Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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Die poíesis ist sicherlich der am weitesten generalisierte Begriff, der aus der aristotelischenAristoteles Poetik übernommen wird. Dort bedeutet er schlicht die Dichtung. Im Modell POIKAIPoiKAi wird er aber in einem allgemeinen Sinn als das Machen von Literatur, als deren Hervorbringung verstanden und schließt die Bedingungen ihrer historischen Wirksamkeit mit ein. Das POIKAI-Modell orientiert sich an einer Theorie des Textus receptusTextus receptus. Der englische Philosoph Francis BaconBacon, Francis spricht in seinem Novum organum scientiarumNovum organum scientiarum (1620) von der „philosophia recepta“58, was mit „den herkömmlichen philosophischen Ansichten“59 übersetzt wird. Das deckt sich nur zum Teil mit dem Wortverständnis von Textus receptus, wie es in der Theologie, genauer in der theologischen Textkritik der Evangelien entwickelt wurde. Dort meint Textus receptus denjenigen Text, dessen Textkonstitution angesichts konkurrierender Handschriften und Drucke als verbindlich gilt. Dem Textus receptus kommt ein autoritativer Status zu, und beginnt mit der Bibelausgabe von 1516 des Erasmus von RotterdamErasmus von Rotterdam. Der Theologe Hermann von SodenSoden, Hermann von bezeichnete die Denkfigur eines Textus receptus, was ja die Textgestalt einer allgemein anerkannten Textkonstitution bedeutet, als „Buchhändlerreklame“60, aus der schließlich ein Dogma gemacht worden wäre, das in einem Epitaphium endete. Für POIKAIPOIKAI ist demgegenüber ausschließlich entscheidend, dass der rezipierte Text wirkt, auch wenn sich die WirkungWirkung als Ergebnis einer auf falscher Textannahme basierenden Fehllektüre herausstellt. Der Wahrnehmung von Literatur geht die Wirkung von Literatur voraus und diese ist wiederum abhängig davon, dass überhaupt etwas geschaffen und Literatur entstanden ist. Poiesis betrifft das Machen von Literatur, KatharsisKatharsis betrifft das Wirken von Literatur und AisthesisAisthesis betrifft das Wahrnehmen von Literatur. So erklärt sich die Verschränkung von Poiesis, Katharsis und Aisthesis im Modell von POIKAIPOIKAI, die zugleich die kulturellen Bedingungen von Literatur bedeuten.

„EXPERIMENTALphilologie“. „Die Kunst der Fuge mit Wörtern“1

„Ich schlage Ihnen deshalb vor, daß wir uns für die kurze Zeit dieses Gesprächs in einem kleinen Winkel der LiteraturtheorieLiteraturtheorie einrichten; außerdem werde ich diesen Punkt subjektiv abhandeln; ich werde im eigenen Namen und nicht von der Position der Wissenschaft aus sprechen, ich werde mich selbst befragen, ich, der ich die Literatur liebe“2. Diese Worte von Roland BarthesBarthes, Roland will ich mir zu eigen machen und im Folgenden Denkanstöße zu einer „EXPERIMENTALphilologieExperimentalphilologie“ geben, um diesen Begriff und die Denkbewegung Friedrich SchlegelsSchlegel, Friedrich aufzugreifen. Er hat in seinen Heften zur Geschichte und PolitikHefte zur Geschichte und Politik als das „eigentliche Problem des Zeitalters“ für „die nächste Epoche (1800–2100)“ „die Wiedergeburth des Wortes“ erkannt.3

Der analytische Philosoph Donald DavidsonDavidson, Donald (1917–2003) bringt das, was Vertreter*innen der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft schon immer tun, auf die knappe Formel: „Das Ziel der InterpretationInterpretation ist nicht Übereinstimmung, sondern VerstehenVerstehen“4. „Metaphern sind die Traumarbeit der Sprache“5, schreibt Davidson im Kapitel Was Metaphern bedeuten. Traumarbeit der Sprache kann aber selbst schon wieder als Metapher verstanden werden, demnach wäre eine Metapher eine Metapher, ein zirkulärer Schluss. Davidson bringt aber eine wichtige Korrektur am semiologischen Diskurs über das eigentliche und das uneigentliche Sprechen an, denn seine These heißt: „Metaphern […] bedeuten, was die betreffenden Wörter in ihrer buchstäblichenbuchstäblich Interpretation bedeuten, sonst nichts“6. Das setzt aber voraus anzunehmen, dass es a priori eine buchstäbliche BedeutungBedeutung gibt. Wie steht das dann mit Wörtern wie ‚Gott‘, ‚Käse‘ oder ‚cis‘? Worin liegt deren buchstäbliche Bedeutung? Oder wie verhält es sich mit der Zahl 1774, die für die einen eine Zahl ist und für die anderen das Erscheinungsjahr von GoethesGoethe, Johann Wolfgang Jahrhundertroman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers markiert? Wie verhält es sich mit einem Beispielsatz dieser Gestalt: Müller mahlen Getreide, Maler malen Bilder, beide ma(h)len? Das ist nur lautlich oder phonetisch korrekt wiederzugeben, orthografisch hingegen als Zeichen nicht eindeutig darstellbar.

Als einen Hauptfehler bezeichnet es DavidsonDavidson, Donald, einer Metapher zusätzlich zu ihrer buchstäblichenbuchstäblich BedeutungBedeutung oder ihrem buchstäblichen Sinn (dieses Wort gebraucht Davidson an dieser Stelle) eine weitere Bedeutung oder einen weiteren Sinn zuzuschreiben.7 Er provoziert mit der Feststellung: „Wenn ich recht habe, sagt die Metapher gar nichts, was über ihre buchstäbliche Bedeutung hinausginge (auch wer die Metapher bildet, sagt durch die Verwendung der Metapher nichts, was über das Buchstäbliche hinausgeht)“8. Davidson hat nicht recht. Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaft leben nachgerade von der Annahme, dass es jenseits der buchstäblichen Bedeutung eines Worts oder eines Textes auch eine nicht-buchstäbliche Bedeutung gibt. Somit geht es nicht darum, den Beweis erbringen oder nicht erbringen zu können, ob eine Metapher, ob ein Wort eine objektive nicht-buchstäbliche Bedeutung haben könne, sondern es geht allein um die Tatsache der Annahme einer solchen nicht-buchstäblichen Bedeutung.

Über den Vergleich meint Davidson, dass „die Literaturtheoretiker“ nicht annehmen würden, ein Vergleich bedeute etwas anderes, „als was an der Oberfläche der Wörter liegt“.9 Auch wenn sich diese Aussage auf den Vergleich bezieht, so ist doch kritisch festzuhalten, dass selbst ein Vergleich eine Metapher sein kann oder in Davidsons Perspektive ein Vergleich auch eine Metapher gebrauchen kann. Und so betrachtet wird Davidsons Annahme falsch, denn weshalb sollte die LiteraturtheorieLiteraturtheorie eine ‚andere‘ Bedeutung als diejenige, die auf der buchstäblichen Bedeutungsebene eines Wortes oder eines Textes zu erkennen ist, ausschließen oder gar leugnen? Am Ende betont Davidson nochmals, die Annahme, eine Metapher habe einen nicht-buchstäblichen Ausdruck, sei schlicht falsch. Es gebe keine „verborgene Botschaft“10. Somit ist die Eingangsfrage seiner Untersuchung: „Was heißt es, daß Wörter bedeuten, was sie nun einmal bedeuten?“11, dahingehend zu ergänzen, dass man danach fragt: Wer sagt, dass Wörter das bedeuten, was sie nun einmal bedeuten? Diese Bedeutungssicherheit reklamiert einen Wahrheitsanspruch, der sich mit dem Gegenstand der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, der LiteraturLiteratur selbst, nicht verträgt. Denn Literatur geht es nie um Wahrheit, sondern um ästhetischeÄsthetik Schönheit, die jedes Kunstwerk per se für sich reklamiert, wie auch immer und zu welcher Zeit auch immer Schönheit inhaltlich erklärt wird.

Als Hermann HesseHesse, Hermann 1941 ein Nachwort für die schweizerische Ausgabe seines Romans Der SteppenwolfDer Steppenwolf (1927), der in Nazideutschland nicht mehr nachgedruckt werden durfte, schrieb, leitete er es mit diesen bemerkenswerten Worten ein:

„Dichtungen können auf manche Arten verstanden und mißverstanden werden. In den meisten Fällen ist der Verfasser einer Dichtung nicht die Instanz, welcher eine Entscheidung darüber zusteht, wo bei deren Lesern das Verständnis aufhöre und das Mißverständnis beginne. Schon mancher Autor hat Leser gefunden, denen sein Werk durchsichtiger war als ihm selbst. Außerdem können ja auch Mißverständnisse unter Umständen fruchtbar sein.“12

An anderer Stelle im Roman selbst führt Hesse aus, dass MusikMusik und Dichtung von einer „Sprache ohne Worte“ träumten, „welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestaltbare darstellt“13. Was dem Autor Hesse längst bekannt war, hat der 2016 verstorbene italienische Semiotiker und Romancier Umberto EcoEco, Umberto systematisch ausgearbeitet. 1962 veröffentlichte er sein Buch Opera apertaOpera aperta, das unter dem Titel Das offene KunstwerkDas offene Kunstwerk in deutscher Übersetzung vorliegt. Darin entwickelt er eine „Poetik des ‚offenen‘ Kunstwerks“14, und es ist nun zu zeigen, worin der Unterschied zwischen einer Poetik des offenen Kunstwerks und einer POETIKPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT, für die ich hier plädiere, besteht.Bedeutungsoffenheit15 Die in seinem Buch versammelten Aufsätze will Eco als Beiträge zur abendländischen KulturgeschichteKulturgeschichte verstanden wissen, die auch eine Geschichte der Poetiken beinhalte.16 EcoEco, Umberto denkt eine KulturgeschichteKulturgeschichte unter dem besonderen Gesichtspunkt der Poetiken, wobei Poetik als ein „Operativprogramm“17 verstanden wird. In seinem Eingangsessay Die Poetik des offenen Kunstwerks umreißt er am Beispiel der modernen MusikMusik von StockhausenStockhausen, Karlheinz, BerioBerio, Luciano, PousseurPousseur, Henri und BoulezBoulez, Pierre, was Offenheit bedeutet. EcoEco, Umberto reklamiert die Freiheit des Interpreten bei der Aufführung bestimmter, moderner Musikstücke als eine Offenheit, die dem Kunstwerk eignet. Ästhetikgeschichtlich gesehen hat hier eine Verschiebung hin zur ausschließlichen Dominanz der RezeptionRezeption in der ästhetischen Erfahrung stattgefunden, denn es geht nicht mehr um eine InterpretationInterpretation, also DeutungDeutung, eines Kunstwerks durch verschiedene Aufführungstechniken oder persönliche Überzeugungen und kontextuelle Bedingungen, sondern es geht bei Eco um die kreative Mitarbeit des Interpreten in der Aufführung. Die freie Willkürlichkeit in der Aufführung wird dadurch aber begrenzt, dass die Stücke selbst der Logik einer kombinatorischen Struktur folgen. Diese Kombinatorik, die in anderen Fällen in einer AleatorikAleatorik aufgeht, ist eine Art Grundregel dieser Offenheit. Diese offenen Kunstwerke werden erst durch den Interpreten „vollendet“18. Heutzutage sei diese Offenheit Teil des produktiven Programms eines Kunstwerks. Diese Passage in Ecos Buch bleibt historisch unscharf. Gesetzt den Fall, dass eine Interpretin ein Kunstwerk interpretiert, das nicht erklärtermaßen diese Grundregel der Kombinatorik und des produktiven Programms verfolgt, ist dieses Kunstwerk dann nicht offen? Mit Eco gegen Eco ließe sich sagen: „Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt“19. Doch die Beispiele, die Eco wählt, sind alle der modernen Musik oder der LiteraturLiteratur der ModerneModerne entnommen. Obwohl Eco bereits zu Beginn seines Buchs die Kategorie der Offenheit „im Sinne einer fundamentalen Ambiguität der künstlerischen Botschaft“ als eine „Konstante jedes Werkes aus jeder Zeit“ begreift,20 verliert sich dieser Aspekt zunehmend.

 

Wenn nun alles Zeichen ist und der Mensch als symbolischesSymbol Wesen begriffen wird, so wäre die Ausweitung der Semiotik zu einer KultursemiotikKultursemiotik nur schlüssig.21 Demgegenüber behauptet eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT die Unabhängigkeit der Offenheit von kontingenten historischen oder poetologischen Normen. Jedes Kunstwerk wird erst im Akt der Wahrnehmung, dem Zustand der ästhetischen Erfahrung, als Kunstwerk realisiert. Die mittelalterliche Theorie der AllegoreseAllegorese, wonach die InterpretationInterpretation biblischer Texte (und mutatis mutandis der Literatur und der bildenden Kunst) stets die DeutungDeutung im Hinblick auf den buchstäblichenbuchstäblich SinnSinn, den allegorischenallegorisch Sinn, den moralischen Sinn und den anagogischen Sinn verfolgt, unterliege einer begrenzten und streng definierten Offenheit. Viel zitiert ist in diesem Zusammenhang jene Textstelle aus dem zwischen 1316 und 1320 entstandenen Schreiben an Cangrande della ScalaSchreiben an Cangrande della Scala des Dante AlighieriAlighieri, Dante (1265–1321), wo er im 20. Abschnitt über seine Divina commedia (1307/1321) darlegt:

„Zur Verdeutlichung des zu Sagenden muß man deshalb wissen, daß dieses Werk nicht eine einfache Bedeutung hat, vielmehr kann es polysem genannt werden, das heißt mehrdeutig. Denn die erste Bedeutung ist jene, die es durch den Buchstaben hat, die andere ist jene, die es durch das vom Buchstaben Bezeichnete hat. Und die erste wird die buchstäbliche genannt, die zweite aber die allegorische oder moralische“22.

Dante weist auf die etymologische Herkunft und Bedeutung des Wortes AllegorieAllegorie hin, das im Griechischen und Lateinischen Anderes oder Verschiedenes bedeute und verweist damit auf den Bedeutungshorizont der Anders-Rede.23 EcoEco, Umberto betont nun, die Rezipienten könnten lediglich zwischen jenen vier Textsinnebenen wählen. Damit würden sich die vier Lesemöglichkeiten eines mittelalterlichenMittelalter und frühneuzeitlichenFrühe Neuzeit, allegorischen, geschlossenen Kunstwerks von den zahlreichen möglichen Interpretationen eines modernen, offenen Kunstwerks unterscheiden. Historisch ist dies exakt argumentiert, aber wenn man jenseits einer historisierenden Deutung die grundsätzliche BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit eines Kunstwerks annimmt, verliert Ecos Aussage an Stichhaltigkeit.

EcoEco, Umberto bringt nun den literarischen SymbolismusSymbolismus ins Spiel, der erstmals eine bewusste Form einer Poetik des offenen Kunstwerks in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt habe. Als Beispiel wählt er das Gedicht Art PoétiqueArt Poétique (1882) von Paul VerlaineVerlaine, Paul (1844–1896). Stéphane MallarméMallarmé, Stéphane (1842–1898) ginge noch radikaler vor, seine Poetik lasse sich in einem Satz zusammenfassen: „Es muß vermieden werden, daß ein einziger SinnSinn sich aufdrängt“24, dies generiere eine Poetik des Andeutens. Ein Großteil der modernenModerne LiteraturLiteratur beruhe, so führt Eco weiter aus, auf dem Gebrauch des SymbolsSymbol und er nennt – neben James JoyceJoyce, James und dessen UlyssesUlysses-Roman – als Beispiel Franz KafkasKafka, Franz Werk. „Im Unterschied zu den allegorischen Konstruktionen des Mittelalters [sind] die mitschwingenden Bedeutungen hier nicht in eindeutiger Weise vorgegeben“25. Verwandlung, Verurteilung, Schloss und Prozess gehören bei Kafka als Generalsymbole dazu. An dieser Stelle greift Eco auf den Begriff der Ambiguität zurück und grenzt nun die Kategorie der Offenheit entscheidend ein. Er übernimmt den Begriff der perzeptiven Ambiguität aus Psychologie und Philosophie.26 Der Mangel dieses Begriffsgebrauchs liegt aber darin, dass er in der Regel die Doppeldeutbarkeit eines Textes meint, nicht aber die Bedeutungsoffenheit. Galt diese bislang dem Kunstwerk schlechthin, so wird sie nun zum Signum des ausschließlich modernen Kunstwerks, das die aktive Mitarbeit der Rezipierenden bedingt. Offenheit charakterisiert die Gegenstandsseite der rezeptiven Erfahrungsseite des deutenden Subjekts.

Ecos Bemühen, das offene Kunstwerk weiter einzugrenzen und den Term Kunstwerk in Bewegung einzuführen kann hier vernachlässigt werden. Denn legt man seine strengen Definitionen von Permutation und Kombinatorik als Maßstab zugrunde, so trifft dieser Begriff des Kunstwerks in Bewegung nur auf einen sehr kleinen Kreis ausgewählter, experimenteller Literatur zu. An anderer Stelle habe ich diese Art von Literatur die aleatorische Literaturaleatorische Literatur genannt und an Beispielen nicht nur aus der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte ausgeführt.27 Die populärsten Beispiele sind sicherlich Andreas OkopenkosOkopenko, Andreas Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden RomanLexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden Roman (1970) und die Hunderttausend Milliarden GedichteHunderttausend Milliarden Gedichte (1961) in Lamellenform als kombinatorisches Ergebnis der zugrunde liegenden zehn Sonette von Raymond QueneauQueneau, Raymond in der Übersetzung von Ludwig HarigHarig, Ludwig aus dem Jahr 1984.

Die Poetik des Kunstwerks in Bewegung (und damit teils die Poetik des offenen Kunstwerks) schaffe völlig neue „praktische Probleme dadurch, daß sie kommunikative Situationen und eine neue Beziehung zwischen Betrachtung und Verwendung des Kunstwerks“28 generiere. Allerdings ist, das lässt sich kritisch einwenden, die Funktionalität und die Funktionalisierbarkeit eines Kunstwerks etwas völlig anderes als seine BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit. Außerdem kann dem entgegengehalten werden, dass eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT benötigt wird und möglicherweise geht diese Poetik – und vieles deutet darauf hin, wenn man sich die Entwicklung moderner Formen von Kompositionen, Bildern, Skulpturen, Texten vor Augen führt – in eine ÄsthetikÄsthetik der Bedeutungsoffenheit über. Wenn man noch einmal einen textualistischen KulturbegriffKulturbegriff bemühen will, so kann man auch von einer Textur der Bedeutungsoffenheit sprechen, die demnach auch Handlungen etc. miteinschließt und ihren performativen Charakter betont.

EcoEco, Umberto unterscheidet zwischen dem freien Gebrauch eines Textes und dessen InterpretationInterpretation. Aus Sicht des Semiotikers ist ein Text „nichts anderes als die Strategie, die den Bereich seiner […] Interpretationen konstituiert“29. Für diese Begrenzung des Diskursbereichs muss man aber einen Gestaltungswillen annehmen, der ein Autorwille, ein Textwille (möglicherweise gegen den Autorwillen) oder ein Leserwille sein kann, ließe sich einwenden. Eco beschreibt an anderer Stelle das Zusammenwirken von intentio operis und intentio lectoris als ein dialektisches Verhältnis. Im Unterschied zur Leserintention sei es unmöglich genau anzugeben, was eine Textintention meinen könne, da die Intention eines Textes niemals offen zutage liege.30

Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich (1772–1829) bietet in den Heften zur PhilosophieHefte zur Philosophie (1794–1818), Philosophische Fragmente. Zweite Epoche I drei Aphorismen, die eine hermeneutischeHermeneutik Selbstzufriedenheit herausfordern. Nr. 1515 lautet: „Die Frage, was der Verfasser will, läßt sich beendigen, die was das Werk sei, nicht“31, Nr. 1503: „Das Verstehen mit dem Sinn ist ein Aneignen des Keims, ein Empfangen, Wachsen, Blühen. Können alle Früchte auf jedem Boden wachsen? – Mitnichten!“32 Und Nr. 984: „Der Buchstabe jedes Werks ist Poesie, der Geist Philosophie.“33 Das korreliert durchaus mit Schlegels Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 93: „Die Lehre vom Geist und BuchstabenBuchstaben ist unter andern auch darum so interessant, weil sie die Philosophie mit der Philologie in Berührung setzen kann.“34 Mit der Zeitschrift Athenäum hatten die Brüder August WilhelmSchlegel, August Wilhelm und Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich zusammen mit dem Theologen Friedrich Daniel Ernst SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768–1834) ein Forum für die Diskussion und Verbreitung romantischen Denkens und Schreibens geschaffen. Ihr damit verknüpfter Anspruch war kein geringer. Friedrich Schlegel schreibt am 31. Oktober 1797 an seinen Bruder:

„Denk Dir nur den unendlichen Vortheil, daß wir alles thun und lassen könnten, nach unserm Gutdünken. […] Ein andrer großer Vortheil dieses Unternehmens würde wohl seyn, daß wir uns eine große Autorität in der Kritik machen, hinreichend, um nach 5–10 Jahren kritische Dictatoren Deutschlands zu seyn, die Allgemeine Litteratur-Zeitung zu Grunde zu richten, und eine kritische Zeitschrift zu geben, die keinen andren Zweck hätte als Kritik“35.

Im Gespräch über die PoesieGespräch über die Poesie (1800) heißt es mit Blick auf die „Einteilung in Geist und BuchstabenBuchstaben“, es sei nicht einzusehen, weshalb man sich nur an den „Buchstaben des Buchstabens“ halten solle und nicht auch der allegorischen Deutungallegorische Deutung Raum zugestehen könne.36 Damit ist wieder die Spannung von BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit und symbolischer Deutungsymbolische Deutung umschrieben.

Die Aphorismen und Notizen Aus den Heften zur Poesie und LiteraturAus den Heften zur Poesie und Literatur (1796–1801) enthalten in dem Teil Zur Philologie. I (1797) zahlreiche zentrale Bestimmungen für Schlegels PhilologieverständnisPhilologie. Das reicht vom an Kalauer grenzenden Feuilletonismus bis hin zum philosophischen Scharfsinn. In Nr. 61 notiert SchlegelSchlegel, Friedrich: „Man wird zum Philologen gebohren […]“37, und nahezu wörtlich wiederholt er das im Athenäums-Fragment Nr. 404: „Zur Philologie muß man geboren sein […]. Es gibt keinen Philologen ohne Philologie in der ursprünglichsten Bedeutung des Worts, ohne grammatisches Interesse. Philologie ist ein logischer Affekt, das Seitenstück der Philosophie“38. Hier schwingt noch nach, was seit den Tagen des Dionysios ThraxThrax, Dionysios (ca. 170–90 v. Chr.), der die erste abendländische Grammatik vorlegte, als der Versuch gilt, Philologie inhaltlich auf den Begriff zu bringen und bis ins 19. Jahrhundert hinein Verständnis und Selbstverständnis der Philologie geprägt hat: „Philologie ist eine durch Empirie gewonnene Kunde dessen, was von Dichtern und Prosaschriftstellern in der Regel gesagt wird“39. Schlegel stellt Offenbarung gegen Philologie und bezeichnet die Offenbarung als das Ende der eigentlichen Philologie, da Gott über Grammatik und Kritik erhaben sei.40 Besondere Aufmerksamkeit kommen seinen Notizensammlungen Zur Philologie. I und Zur Philologie. II (1797) aus den Heften zur Poesie und Literatur zu. Als das subjektive Fundament der Philologie bezeichnet er dort die PhilologiePhilologie selbst in ihrer BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit, also als Liebe zum Wort oder, wie er es nennt, als „historischer Enthusiasmus“41. Diese Begeisterungsfähigkeit für das Wort ist Voraussetzung für die Arbeit am Wort und muss nicht durch vermeintliche oder tatsächliche wissenschaftliche Gelehrsamkeit neutralisiert werden. Damit wird unmerklich dem Recht auf den subjektiven Faktor das Wort geredet und der Vorstellung einer objektiven Philologiesierung des VerstehensVerstehen, letztlich dem alleinigen und wahren Verstehen eines Textes das Wasser abgegraben. Auch SchlegelsSchlegel, Friedrich Hinweis, die PhilologiePhilologie sei nur eine Art des Philosophierens (vgl. Nr. 80), ändert daran nichts. Schlegel entwickelt sogar das Verb „philologiren“42, das sich zwar nicht durchgesetzt hat, das er aber als Analogiebildung zu philosophieren verstanden wissen will. Das Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 391 lautet: „Lesen heißt den philologischen Trieb befriedigen, sich selbst literarisch affizieren. Aus reiner Philosophie oder Poesie ohne Philologie kann man wohl nicht lesen“43, was aber allein schon durch die fortlaufende Geschichte des Buchmarkts schlichtweg widerlegt wird. Doch Schlegel spricht nicht aus, was zwischen den Zeilen steht, es geht ihm um das richtige, das verständige LesenLesen, das er vom falschen, dem unverständigen Lesen unterscheidet, auch wenn diese Begriffsopposition so nicht wörtlich auftaucht. Dabei gruppieren sich die Themenfelder von SinnSinn, InterpretationInterpretation, Moral und Geschichte heraus. Schlegel formuliert einen „hermeneutischenHermeneutik Imperativ“44 – so wie er auch von einem „Imperativ der Progressivität“45 spricht –, der aber im Detail unausgeführt bleibt. Vielleicht hatte Schlegels Freund SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst diese Art von kategorischer Philologie im Sinn, die den Imperativ ‚Verstehe!‘ setzt, ohne ihn zu erklären, als er in seinem Buch Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren VerächternÜber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) in der dritten Rede schrieb: „Mit Schmerzen sehe ich es täglich, wie die Wut des Verstehens den SinnSinn gar nicht aufkommen läßt“46. Und wenig später ist gar vom „Joch des Verstehens“47 die Rede, das der moderne Mensch zu tragen habe.48 Möglicherweise spielt SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst mit der Formulierung Joch des VerstehensVerstehen

 

auf eine ähnliche Bemerkung LessingsLessing, Gotthold Ephraim an. Dieser hatte in seiner ersten Schrift mit dem Titel Eine ParabelEine Parabel (1778) gegen den Hamburger Hauptpastor Johann Melchior GoezeGoeze, Johann Melchior, der bekanntlich 1774 ein Verbot von GoethesGoethe, Johann Wolfgang Epochenroman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers gefordert hatte, emphatisch LutherLuther, Martin als Zeugen mit den Worten angerufen:

„O daß Er es könnte, Er, den ich am liebsten zu meinem Richter haben möchte! – Luther, du! – Großer, verkannter Mann! Und von niemanden mehr verkannt, als von den kurzsichtigen Starrköpfen, die, deine Pantoffeln in der Hand, den von dir gebahnten Weg, schreiend aber gleichgültig daher schlendern! Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset: wer erlöset uns von dem unerträglichen Joche des Buchstabens! Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest; wie es Christus selbst lehren würde! Wer – –.“49

Bei Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich können wir im Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 267 lesen: „Je mehr man schon weiß, je mehr hat man noch zu lernen. Mit dem Wissen nimmt das Nichtwissen in gleichem Grade zu, oder vielmehr das Wissen des Nichtwissens“50. So gesehen seien Fragmente „Randglossen zu dem Text des Zeitalters“51. Schlegel geht immer davon aus, dass es ein besseres Verstehen gibt, das über dem Selbstverstehen des Autors liegt und das durch Kritik erschlossen werden kann.52 Er warnt an anderer Stelle im Athenäums-Fragment Nr. 25 davor, dass das Auslegen oft auch ein „Einlegen des Erwünschten oder des Zweckmäßigen“53 sei, und greift damit einen Generaleinwand gegen jegliches symbolischesymbolisch DeutenDeuten auf. AuslegenAuslegen sei das Erstaunen über das Wunder, „das man selbst veranstaltet hat“54. Nach dem Verständnis PlatonsPlaton ist das Staunen bekanntlich der erste Schritt und zugleich die unverzichtbare, notwendige Voraussetzung zum Philosophieren, wie er in seinem Dialog TheaitetosTheaitetos SokratesSokrates sagen lässt: „Denn dies ist der Zustand eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes, das Erstaunen; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen […]“55. SchlegelSchlegel, Friedrich operiert allerdings unscharf zwischen den beiden Reflexionsfeldern eines eingeschränkten Begriffs von PhilologiePhilologie und eines umfassenden Begriffs von Philologie. Wenn er etwa im Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 147 ausführt, klassisch zu leben und das Altertum in seine Lebenspraxis umzusetzen sei Gipfel und Ziel der Philologie, so drückt sich darin nicht nur das eingeschränkte Verständnis von Philologie als einer kritischen Auslegungskunst altphilologischer Texte, sondern auch eine lebensferne Idealisierung der AntikeAntike aus, oder in NietzschesNietzsche, Friedrich Worten, das ist „die unwahre Begeisterung für das Alterthum, in der viele Philologen leben“56. Ob nun ein TextText ein klassischer Text ist oder ein biblischer oder ein profaner, immer kann er der Exegese zugeführt werden.

Demgegenüber muss geltend gemacht werden, dass kein Text je gedeutet werden muss. Denn um es prägnant zuzuspitzen, ein Text ist ohne seinen Leser nichts. Die BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit des Textes ist natürlich der Ort seiner Ordnung, ihn nicht wörtlich zu nehmen heißt, ihn ortlos zu machen, ihn zum Schweben zu bringen und dem ThaumaThauma, dem Zauber des Erstaunens zu folgen. LesenLesen ist mitnichten die Addition von Buchstaben, insofern kann es kein wörtliches VerstehenVerstehen geben. Die Ordnung der Buchstaben ist nicht die Ordnung des Textes. Die Ordnung des Textes konstituiert sich nicht über die Materialität der Signifikanten, denn der Text braucht seine Leserinnen und Leser, um als Text erkannt zu werden. In Hinsicht auf die BedeutungBedeutung des BuchstäblichenBuchstäbliches und wörtlich Geschriebenen eines Textes mahnt aber Friedrich SpeeSpee, Friedrich in seiner Trvtz-NachtigalTrvtz-Nachtigal (1649): „Nun solle man aber auch im Lesen acht geben daß man keinen buchstaben außlasse oder auch hinzusetze“57. Unscharf bleibt bei Schlegel schließlich auch, ob diese Opposition von weitem und engem Verständnis der Philologie Schlegels Zweiteilung von progressiver und klassischer Philologie entspricht. Zur progressiven Philologie rechnet er die Geschichte der jüdisch-christlichen HermeneutikHermeneutik. Die progressive Philologie habe „mit Interpretazion heiliger Schriften angefangen“58. Kurz darauf definiert er die Philologie als eine notwendige Aufgabe der Menschheit (vgl. Nr. 123), was kulturgeschichtlichKulturgeschichte betrachtet zweifelsohne zutrifft. Ähnlich liest es sich in den Heften zur Poesie und LiteraturHefte zur Poesie und Literatur, die PhilologiePhilologie würde die kritische Anlage des Menschen kunstmäßig – und das heißt kulturmäßig – ausbilden.59 KulturKultur entsteht dort, wo VerstehenVerstehen entsteht, wo das LesenLesen von Gesten, Handlungen, Zeichen und nicht zuletzt Texten dieses Verstehen voraussetzt. SchlegelSchlegel, Friedrich federt diesen geweiteten Blick allerdings sofort wieder ab, indem er darauf hinweist, dass sich der Zweck der PhilologiePhilologie nicht bestimmen lasse (vgl. Nr. 135). Das Wort Philologie übersetzt er demgemäß mit Bildungsliebe oder Kenntnisliebe (vgl. Nr. 87). Aus der progressiven Philologie entwickelt sich „die vollendete, absolute Philologie“60, die sich zugleich aber selbst ‚annihiliert‘ (vgl. Nr. 158). Folgt die InterpretationInterpretation, so führt Schlegel in Nr. 210 aus, dem Prinzip einer interpretatio perpetua, also einer Interpretation von Satz zu Satz, so entspricht dies der Vorstellung von einer absoluten Erklärung und das bedeutet einer absoluten Erklärbarkeit. Das mache den Unterschied zwischen der klassischen Philologie, die er auch die grammatische nennt, und der progressiven Philologie aus. Sich selbst rechnet Schlegel zu den „interpretirenden Philologen“61 (Nr. 216), also zur progressiven Philologie.