Es ist alles ganz einfach

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Es ist alles ganz einfach
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Der Einfachheit und

ihrer außergewöhnlichen Schönheit

gewidmet.

Und meinen Eltern,

die mir den Weg gezeigt haben,

ihren Wert zu erkennen und

diesen meinen Kindern zu offenbaren.

Impressum

Copyright der Originalausgabe

© 2019 Mondadori Libri S.p.A.

Published by Mondadori Libri for the imprint Sperling & Kupfer

Proprietà letteraria riservata

***

© der deutschsprachigen Ausgabe:

egoth verlag GmbH, 2021

Untere Weißgerberstr. 63, A-1030 Wien

ISBN: 978-3-903376-18-2

ISBN E-Book 978-3-903376-19-9

Übersetzung aus dem Italienischen: Maria Anna Söllner

Lektorat: Dr. Gudrun Stecher

Grafische Gestaltung und Satz: DI (FH) Ing. Clemens Toscani

Coverbild: © Alberto Pizzoli / AFP / picturedesk.com

Rückseitenbild: © Jonathan Moscrop / PA / picturedesk.com

Printed in the EU

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Rechteinhabers.

1. Auflage im September 2021

Massimiliano Allegri

Es ist alles ganz einfach

Übersetzung aus dem Italienischen von Maria Anna Söllner


Inhalt

Vorwort

Die 32 Regeln

Regel Nr. 1

„Wenn man uns weniger beigebracht hätte, hätten wir mehr gelernt.“

Regel Nr. 2

„Fußball ist einfach: Du musst nur das Gegenteil dessen tun, was deine Gegner tun.“

Regel Nr. 3

„Einfachheit ist das Schwierigste von allem.“

Regel Nr. 4

„Ich möchte denkende Spieler und keine hirnlosen ‚Zuchthühner‘ haben.“

Regel Nr. 5

„Authentizität, Richtung und eine Prise Empathie – das sind die perfekten Zutaten, um das Vertrauen der Spieler zu gewinnen.“

Regel Nr. 6

„Wenn du Talente entwickeln willst, gib den jungen Spielern Gelegenheit, sich in aller Freiheit auszudrücken.“

Regel Nr. 7

„Lass dich von deinen Gefühlen leiten – aber nicht, wenn du im Stress bist!“

Regel Nr. 8

„Der Moment, in dem du beim Roulette gewinnen kannst, ist kurz.“

Regel Nr. 9

„Positives Denken senkt das Energielevel.“

Regel Nr. 10

„Erhalt gibt es nicht. Es gibt nur die kontinuierliche Verbesserung.“

Regel Nr. 11

„Wenn du die Leistungspeaks steigern willst, halte dich an kreatives Herumalbern.“

Regel Nr. 12

„Es ist wichtig, den Spielern nicht mehr als drei einfache Dinge zu sagen.“

Regel Nr. 13

„Um eine weitere Meisterschaft zu gewinnen, müssen wir weniger Tore kassieren als alle anderen.“

Regel Nr. 14

„Strahle Autorität aus, aber sei nicht autoritär!“

Regel Nr. 15

„Die Hauptdarsteller sind immer die Spieler.“

Regel Nr. 16

„Das Leben und Fußball sind ganz ähnlich: Es ist alles eine Frage der Balance.“

Regel Nr. 17

„Gib einem Spieler immer das, was er braucht, und nicht das, was er will.“

Regel Nr. 18

„Wie ein Unternehmensmanager baue ich ein Siegerteam auf.“

Regel Nr. 19

„Je größer die Selbstzufriedenheit, desto geringer ist die Chance, zu gewinnen.“

Regel Nr. 20

„Wähle immer Mitarbeiter, die in den Dingen, die du delegieren kannst, besser sind als du.“

Regel Nr. 21

„Um zu gewinnen, spiele das Spiel im Geiste durch.“

Regel Nr. 22

„Ein guter Manager sorgt für Lösungen und nicht für Probleme.“

Regel Nr. 23

„Eine Mannschaft wird dann verantwortungsbewusst, wenn sie den Schalter ein- und ausschalten kann.“

Regel Nr. 24

„Die Organisation muss der Fantasie und der Inspiration dienen.“

Regel Nr. 25

„Im Fußball schießt du entweder ein Tor oder du lieferst eine Torvorlage oder du rennst.“

Regel Nr. 26

„Ball spielen kann jeder. Fußball spielen nicht.“

Regel Nr. 27

„Wenn du nicht gewinnen kannst, bleibe bis zum Ende des Spiels im Ballbesitz.“

Regel Nr. 28

„Wenn du dir ein Spielkonzept richtig vorstellst, kannst du es auch zeichnen.“

Regel Nr. 29

„Wir trainieren, so zu spielen, wie wir spielen.“

Regel Nr. 30

„Sportler sind wie Rennpferde. Hin und wieder muss man sie auf die Weide stellen.“

Regel Nr. 31

 

„Die Fokussierung auf Fakten bringt Klarheit, während Bilder Energie geben.“

Regel Nr. 32

„Die Emotionen des Spielfelds bringen Energie, die rationale Analyse führt zu Entscheidungen.“

Cristiano Ronaldo

Über dieses Buch/Mario Orfeo

Vorwort

Liebe Sportbegeisterte, liebe Fußballfans,

mein Name ist Massimiliano Allegri, ich bin ein waschechter Livorneser, ein Toskaner, und bin stolz darauf, aus der Region zu stammen, deren Dialekt unsere reichhaltige und melodische Sprache durch Größen wie Dante, Petrarca und Boccaccio entscheidend geprägt hat. Nach fast 40-jähriger Wettkampftätigkeit – zunächst als Spieler, später als Trainer – habe ich beschlossen, meine Notizen hervorzuholen, die mich auf dieser Reise, auf der ich stets einem Fußball gefolgt bin, begleitet haben. Aufgrund dieser Notizen finde ich heute die Kraft und den Mut, meine Erfahrungen aufzuschreiben und sie mit euch zu teilen. Dieses Buch stellt im Grunde genommen einerseits ein Bekenntnis all dessen dar, was ich im Fußball und in der Fußballwelt gelernt habe, andererseits beschreibt es aber auch die praktische Anwendung dieser Lerninhalte. Diese sind so sehr zu einem Teil von mir geworden, dass ich nun meine eigene Philosophie und mein eigenes Fußball- und Sport-Credo vorlegen kann.

Damit möchte ich mich nicht auf ein Podest stellen. Dieses Buch ist aus einem Bewusstsein heraus entstanden, das dank meiner Fehler, die ich wie alle anderen im Laufe meiner Karriere unvermeidlicherweise begangen habe, gereift ist. Es waren sogar vor allem die Fehler, die mich im Laufe der Jahre wachsen ließen: Mehr als einmal habe ich durch sie verstanden, dass ich die Theorien, von denen ich fest überzeugt gewesen war, die sich dann jedoch als ineffizient herausgestellt hatten, zumindest überprüfen, wenn nicht gar ganz über den Haufen werfen musste.

Die Art und Weise, wie ich als Trainer einer Fußballmannschaft arbeite, basiert in Teilen auf meinen persönlichen Erfahrungen, aber nicht nur: In meinem Leben war auch die Auseinandersetzung mit Kollegen enorm wichtig – sowohl mit anderen Fußballspielern (in der Zeit, als ich selbst noch im Fußballtrikot auf dem Spielfeld stand) als auch später mit Trainern, mit denjenigen also, die heute meine Kollegen sind. Ich bin nämlich fest davon überzeugt, dass es für einen guten Fußballtrainer unabdingbar ist, sich vor allem mit demjenigen gründlich auseinanderzusetzen, den man im Sport als „Gegner“ bezeichnet. Ich habe versucht, in diesem Umfeld von allen zu lernen, indem ich mich wie ein kleines Kind, das Erfahrungen sammeln und lernen möchte, um immer besser zu werden, mit offenen Augen umgesehen habe.

Ich fasse zusammen: Diese lange Reise hat für mich bei meiner persönlichen Erfahrung als Spieler begonnen. Ich habe dabei akzeptiert, „an der Front“ zu sein, also Sport in der ersten Reihe zu treiben und immer und überall den Kopf hinzuhalten. Nur so konnte ich meine, sagen wir: Datenbank füllen, deren Inhalte mir nun sehr zugute kommen und sich unter dem Begriff „Erfahrung“ zusammenfassen lassen. Hinzu kam, wie schon erwähnt, meine große Bereitschaft, mich mit meinen Gegnern und Kollegen auseinanderzusetzen.

Doch hier ist noch ein dritter wichtiger Aspekt zu nennen, der mir ganz besonders am Herzen liegt. Neben der persönlichen Erfahrung und der Auseinandersetzung mit dem Gegner habe ich auch immer versucht, besser zu werden und durch die Lektüre von Büchern und Fachzeitschriften sowie die Teilnahme an Kongressen auf dem neuesten Stand zu bleiben. All das tat ich, um als Trainer frei zu sein.

Ich glaube nämlich, dass aus Wissen Freiheit entstehen kann: Je besser man eine Materie beherrscht, desto eher kann man Entscheidungen treffen, die auf einer freien Wahl beruhen und nicht von Zwängen geprägt sind.

Ich habe viel über Fußball gelesen, aber nicht nur darüber. Denn meiner Ansicht nach ist die Leitung eines Teams – damit sich Letzteres in eine „echte Mannschaft“ verwandelt – nur möglich, wenn man Führungsqualitäten besitzt, die über eine rein technische Kenntnis des Spiels hinausgehen. Aus diesem Grund habe ich wiederholt an Weiterbildungskursen für Führungskräfte teilgenommen. Eine Fußballmannschaft unterscheidet sich meiner Überzeugung nach nämlich nicht so sehr von einem Management-Board einer großen Firma, in dem jeder seine Aufgabe zu erfüllen hat und das Endergebnis auf die Arbeitseffizienz jedes einzelnen Mitglieds zurückzuführen ist bzw. von ihr abhängt. Gestattet mir, dass ich an dieser Stelle ein Beispiel nenne und hierfür einen Kollegen zitiere: Als ich einmal einen Artikel über Basketball las (denn auch vom Basketball kann man sehr viel lernen), war ich von einer Metapher fasziniert, die ein großer Trainer verwendete, um seine Starting Five – also die ersten fünf Spieler in der Startaufstellung – auf ein wichtiges Spiel einzustimmen. Dieser Trainer, dessen Namen ich hier nicht nennen will, sprach zu den Spielern, als entspräche jeder von ihnen einem Finger an der Hand. Zum Point Guard bzw. Playmaker sagte er zum Beispiel: „Also, du bist zwar der Kleinste, aber auch derjenige, der den Ball mehr als die anderen in der Hand hat. Denn deine Aufgabe ist es, das Spiel aufzubauen. Du bist wie der kleine Finger: Eigentlich scheinst du weniger wichtig als die anderen zu sein, aber versucht einmal, etwas ohne die Unterstützung des kleinen Fingers in der Faust zusammenzudrücken, und ihr werdet sehen, dass der Griff um einiges schwächer ist, als wenn ihr alle fünf Finger dazu verwendet. Dasselbe gilt auch für euch anderen vier: Der Mittelfinger ist wie ein Pivotspieler, er ist der längste Finger. Versucht, eine Faust ohne den Mittelfinger zu machen: Die Hand hat nur halb so viel Kraft. Und der Zeigefinger, der dem Shooting Guard entspricht? Welche Art von Griff kann eine Hand ohne Zeigefinger haben? Dasselbe gilt für den Ringfinger, einen weiteren wichtigen Finger. Der Daumen schließlich, der plump und manchmal sogar sperrig wirkt, umschließt die anderen Finger, er hält sie an ihrem Platz und verwandelt die Hand in eine uneinnehmbare Festung.“ Diese Metapher konnte einen Livorneser wie mich nicht gleichgültig lassen, unter anderem deshalb, weil Livorno eine wichtige Rolle in der Geschichte des italienischen Basketballs gespielt hat.

Fußball, wie auch Basketball, ist wie eine glänzende Maschine, die sich aus vielen Einzelteilen zusammensetzt. Es wird nie der einzelne Spieler gewinnen, sondern die Mannschaft in ihrer Gesamtheit. Ganz im Gegenteil, die Mannschaft strahlt auf dem Spielfeld die Effizienz des gesamten Vereins aus, inklusive Angestellte und Hilfsarbeiter (und ist für Zuschauer und Journalisten der sichtbarste Ausdruck hierfür). Eine Mannschaft, die keinen gut funktionierenden Verein hinter sich stehen hat, wird vielleicht ein, zwei oder auch drei Spiele gewinnen können, aber sie wird entsetzliche Anstrengungen unternehmen müssen, um sich für eine Meisterschaft oder einen wichtigen europäischen Wettbewerb qualifizieren zu können. All diese Bildungsphasen haben den Massimiliano Allegri von heute erschaffen, einen Mann und Trainer, der nichts anderes ist als die Summe seiner Erfahrungen, die er im Bewusstsein und dem Wunsch, immer besser zu werden, gemacht hat. Genau deshalb versuche ich erst jetzt (und dabei packt mich verständlicherweise schon etwas der Ehrgeiz), meine Grundgedanken zu Papier zu bringen. Nicht nur deshalb, weil scripta manent („das Geschriebene bleibt“), wie die Römer sagten, sondern um einer größeren Klarheit in der Anwendung willen.

Wenn ich mir einen intellektuellen Anstrich geben wollte – und ich versichere euch, dass das nicht in meiner Absicht liegt –, würde ich sagen, dass das Folgende wirklich meine Philosophie bzw. meine Sichtweise des Sports im Allgemeinen und des Fußballs im Besonderen darstellt. Nun mag sich vielleicht der eine oder andere fragen: Warum schreibt Allegri erst jetzt darüber, was er in fast 40 Jahren auf dem Fußballfeld gelernt hat? Die Antwort ist ganz einfach: Weil es mir erst jetzt gelingt, die Inhalte meines Fußballunterrichts und meine Unterrichtsweise exakt darzustellen. Genau deshalb habe ich beschlossen – bestärkt durch das Befürworten einiger Menschen, die mich gut kennen –, dass nun für mich der Moment des Schreibens gekommen ist, um ein greifbares Zeugnis meines Trainerdaseins zu hinterlassen. In diesem Buch findet ihr die Darlegung meiner Grundregeln, ihrer Anwendung in Situationen, die ich in all diesen Jahren tatsächlich erlebt habe, sowie auch die Beschreibung der wichtigsten Zeitkoordinate eines Fußballtrainers: der Wettkampfwoche.

Das versuche ich noch etwas genauer zu erklären: Das Leben eines Trainers eines Erstligisten, wie ich es bin, besteht aus einer Abfolge von Situationen, die sich je nach Dringlichkeit und Notwendigkeit wöchentlich wiederholen und immer gleich sind. Manchmal stehen auch Fernsehauftritte an, doch sonntags steht der Fußballtrainer mit seinen Jungs auf dem Spielfeld, um das jeweilige Spiel in Angriff zu nehmen. Montag ist also Ruhetag, ab Dienstag bespricht man, wie es im letzten Spiel gelaufen ist, und das Match, das der Mannschaft am nächsten Wochenende bevorsteht.

Ich möchte euch nun meine „typische Woche“ vorstellen, unterscheide dabei aber zwischen zwei Arten von Wochen: der Woche mit internationalen oder nationalen Verpflichtungen und der normalen Woche, bei der nur Meisterschaftsverpflichtungen anstehen. Im Fußball von heute tritt, wie ihr wisst, der erste Fall sehr viel häufiger ein, da andere Veranstaltungen wie die Coppa Italia oder andere Ziele wie die Supercoppa italiana oder der UEFA Super Cup hinzukommen. Dieses Buch hat nicht nur eine didaktische Zielsetzung, sondern möchte auch das Leben eines Mannes (mehr als das eines Trainers) zusammenfassend darstellen. Um die Lektüre zu erleichtern, habe ich die verschiedenen Themen in 32 Regeln unterteilt. Sie sind nichts anderes als Maximen, die dazu dienen sollen, verschiedene Gedankenlinien zu entwickeln. Es sind nur Grundkonzepte, denn mein Unterricht kann nicht unabhängig von ihrer praktischen Anwendung gesehen werden.

Die Zahl 32 ist eine nicht vollkommene Zahl. Aber auch das ist eine Seite von mir: Ich habe nicht versucht, ein Kultbuch zu schreiben, sondern ein Bekenntnis darüber abzulegen, was ich bin und was ich gelernt habe. Auf diese Weise vertraue ich gewissermaßen einen Teil von mir all denen an, die dieses Buch lesen werden. Wenn ich hätte Eindruck schinden wollen, hätte ich mein Credo in 30 oder vielleicht 33 Regeln verpackt, was zweifellos eine Zahl mit einer stärkeren emotionalen Wirkung gewesen wäre. Doch nein, die Art und Weise, wie ich Fußball und Sport lebe, umfasst 32 Regeln. Meine Regeln.

Ich wünsche gute Lektüre und danke euch für eure Aufmerksamkeit.

Die

Regel Nr.
1
„Wenn man uns weniger beigebracht hätte, hätten wir mehr gelernt.“

Da ich kein Lehrer bin, fange ich bei der Erläuterung meiner ersten Regel lieber mit einem Erlebnis an, das ich vor einiger Zeit hatte. Ein Freund schickte mir ein Foto. Darauf war eine Mauer abgebildet, auf der folgendes Graffiti zu lesen war: „Vielleicht, wenn man uns weniger beigebracht hätte, hätten wir mehr gelernt.“

Nun, mal abgesehen von der etwas seltsamen Wortstellung, habe ich mich sofort gefragt, was diese Nachricht bedeuten sollte. Unwillkürlich kam mir in den Sinn, dass ich zwei Wochen zuvor beschlossen hatte, bei einem Freundschaftsspiel gegen die U23-Auswahlmannschaft der Bianconeri (der „Weißschwarzen“, Juventus Turin) eine „atypische“ Formation der Juventus Turin einzusetzen. „Atypisch“ deswegen, weil ich die Spieler einfach so – ohne jegliche Anweisung zu Schemata oder Taktik – aufs Spielfeld geschickt hatte.

Meine Spieler hatten in der ersten Viertelstunde offensichtlich große Schwierigkeiten, doch ich sah dem Spiel von der Trainerbank aus zu, ohne es in irgendeiner Weise zu kommentieren. In der Zwischenzeit war mir aufgefallen, dass mein junger Verteidiger Daniele Rugani – eigentlich schon drei bis vier Minuten nach Spielbeginn – begonnen hatte, Tipps zu geben. Es war eine spontane Reaktion gewesen, der Versuch, ein konstruktives Spiel entstehen zu lassen. Er hatte also meiner Meinung nach begonnen, seinen Verstand eigenständig einzusetzen. In meinen Augen war das etwas sehr Positives. Denn, auch wenn man die Spieler sicherlich nicht sich selbst überlassen darf, so sollte man sie andererseits auf keinen Fall in allzu starre didaktische Schemata hineinzwängen, da diese sie ihrer Kreativität berauben würden.

 

Dieser Ansatz gilt sowohl für Kinder als auch für erfahrenere Spieler wie die meinen der 1. Mannschaft von Juventus Turin: Man muss sie formen und aufbauen, aber ihnen auch beibringen, eigenständig zu denken. Darüber will ich mich nun nicht weiter auslassen, denn wir werden im Zusammenhang mit der nächsten Regel auf dieses Thema zurückkommen. An dieser Stelle muss jedoch unbedingt betont werden, wie wichtig die Initiative der einzelnen Spieler sein kann, wenn sie über geistige Freiheit verfügen, also ohne, dass ein Trainer sie in allem, was man tun kann oder muss, unterrichtet hat. Der Lehrberuf ist meines Erachtens jedenfalls einer der schwierigsten Berufe der Welt. Davon können Eltern – als erste „Dozenten“ ihrer Kinder –, aber auch Lehrer, die in der Schule anstelle von Papa und Mama Erziehungsarbeit leisten oder sie zumindest darin ergänzen, ein Lied singen. Im Sportumfeld würde ich das Unterrichten an sich nicht als Beruf bezeichnen, sondern eher von einer „Aufgabe“ sprechen, da wir im Leben alle früher oder später einmal dazu aufgefordert sind, etwas zu unterrichten.

Natürlich gibt es hierzu eine Vielzahl an didaktischen Theorien, von denen jede in gewisser Weise ihren Wert hat. Ich habe meine eigene Theorie und möchte sie anhand eines praktischen Beispiels erläutern: Nehmen wir einmal an, ich müsste einem kleinen Kind beibringen, wie man sich die Schuhe bindet. Es ist ein einfacher, aber wichtiger Handgriff, vor allem, weil man ihn immer wieder brauchen und er im Leben nützlich sein wird. Ein Kind kann diesen Handgriff auf vielerlei Arten erlernen, aber ich habe die Vorstellung, dass ich ihm erst einmal zeigen muss, wie es geht oder wie es mir beigebracht wurde. Und erst danach ist es sinnvoll, dass man es selbst machen lässt, auch wenn man ganz genau weiß, dass das Kind es anfangs auch falsch machen könnte. Natürlich muss man korrigierend eingreifen, wenn das Kind etwas offensichtlich nicht verstanden hat, doch ohne es in seinen kreativen Fähigkeiten – beispielsweise durch Angaben zur Größe der Schleife, des Hasenohrs oder wie auch immer man es nennen will – einzuschränken. Mit anderen Worten: Wenn wir dem Kind zu viele Informationen auf einmal geben, besteht letztlich die Gefahr, dass es durcheinanderkommt. Wenn es jedoch selbst die Erfahrung macht, dass die Schleife nach ein paar Schritten aufgeht, wird es verstehen, dass es daran lag, dass es diese nicht fest genug gebunden hatte. Dann werde ich dem Kind sagen, ohne mit ihm zu schimpfen, dass es den Knoten noch einmal machen und fester zuziehen solle, ich werde aber weder direkt eingreifen noch die Aktion ein weiteres Mal zeigen. Das Ergebnis wird dann vielleicht nicht so hübsch aussehen, aber die Schleife wird halten.

Wenn das Kind begriffen hat, dass ein schön aussehender Knoten, der aber nicht fest genug ist, weniger funktional ist als ein schiefer, hässlicher Knoten, der jedoch beim Laufen und Rennen hält, haben wir unser Ziel erreicht. Die Ästhetik wird das Kind schon noch entdecken, aber erst später, wenn es die Schleife an meinen Schuhen sieht oder wenn es seine größeren Spielkameraden nachahmt, vielleicht sogar, wenn sie sich gemeinsam vor einem Fußballspiel umziehen.

Ich habe das Beispiel des Schuhebindens gewählt, weil es mich immer schon extrem gestört hat, dass man alles auf das Lehren reduziert, ohne dem Lernen und Ausprobieren den nötigen Raum einzuräumen. Das kann und darf auch auf das Fußballspiel angewandt werden: In einer Wirklichkeit, in der wir Geisel der Wissenschaft sind und mit Zahlen (die, Gott bewahre, in den allermeisten Fällen auch nützlich sind) bombardiert werden, vergisst man oft, dass es immer die Technik (bzw. das Spiel) des Einzelnen ist, die einen Raum, eine Gelegenheit, ein Tor erfindet und erschafft. Sie ist es, die einen echten qualitativen Unterschied macht.

Wenn man sich mit Standardisierungen, die dem Fußball übergestülpt werden, zufriedengibt, stellt das meiner Meinung nach eine klare Einschränkung, wenn nicht sogar eine echte Niederlage dar. Wir werden dieses Thema auch im Zusammenhang mit einer anderen Regel besprechen, die uns meines Erachtens sogar die Notwendigkeit auferlegt, Einfachheit zu trainieren, ohne sie in ein System zu übernehmen, das sie opfert.

Bevor ich das Kapitel zu Regel Nr. 1 beende, kehre ich noch einmal zum Vergleich zwischen dem Kind, das lernt, sich die Schuhe zu binden, und dem Spieler, der in seiner Einfachheit trainiert ist, zurück. Im Laufe meines Lebens habe ich die Hindernisse, die sich mir in den Weg stellten, immer voll und ganz akzeptiert – ohne Angst zu bekommen und ohne im ersten Lösungsansatz zu versuchen, sie zu umgehen. Heute, nach so vielen Jahren, hat sich meine Einstellung sogar noch weiter verändert: Ich freue mich inzwischen manchmal sogar darüber, wenn ich vor einer Schwierigkeit stehe.

Warum, fragt ihr euch vielleicht? Ganz einfach: weil ich durch ein Hindernis wachsen, mich vervollkommnen, besser werden kann. Wieso sollte ein Kind je lernen, sich die Schuhe zu binden, wenn es niemals vor dem Problem stand, dass es seine Schuhe nicht verlieren wollte? Wenn ein Kind nie Schuhe mit Schnürsenkeln angezogen und somit dieses Hindernis umgangen hätte, hätte es niemals erfahren, was es bedeutet, sich die Schuhe selbst binden zu müssen. Die wichtigste Schlussfolgerung könnte also folgende sein: Ein Hindernis dient mir dazu, mich neuen Möglichkeiten zu öffnen und andere Konzepte und Lösungen zu erlernen.