs, die ich nachlesen muß“3. Das kann ich zwar verstehen, aber das nicht-elende Zeug, das ich lesen durfte, las ich gerne, schon gar nicht fühlte ich mich an einen Kommentar in der LessingLessing, Gotthold Ephraim-Ausgabe erinnert, wo geseufzt wird: „Lohnende Erkenntnisse daraus zu gewinnen, ist dem Kommentator allerdings nicht gelungen“4.

In zahlreichen Publikationen habe ich in der Vergangenheit die Themen und Probleme einer KULTURGESCHICHTEKULTURGESCHICHTE DER LITERATURLITERATUR oder aber auch deren grundsätzliche Fragen in vielen Einzelbeispielen dargestellt. Diese Arbeiten sind nun zu einem großen Ganzen zusammengewachsen, das auf der Ebene von BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit und symbolischer Deutungsymbolische Deutung die Grundlagen einer KULTURGESCHICHTEKULTURGESCHICHTE DER LITERATUR auslotet. Den Grundgedanken zu einem solchen Projekt habe ich erstmals 1996 anlässlich des Bochumer Germanistentags zum Thema Wege zur Kultur einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt. Aus der weiteren thematischen Beschäftigung ging unter anderem mein Buch Medea. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur (2002) hervor. Darin wird am Paradigma des Kindsmords eine kulturgeschichtliche Arbeitsweise in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft diskutiert, durch welche die fachwissenschaftlichen Debatten der Medizingeschichte, Kriminologie, Soziologie, Rechtsgeschichte, Anthropologie und Theologie, die im literarischen Diskurs der Zeit fokussiert sind, zusammengeführt werden. Insofern verstehen sich die hier versammelten Schriften als eine Ergänzung zu meinen Büchern Medea und Über Literatur und Literaturwissenschaft. Anagrammatische Lektüren (2003) die noch weiteres, umfängliches und hier nicht mit aufgenommenes Material zum Thema einer KULTURGESCHICHTE DER LITERATUR enthalten, gelegentliche Überschneidungen ließen sich nicht immer vermeiden. Das vorliegende Buch führt meine Studien, Aufsätze und Vorträge zu einer KULTURGESCHICHTE DER LITERATUR zusammen. Die Texte wurden teils stark überarbeitet, gelegentlich wörtlich übernommen, oder sie sind neu als bislang unveröffentlichte Texte hinzugekommen. Die Schreibweise wurde den heutigen Standards angepasst.

John CageCage, John hat anlässlich der Herausgabe seines Textes SilenceSilence (1961) geschrieben: „Natürlich sind nicht alle diese Texte formal ungewöhnlich. Einige wurden für den Druck geschrieben, d.h. um eher betrachtet als gehört zu werden. Andere wurden als konventionelle informative Vorträge konzipiert und gehalten (ohne deshalb die Hörer zu schockieren, soweit ich das feststellen konnte). Diese Sammlung enthält nicht alles, was ich geschrieben habe; sie spiegelt wider, was ich war und weiterhin bin, meine wesentlichen Anliegen“5.

Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich notierte unter der Überschrift Zur Philologie IZur Philologie I: „Der empirische Mensch erwartet vom Philologen, daß er über jede vorkommende Notiz und Frage […] vollständige Auskunft zu geben wisse“6. Damit gerate ich in ein Dilemma, denn natürlich wünsche ich mir einen nicht-empirischen Menschen, der nicht diesem gewaltigen Anspruch unterliegt, bin zugleich aber auf den empirischen Menschen als Leser*in und Diskutant*in angewiesen. Deshalb will ich bei aller Einsicht in die menschliche Unzulänglichkeit meinen Anspruch mit LacanLacan, Jacques so formulieren: „ich bringe Sie halt auf den Weg des TextesText, damit Sie dort mit mir Steine klopfen“7. Und möglicherweise hat auch HederichsHederich, Benjamin Votum Geltung: „Mehrere solche Deutungen kann sich ein jeder selbst machen“8. Die drängende Bitte eines Heinrich von KleistKleist, Heinrich von „Kulturgeschichte, […] aber sogleich“9, konnte ich nicht erfüllen. Denn diese Schriften zur KULTURGESCHICHTEKULTURGESCHICHTE DER LITERATUR sind im Laufe eines langen Zeitraums entstanden. Sie bilanzieren eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema, die als Leitmotiv meiner Arbeit gelten kann. Ich hätte mir anfangs nie träumen lassen, dass es so lange Zeit braucht, bis das Buch abgeschlossen ist, und mehrmals musste ich mich prüfen, ob ein Wort von Karl MarxMarx, Karl an LauraLafargue, Laura und Paul LafargueLafargue, Paul vom 11. April 1868 auch auf diese Studien zutrifft: „Ich bin eine Maschine, dazu verdammt, [Bücher] zu verschlingen und sie dann in veränderter Form auf den Dunghaufen der Geschichte zu werfen“10. Ich habe mich bemüht, einen solchen Eindruck zu vermeiden, denn mein Bild von Geschichte ist doch wesentlich positiver.

Wenn Marge SimpsonSimpson, Marge u. Homer ihrem etwas begriffsstutzigen Gatten Homer aus der amerikanischen Zeichentrickserie Die Simpsons empfiehlt: „Du musst zwischen den Zeilen lesen“, so ist seine Antwort: „Aber da sind nur weiße Zwischenräume“, geradezu repräsentativ für die kulturelle Verlustgeschichte von TextText und Textdeutung. Und damit stellt sich die grundsätzliche Frage, leiden wir alle inzwischen an dieser Art HomerisierungHomerisierung der DeutungDeutung? Als ich bei GoetheGoethe, Johann Wolfgang die folgenden Worte las, bildete ich mir ein, sehr genau zu verstehen, was der Dichter ausdrücken wollte:

„Da ich nicht viel geben kann, habe ich immer gewünscht das Wenige gut zu geben, meine schon bekannten Werke des Beyfalls, den sie erhalten, würdiger zu machen, an diejenigen, welche geendigt im Manuscripte daliegen, bey mehrerer Freyheit und Muse den letzten Fleiß zu wenden, und in glücklicher Stimmung die unvollendeten zu vollenden. Allein dieß scheinen in meiner Lage fromme Wünsche zu bleiben; ein Jahr nach dem andern ist hingegangen, und selbst jetzt hat mich nur eine unangenehme Nothwendigkeit zu dem Entschluß bestimmen können, den ich dem Publiko bekannt gemacht wünschte.“11

Die drei Hauptteile PoiesisPoiesis, KatharsisKatharsis und AisthesisAisthesis sind in sich chronologisch geordnet, nicht nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung, sondern hinsichtlich ihres Themas. Das erklärt, weshalb sich auch innerhalb der einzelnen Teile durchaus Härten und Überschneidungen finden. Und das bedeutet auch, dass das Buch keine Geschlossenheit in sich suggeriert, sondern durchaus auch nach thematischen oder textlichen Schwerpunkten gelesen werden kann. Der römische Dichter MartialMartial schreibt zu Beginn des zehnten Buches seiner EpigrammeEpigramme: „nota leges quaedam, sed lima rasa recenti“ (V. 3), „manches Bekannte wirst du lesen, aber es ist mit frischer Feile geglättet“12, ohne aber seine Herkunft oder Entstehungszeit verbergen zu wollen. In jedem Fall teile ich die Erfahrung von Moses MendelssohnMendelssohn, Moses, die er LessingLessing, Gotthold Ephraim in einem Brief am 11. August 1757 mitteilt: „Ich werde aber die Stellen […] aufsuchen, die ich eigentlich meine, und alsdenn werde ich mich selbst besser verstehen, und also besser erklären können“13. Gleichwohl steht über allem LesenLesen und DeutenDeuten LuthersLuther, Martin Mahnung: „Und es ist leicht möglich, dass du, weil du ein Mensch bist […] weder recht verstehst noch sorgfältig genug beachtest“14.

Ich bin im Laufe meines Wissenschaftlerlebens vielen Menschen begegnet, die mich nachhaltig bereichert und beeinflusst haben. Die Wertschätzung, die ich durch sie erfahren habe, hat mich stets darin bestärkt, auch gegen große institutionelle und personelle Widerstände, die sich alle als ephemer erwiesen haben, dieses Projekt weiter zu verfolgen. Da dieses Buch über viele Jahre hinweg entstanden ist, haben natürlich verschiedene Generationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern daran mitgewirkt. Zuletzt waren dies bis zur Fertigstellung meine Assistentin Dr. Lisa Wille, die entscheidend mit dazu beigetragen hat, dass das umfangreiche Projekt überhaupt einen Abschluss finden konnte; ihr danke ich für viele produktive Gespräche. Nadine Dietz, Dr. Grit Dommes, Laura Löbig und Isabelle Wagner haben Vorbildliches geleistet und viel Geduld gezeigt, als es darum ging, die schier unübersehbare Menge an Quellen- und Forschungsliteratur zusammenzutragen und die einzelnen Kapitel redaktionell einzurichten, den Druck vorzubereiten sowie die Register zu erstellen. Alle zusammen haben mich beim Korrekturlesen selbstlos unterstützt.

„Ich komme endlich auf die Anmerkung mit welcher ich schließen will“15, so lässt sich LessingLessing, Gotthold Ephraim in der Rettung des CardanusRettung des Cardanus (1754) vernehmen, und diese Anmerkung ist mir die wichtigste. Dieses Buch ist meiner Frau Silvia, den Kindern Yolanda, Seraphina, Rahel, Sarai und den Enkelkindern Rafael, Nikolai, Mats, Carlotta, Magdalena, Anton und Florin gewidmet. Sie alle geben mir den Rückhalt, ohne den eine so lange Wegstrecke nicht zu bewältigen ist. Ihnen bin ich aus tiefstem Herzen dankbar.

 

Am Ende bleibt mir die allerletzte Zuflucht zu einem anderen Klassikerzitat. Laurence SterneSterne, Laurence lässt in seinem epochalen Roman Leben und Ansichten von Tristram Shandy, GentlemanLeben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman (1759/67) seinen Protagonisten notieren: „Ich meinesteils bin entschlossen, mein Lebtag lang kein ander Buch mehr zu lesen als nur mein eignes“16. Das kann ich entschieden zurückweisen und mit Lessing schließen, der am Ende seiner Abhandlungen zur FabelAbhandlungen zur Fabel (1759) lakonisch bemerkt: „– Ich breche ab!“17 Dem habe ich nichts weiter hinzuzufügen.

Kusel / Darmstadt, den 17. Februar 2020

EINLEITUNG – AUFRISS EINER PHILOLOGIE ALS KULTURGESCHICHTE DER LITERATUR

„UNENDLICHER DEUTUNG VOLL“. POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITBEDEUTUNGSOFFENHEIT
„Binnenland-Horizonte“. Paul KleeKlee, Paul Offenes BuchOffenes Buch (1930)

Im XIV. Abschnitt seines Kunstessays über Wilhelm Tischbeins IdyllenWilhelm Tischbeins Idyllen (1822) schreibt GoetheGoethe, Johann Wolfgang, die schönsten SymboleSymbol seien gerade diejenigen, „die eine vielfache DeutungDeutung zulassen, indes das dargestellte Bildliche immer dasselbe bleibt“1. Und an anderer Stelle, in seinem Brief an Sulpiz BoisseréeBoisserée, Sulpiz vom 16. Juli 1818, liest man, der Ausleger habe „völlig freie Hand, die Symbole zu entdecken, die der Künstler bewußt oder bewußtlos in seine Werke niedergelegt hat“2. Bekannt sind auch Goethes Definitionen von AllegorieAllegorie und Symbol, wie sie in den Maximen und ReflexionenMaximen und Reflexionen (1833) mitgeteilt werden. In Nr. 1112, die wie Nr. 1113 etwa um 1807 entstanden ist, heißt es: „Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei“3. Und Nr. 1113 lautet: „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild und so daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und selbst in allen Sprachen ausgesprochen doch unaussprechlich bliebe“4. Oder Nr. 314: „Das ist die wahre Symbolik wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen“5.

Um die Reflexion dieser Verbindung von SymbolikSymbol und vielfacher DeutungDeutung geht es in dieser Einleitung. Das wird besonders sichtbar in einem Bild der klassischen ModerneModerne, das als Umschlagbild dieser KulturgeschichteKulturgeschichte der Literatur dient. Die harten Fakten sind schnell resümiert, der Maler heißt Paul KleeKlee, Paul (1879–1940), das Bild wurde 1930 gemalt; die Maltechnik ist Wasserfarbe und Feder, mit weißer Lackgrundierung auf Leinwand in einem Keilrahmen; die Maße sind 45,7 cm x 42,5 cm, nahezu quadratisch. Das Bild wird im Salomon R. Guggenheim Museum (Nachlass von Karl Nierendorf), New York, aufbewahrt. Der Titel des Bilds wird mit Offenes BuchOffenes Buch, Open book oder Geöffnetes Buch wiedergegeben. Allerdings ist die exakte Titelbezeichnung nicht unerheblich für die DeutungDeutung des Bildes, denn wie in der LiteraturLiteratur kann auch in der bildenden Kunst der Titel eines Kunstwerks eine eigene, nicht unwichtige Signifikanz entfalten. In der Deutung macht es einen erheblichen Unterschied, ob man von einem offenen BuchBuch spricht oder von einem geöffneten Buch. Das geöffnete Buch setzt ein tätiges Subjekt voraus, das das Buch geöffnet hat. Und es drückt implizit aus, dass das Buch zuvor nicht geöffnet, sondern zugeschlagen und verschlossen war. Der Term ‚Das geöffnete Buch‘ denotiert mithin den Wechsel von einem Zustand in einen anderen und transportiert damit unterschwellig eine Dynamik. Anders verhält es sich mit dem Titel Offenes Buch. Redensartlich ist das (offene) Buch aus Sprichwörtern bekannt wie: eine Person oder das ganze Leben ist ein offenes Buch, oder man redet wie ein Buch, bis hin zum metaphorischen Gebrauch, wenn vom Buch des Lebens oder vom Buch der Bücher oder vom Buch der Natur gesprochen wird. In dieser SymbolspracheSymbolsprache steht das Buch in einer langen geschichtlichen Reihe, und die Metaphern von der Welt als Buch und von der Kultur als TextKultur als Text berühren sich hier. Beginnend bei der Bibel als dem Buch der Bücher mit den theologischen Implementen des Buchs der Gerechten und des Buchs des Lebens, sich fortsetzend über eine Art Grammatik des Buchs der Natur mit differenten Lesarten und dem Buch der Schöpfung, und in der Vormoderne und ModerneModerne eine fundamentale Infragestellung im Topos der UnlesbarkeitUnlesbarkeit der Welt erfahrend, gipfelnd wohl in HofmannsthalsHofmannsthal, Hugo von Chandos-BriefChandos-Brief (Ein BriefEin Brief) von 1902, worin es heißt: „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen“6; am Ende bleibt Chandos die Erkenntnis, dass die Sprache, die er spricht und in der er denkt, aus lauter unbekannten Wörtern besteht. Allerdings hat das Buch der Natur aus der Sicht von SchillersSchiller, Friedrich Braut von MessinaBraut von Messina (1803) keinen guten Leumund, wenn Isabella dem Chor antwortet: „Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur, / […] und alle Zeichen trügen!“ (V. 2392f.)

Links unten am Rand finden wir Klees Künstlersignatur. Das K des Anfangsbuchstabens von Klee hat eine ähnliche Gestalt wie das darüber befindliche große Dreieck. Die Vertikallinie und die Diagonallinie im oberen Teil des BuchstabensBuchstaben bilden einen ähnlichen Winkel wie das Dreieck darüber. Was bedeutet dieses Dreieck? Es kann zum einen schlicht die geometrische Figur eines Dreiecks darstellen, zum anderen, wenn man sich dieses Dreieck räumlich vorzustellen versucht, nähert sich der Winkel einem rechten Winkel. Damit ergibt sich die Deutung als ein bautechnisches Handwerkszeug, als ein Winkelmesser, sofern man die Verbindungslinie zwischen rechtem Winkelpunkt und der Basislinie als eine abstrakte, weil nicht gebogene, imaginäre Angabe zur Winkelgröße denken will. Es kann aber auch als ein P gelesen werden, was einem Monogramm als dem grafischen SymbolSymbol von KleesKlee, Paul Vornamen gleichen würde, was mir die plausibelste DeutungDeutung ist, statt eines scripsit bzw. pinxit oder einer Künstlersignatur erscheint dieses transformierte P. Ebenso gut kann das Dreieck die Notation einer Tanzbewegung meinen, wenn man das Bild Offenes BuchOffenes Buch mit Klees Bild Abstraktes BallettAbstraktes Ballett von 1937 kontextualisiert, auf das die als P gelesene geometrische Linie dann vorausweisen würde.7 In diesem Bild findet sich dieselbe geometrische Grundfigur, dort stellt sie aber eine choreografische Zeichenschrift dar, neben den geometrischen Grundformen von Rechteck, Quadrat, Dreieck, Fünfeck, Kreis und Linien.8 KleeKlee, Paul stellt sich damit in die Tradition der modernen Ausdruckskunst und ihrer Notation, wie er sie bei Oskar SchlemmerSchlemmer, Oskar, Theo van DoesburgDoesburg, Theo van, Giacomo BallaBalla, Giacomo und Wassily KandinskyKandinsky, Wassily findet. Übertragen auf sein Bild Offenes BuchOffenes Buch heißt dies: Das wahre Buch würde ein neues Zeichensystem erfordern, das selbst aber auch aus Regularien der NotationNotation erwächst. Folgt man dieser DeutungDeutung, ergibt sich auch inhaltlich eine Weiterung. Die Begegnung mit offenen Büchern im buchstäblichenbuchstäblich oder im metaphorischen Sinn, was nicht unbedingt dem LesenLesen von Büchern gleichen muss, transformiert diejenigen, die sich dem offenen Buch zuwenden, aus der einen WirklichkeitWirklichkeit in eine andere Wirklichkeit. Die Buchstabenbuchstäblichkeit des Alphabets wird in eine andere Bedeutungs- und Zeichensprache überführt, es entsteht ein anderes Zeichen für P. Der linke, äußere Punkt des Dreiecks beginnt auf der gedachten Linie einer Verlängerung der darüber abgebildeten Buchseite. Was aber bedeutet dieser rätselhafte Tropfen unter dem P, zu dem sich keine Erklärung findet? Wenn es ein Tropfen wäre, fiele er verkehrt herum; deshalb ähnelt diese Figur eher einem aufsteigenden Ballon. Oder ist es ein spinnenartiges Lebewesen, das von oben betrachtet werden muss? Somit ergäben sich auf engstem Raum für den Betrachter oder die Betrachterin mehrere Perspektivenwechsel, die Klee als möglich, aber nicht als notwendig offeriert.

Den größten Raum nimmt die Darstellung des offenen Buches selbst ein. Es scheint sich offensichtlich um die ersten Seiten eines einzigen Buches oder mehrerer Bücher zu handeln, wenn man den rechten Buchseitenblock dem linken äußeren, einzelnen Blatt gegenüberstellt. Dass es sich um die räumliche Darstellung eines offenen Buchs handelt, ist unzweifelhaft. Die Seiten umgibt ein schraffierter Strahlenkranz, der die räumlich-kontrastive Wirkung verstärkt, der aber auch als ein Verweiszeichen darauf gedeutet werden kann, dass diese Seiten etwas Helles, Strahlendes, jedenfalls Bedeutendes enthalten. Allerdings können die Betrachtenden Klees Buch nicht lesen, zumindest nicht im wörtlichen Sinn, denn es enthält keine Buchstabenzeichen. Die elf, eher winzigen Quadrate auf der zentralen, kleinen Buchseite in der Mitte sind die einzigen Zeichen, die zudem in Form und Größe variieren. Verweisen sie auf die Bedeutung des Bilds als das Buch des Lebens?9 Vom linken Buchrand aus betrachtet sind sieben einzelne Buchseiten zu erkennen, die ebenfalls in Form und Größe unterschiedlich sind, wobei nur die innere und kleinste Seite ein Dreieck bildet, die anderen Seiten sind Vierecke. Auffallend ist dabei, dass sich zwischen dem dritten und dem vierten Blatt eine tiefschwarze Hintergrundfläche öffnet, die suggestiv so wirkt, als sei die vierte Seite an dieser Stelle aus dem Buch herausgetreten oder gar herausgeschnitten. Die rechte Buchbildseite wird von dem Eindruck beherrscht, als seien zwei, möglicherweise auch drei Seiten geknickt und gefaltet. Das wären dann eindeutige Gebrauchsspuren, das BuchBuch und seine Seiten wurden benutzt, Leser*innen haben die Seiten bearbeitet. Der bräunlich gehaltene Farbton kann die gebräunten Seiten eines alten Buches suggerieren, die Punkte glichen sogar dessen Stockflecken; der Braunton am Rand changiert ins Gelbliche und gegen die Bildmitte hin ins Graubraune. Dies kann auch auf eine Erdverhaftung hinweisen, wonach ein Buch erdet, demnach Lesen erdet, demnach Fantasie und Fiktionalität erden.10 Vergleicht man KleesKlee, Paul Bild mit der barockenBarock Darstellung eines geöffneten Buchs, so ergeben sich bereits auf den ersten Blick die entscheidenden Differenzmerkmale, da die barocke Ikonografie in der Regel das Vanitas-Motiv zitiert, was bei KleeKlee, Paul völlig fehlt, es sei denn, man will den schwarzen Hintergrund der zentralen Buchseiten als eine gähnende Leere und als Ausdruck des Horror vacui lesen.11 Nimmt man beispielsweise das Buchbild Liber vitaeLiber vitae aus der Schule von Michael PacherPacher, Michael um 150012 oder das Stillleben mit geöffnetem BuchStillleben mit geöffnetem Buch13 eines anonymen deutschen Malers aus dem 16. Jahrhundert als Referenzbild, so wird deutlich, dass die dort noch lesbare Schrift der aufgeblätterten Buchseiten die Sicherheit einer Zeichenordnung repräsentiert, die bei Klee verloren gegangen ist. Im Offenen BuchOffenes Buch ist keine Schrift mehr lesbar. Klees Bild verwirft das Stillleben, es erschöpft sich aber auch nicht, wie Carl EinsteinEinstein, Carl in seiner Kunst des 20. JahrhundertsKunst des 20. Jahrhunderts meinte (1926, 3. Aufl. 1931), darin, dass es Erlebnisse kontrolliere und sie bauhaften Formen einordne.14 Vielmehr repräsentiert das Offene BuchOffenes Buch einen modernen Lebensstil, der auf die Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Erkenntnissicherheiten der Geschichte verzichten kann.

Zu KleesKlee, Paul Bild gibt es weder vom Künstler selbst noch von der Klee-Forschung entscheidende Deutungshilfen.15 Lediglich diese knappen Bemerkungen in einem Ausstellungskatalog von 1967 wagen eine Deutungsrichtung: „Klee has arranged geometric forms so that they incline and rotate in a constructed depth“; „Klee tried to visualize his feelings about the book“; „mood with an exotic texture“; „The book is fixed in black mystery and […] we find a triangle with tiny brown squares: the mystery of the printed word“.16 An anderer Stelle ist die Rede davon, dass das Bild ein SymbolSymbol sei „für die Krise der Kultur des Schreibens“17. Das Offene Buch wurde auch vertont, was selbst bereits wieder eine DeutungDeutung darstellt.18

Das Bild Offenes BuchOffenes Buch stellt für mich zweierlei dar. Zum einen visualisiert es die Unendlichkeit des Buchkosmos (das dunkle, schwarze Weltall).19 Schlage ich als Leser eine Seite auf, öffnet sich sofort eine nächste – es gibt keine abschließende Deutung. Das Buch ist das SymbolSymbol für LiteraturLiteratur schlechthin, und ich lese Klees Bild als ein SymbolSymbol der BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit. Demnach kann man sagen, Literatur generiert BedeutungsfülleBedeutungsfülle und DeutungsfülleDeutungsfülle. Ob diese abschließbar sind, bleibt offen, wie das Offene BuchOffenes Buch selbst. Zum anderen symbolisiert das Offene Buch als ein offenes BuchBuch das Buch des Lebens. Wir können es aufschlagen und darin lesen, aber wir werden es in der Lektüre nie endgültig vermessen können (darauf würde der Winkelmesser verweisen). Das Offene Buch lässt die Bedeutung eines offenen Geheimnisses assoziieren. Das Bild legt also etwas vor, das öffentlich gemacht werden will, das bekannt werden soll und das sich keineswegs in ein sakrales oder paganes Geheimnis zurückziehen will.