Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren

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Martina E. Siems-Dahle

Briefe lügen nicht.

Wie wir wirklich waren.

Eine Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts

Biografischer Roman

Imprint

Briefe lügen nicht — Wie wir wirklich waren / Eine Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts

Martina E. Siems-Dahle

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2013 Martina E. Siems-Dahle

ISBN 978-3-8442-5192-0

Titelgestaltung: Erik Kinting

Auch als Druckversion erhältlich: ISBN 978-3-8442-5191-3

Hinweis:

Die Rechtschreibung in den zitierten Briefen folgt nicht immer den heutigen Regeln. Nur grobe Schnitzer habe ich korrigiert.

Am Ende des Buches finden Sie ein Glossar, in dem Kriegsdaten, Orte und Begriffe erklärt werden.

Make peace with your past

so it won't screw up the present.

Aus dem Internet; Zitat einer 97-jährige Amerikanerin

Inhaltsverzeichnis

Imprint

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Prolog

Keine SMS und keine Email, sondern: Ein Brief

Ein Abschied öffnet Tore in die Vergangenheit

September 2008: Straße der Erinnerungen

Der vorletzte Hilferuf

Der letzte Hilferuf

Der rote Ordner

Der Traum

Vom „positiven Denken“ und der „Notwendigkeit“

Über die Rollenverteilung von Männern und Frauen

Briefe an einen Toten

An Deutschlands Frauen

Ein schöner Mann

Schöne Frauen, schöne Autos!

Abschied in Frieden

9./10.Juni 2006

Der letzte Wille I

Der letzte Wille II

Die „normalen“ Zeiten meiner Eltern und Großeltern

Aufarbeitung auf ganz eigenwillige Art

Kaiserlicher Bordfotograf: Großvater Heinrich Siems

Leni Siems‘ Geburtstage

Albert und Henny Büsing

Vom Glück, immer etwas auf dem Herd stehen zu haben

Hans-Jürgens „normale“ Zeiten

Wunsch und Wirklichkeit

Ein Fall von Verhältnismäßigkeit

Terror

„Krieg? - Halb so wild“

Störungen 2012

Störungen 1940

Störungen, März 1973:

Es wird schon gut gehen

Kriegsverletzung

Das Menschenmaterial ist sonst gut

Die letzten Kriegsmonate

Heinrich Siems: Die Anstalt - Ein Bild des Jammers und des Elends

Ellis „normale“ Zeiten

Mütter waren auch mal jung

Schwer verliebte Männer

Ein gut gemeinter Rat:

Ellis Nachkriegszeit

Hans-Jürgens Heimkehr zum Aufbruch

Tagebuch eines Kriegsgefangenen

Der Heimweg

Die Suche nach der Frau

Intermezzo I

Wie Sechsjährige Liebe verstehen

1999 - Der erste Liebesbrief an meine sechsjährige Tochter

Liebe und Freundschaft nach dem Krieg

Leidenschaft

Gemeinsamer Aufbruch

Meine „normalen“ Zeiten

Das etwas andere Weihnachten I

Das etwas andere Weihnachten II

Das politische Umfeld in meiner Kindheit und Jugend

„Sportschau“ oder „Daktari“?

Erziehungsmethoden

Benotung

Kein Pardon

Ein anderer Mensch? Mein Vater wurde Lehrer

Intermezzo II

Liebe vor uns Kindern

Meine „Krankheit“

Vertrauen

Der verbrannte Wunsch

70er Jahre: Der ganz normale Wahnsinn

Rausch

Rausch in anderen Zeiten

Die Sonnenbrille

Bohème

Ohnmacht

Meine kleine „Offensive 77“

Schlossgarten und andere Vergnügungsorte

Meine „Kuchenform“

Mein Aufbruch zur Abkehr

Generalprobe

Intermezzo III

Liebesersatz

Väterliche Fürsorge in Kriegszeiten:

Ruhe vor dem nächsten Sturm

1993: Vierzehn Jahre sind vorbei

 

Das abgebrochene Geschenk

Ordnung ist das halbe Leben I

Ordnung ist das halbe Leben II

Das hungrige Enkelkind

Das „Es“ kehrte zurück

Es war Liebe

Epilog

Die Autorin

Nachwort von Hans-Heiner Siems

Glossar

Danksagung:

Ich danke von Herzen:

Meinem Ehemann, Claus. Wir haben uns geliebt, haben nach einer Woche des Kennenlernens mit einer geradezu frechen Unbeschwertheit beschlossen zu heiraten; wir haben uns aneinander gerieben; wir hatten uns getrennt, wir wollten vielleicht sogar die Scheidung. Als meine Seele sich im Keller verschanzt hatte, war er es, der Aufgaben und Pflichten von mir fern hielt und ich wieder in die normalen Etagen der Existenz hinauf steigen konnte. Wir haben erkannt, dass Humor eine hervorragende Basis für das Leben ist.

Meiner Tochter, Cora. Sie hat mit stoischer Unbeschwertheit und entzückendem Witz ihre schreibende Mutter ertragen.

Meiner Hündin, Sandy. Sie hat mich oft erwartungsvoll angeschaut, ob es denn nicht bald mal hinaus ginge.

Heiner, meinem Bruder, der mir schrieb:

„Übrigens finde ich es klasse, wie du an das Thema ‚Lebensaufbereitung’ rangehst.“

Danke, lieber Heiner, dass du mir Mut und Unterstützung gegeben hast, dieses Buch zu schreiben, denn du bist ja genauso Kind dieser Familie und dieser Generation, wie ich.

Eure Tini

P.S: Noch drei Mal Dank: Renate Naber (WDR 5 Autorin / meine Mentorin), Hanne Wiesenmaier-Löhr (seit über 30 Jahren meine Alle-Lebenslagen-begleitende-Freundin), Juliane Brockmaier (Blödsinn kann so schön sein!)

Prolog

Der Humor hat in unserer Familie eine wichtige Rolle gespielt. Ohne ihn hätten die Protagonisten dieser biografischen Geschichte Armut, Demut, Krankheit, Krieg, Verlust, Neuanfang und seelische Verletzungen kaum überwunden.

Von seiner ersten Ausbildungsstation, einer Baubatterie in Rendsburg, schrieb mein damals neunzehnjähriger Vater am 8.2.1940 an seine Eltern:

Liebe Eltern!

(…) Gestern ist mir eine peinliche Sache passiert, die jedoch von unserem Feldwebel selbstverständlich von der humoristischen Seite genommen wurde. Als er (…) unerwartet in unsere Stube eintrat, bemerkte ich, mit zwei anderen Kameraden in einen Mittagsskat vertieft, nicht den Achtungsruf. Der Erfolg war, daß mir plötzlich ein Paar Handschuhe ins Gesicht flogen, worauf ich, in der Meinung, einer der Stubenkameraden sei der Täter, schrie:

„Seid Ihr denn verrückt geworden?“

Allgemeines Gelächter, dann mußte ich riesige Runden um die Baracken drehen und mich dann beim Feldwebel melden. Auf seiner Stube angekommen fragte er mich:

„Sie sind Landwirt?“

„Nein, Herr Feldwebel.“

„Sie sind doch Landwirt!“

„Nein, Herr Feldwebel!“

„Mann, wenn ich Ihnen sage, Sie sind Landwirt, dann sind Sie Landwirt!“

„Jawohl, Herr Feldwebel!“

„Also, Sie sind Landwirt und können mit Stroh umgehen!“

„Jawohl, Herr Feldwebel!“

„Gut, dann schütteln Sie bis Sonntag jeden Morgen meinen Strohsack auf.“ (…)

Herzliche Grüße! Euer Hans-Jürgen

Mein Vater, geboren 1921 in Wehnen bei Oldenburg, ist nach dem Zweiten Weltkrieg Lehrer geworden. Er war darüber hinaus mit Leib und Seele Lyriker und Schüttelreimer. Mit seinem Werk, das er selbst noch bei Books on Demand[1] veröffentlichte, begleitete er sein Umfeld mit Humor über seinen Tod im Jahr 2004 hinaus.

Die Übungen in seinen Schularbeitsheften, die fast vierzig Jahre beim Ernst Klett Verlag erschienen sind, waren dem kindlichen Bedürfnis nach Witz und Scherz angepasst.

Meine Mutter, geboren 1925 in Rüdershausen bei Brake an der Unterweser, ist zwar die Leichtigkeit des Humors nicht „in die Wiege gelegt“ worden, doch sie hatte eine große Freude an Witzen, besonders an unfreiwilliger Situationskomik. Sie hat vorwiegend mit Pragmatismus unser (Über-) Leben ermöglicht. Dabei stellte sie ihr eigenes Wohlbefinden meistens hintenan, „weil sich das so gehört“. Das Leben funktioniere nur, wenn man sich an Normen hält. Spontanität und Gefühle hätten da nichts zu suchen.

Im Nachlass fand ich, um nur einige Zahlen zu nennen, etwa 1500 Briefe zwischen meinem Vater und seiner Familie von 1939 bis 1947. Es gibt weitere etwa fünfhundert Briefe zwischen meiner Mutter und Soldaten jener Zeit und es gibt Korrespondenzen und Berichte meiner Großeltern ab dem beginnenden 20. Jahrhundert. Und es gibt von meiner Mutter aufbewahrte Notizen und Briefe aus den 1970er Jahren, als sich ein breiter Graben zwischen meinen Eltern und mir auftat. Wir durchlebten einen Generationenkonflikt, wie er in jener Zeit typisch für deutsche Familien war.

Der Humor als Mittel zum Zweck ist die eine Seite. Die andere ist, dass die Wertvorstellungen, mit denen jeder entsprechend seiner Zeit, in der er aufwächst und lebt, diese als die „richtigeren“ ansieht. Natürlich gibt es einige Ausnahmen, Visionäre und Menschen, die in der Lage sind, ihre eigene Zeit kritisch zu hinterfragen. Die Masse bleibt aber stumpf.

Die Briefe und Notizen vermitteln einen authentischen Einblick in drei Generationen. Sie sind Zeitzeugen, vermitteln Gedanken, Gefühle und – politische – Einstellungen der Schreibenden. Und sicherlich nicht nur deren, sondern die der meisten Deutschen. Es sind Dokumente, die nichts rückblickend verfälschen können, weil sie eben direkt aus diesen drei ‚Epochen‘ stammen. Sie fördern Wahrheiten ans Licht.

Noch mehr: Sie offenbaren Erklärungen über die Spannungen zwischen meiner Elterngeneration, Deutschen, die bis 1930 geboren wurden, und ihren Kindern. Sie dokumentieren und erhellen die Gründe für diesen bis dahin nie da gewesenen Generationenkonflikt, was mir, während ich diese persönlichen Texte und Papiere durcharbeitete, erst schleichend bewusst wurde. Genauer als jedes Geschichtsbuch oder jeder Historienfilm bringen sie das tatsächliche Denken und Leben dieser Generationen an die Oberfläche.

Die charakterlichen Eigenarten der Personen in meiner Familie sind die eine Ursache für die Verletzungen, die wir uns zufügten. Die andere wurzelt in den spätestens ab 1968 um 180 Grad gedrehten Auffassungen von Moral, zwischenmenschlichem Umgang, Würde und vor allem Freiheit. Der Inhalt der entdeckten Briefe hat mich zunächst erschüttert, dann aber Erkenntnis und Erleichterung gebracht. Der Weg dorthin war spannend, eine Berg- und Talfahrt mit Weinen und herzhaftem Lachen.

Ist es nicht wunderbar, die Gelegenheit zu bekommen, in die Zeit der Eltern und Großeltern hinein zu schnuppern? Ist es nicht schade, dass man die Beweggründe für elterliches Handeln erst nachvollziehen kann, wenn diese verstorben sind? Durch die Briefe sind meine Eltern in mir wieder auferstanden. In einem inneren Dialog mit ihnen konnte ich endlich Fragen stellen und Antworten erhalten.

Briefsammlungen dieser Art wird es bald nicht mehr geben. Leider!

Keine SMS und keine Email, sondern: Ein Brief

„Ich muss diesen Arbeitsvertrag jetzt wegschicken.“

2012: Cora, meine achtzehnjährige Tochter, sitzt an meinem Rechner. Sie hat gerade ein bravouröses Abi hingelegt und will nun bei einer Cateringfirma ihr Taschengeld aufbessern.

„Was muss ich denn da schreiben?“

„Wie –‚ schreiben‘?“, frage ich zurück.

„Als Anschreiben?“

„Also: ‚Sehr geehrte Damen und Herren, anbei meine Vertragsunterlagen. Mit freundlichem Gruß! Cora Dahle.‘“

„Kannst Du mal kommen?“

Ich gehe in den ersten Stock.

„So?“ Der von mir vorgeschlagene Text steht oben links, ohne Zeilenabstände.

„Du musst zwischen der Anrede, dem Text und dem ‚Freundlichen Gruß’ Zeilenabstände setzen. Wirst Du per Hand die Adresse auf den Umschlag schreiben?“

„Ja.“

„O.K., dann schreibe oben rechts auf dem Brief noch: ‚Köln, den 20.6.2012.’“ Wenig später sitze ich wieder an meinem Rechner, Cora unten am Schreibtisch im Wintergarten.

„Wo kommt denn die Adresse hin?“, höre ich.

„Auf dem Briefumschlag?“

„Ja.“

„Unten rechts.“

„Und die Briefmarke?“

„Oben rechts.“

„Und der Absender, auf die Rückseite?“

„Kannst Du machen, kann aber auch auf die Vorderseite, oben links.“

„Muss ich ‚Absender’ schreiben?“

„A B S“, buchstabiere ich, „und Punkt und Doppelpunkt.“ Pause. „Und darunter dann deine Anschrift.“

„Muss ich den dann zur Post bringen?“

Ein Abschied öffnet Tore in die Vergangenheit
September 2008: Straße der Erinnerungen

Ich konnte sie noch riechen, meine Eltern. Echt Kölnisch Wasser, Tabac Original, frisch gebügelte Wäsche, Grünkohl mit Pinkel, aufgebrühter Kaffee.

Meine Sinne wurden allerdings getäuscht. Das Haus hatten mein Mann Claus und ich leer geräumt. Ich schloss die Tür ab und setzte mich in unseren Kombi, der bis oben hin vollgepackt war. Auch im Fußraum lagen Bücher und Fotoalben. In diesem Haus im Heynesweg in Oldenburg bin ich nicht groß geworden, denn meine Eltern hatten es gebaut, nachdem Heiner und ich vor mehr als dreißig Jahren fortgegangen sind.

Ich zog die Autotür zu, mein Mann lenkte den Wagen die lange Auffahrt bis zur Straße hinauf. Nur eine Querstraße weiter bogen wir in den Drögen-Hasen-Weg ein, die schmale Straße, in der ich aufgewachsen bin. Solange ich nur denken kann, wurde sie von Eichen gesäumt. Nach wie vor, als ob es nicht schon längst eine Kanalisation gäbe, zogen Gräben rechts und links neben den Baumreihen entlang. In meiner Kinderzeit führten sie auch Abwasser.

Kaum hatte ich daran gedacht, stieg auch schon ein modriger Geruch in meine Nase und mit ihm die Erinnerung an meine kläglichen Versuche, die Gräben im Wettstreit mit meinen Freunden zu überspringen. So manches Mal musste meine Mutter mich Stinktier mit dem kalten Wasserschlauch abspritzen.

Wie in Zeitlupe passierten mein Mann und ich diese für Norddeutschland typischen, kleinen Spitzgiebelhäuser. Eine Ausnahme bildete Haus Nr. 25a: Ina hatte dort gelebt, die Millionärstochter, mit der ich Pferd spielte. Swimmingpool und hochmoderner Bungalow, das war schon sehr exotisch in dieser biederen Straße. In ihrem Garten stand ein Autowrack, das wir bemalen durften. Inas älterer Bruder hatte mich einst geohrfeigt, weil ich nicht in seinem Sinn die Farben aufgetragen hatte.

Haus Nummer 17: Jörg, er war oft Opfer meiner Launen. Wenn er mich von Zuhause zum Spielen abholen wollte, genügte ein Blick von mir als Ausdruck meiner miesen Stimmung …. und er zog wortlos davon. Später, viel später, vielleicht waren wir zehn Jahre alt, testeten wir uns im Gebüsch des Hinterlandes im Knutschen. Unsere Münder, geformt wie bei Spitzmäusen die Schnauzen, berührten sich hauchzart.

Haus Nr. 11: Jetzt erreichten wir die Mauern, die siebzehn Jahre lang mein Weinen und Lachen eingefangen haben, neunzig Quadratmeter Heimat, äußerlich unverändert. Vermutlich gab es immer noch diese steile Holztreppe, die direkt vom Esszimmer in den ersten Stock führte. Ob wohl immer noch eine Tür diesen Treppenaufgang vom Esszimmer trennte?

Die Stufen waren zu meiner Zeit mit einem grünlichen Teppichläufer belegt, der in den Kanten mit messingfarbenen Stangen gehalten wurde. Dieses System erwies sich mehrmals als eine sehr schlüpfrige Lösung. Die Stangen lösten sich, wenn wir Kinder die Treppe runter liefen. Wie oft bin ich dieses Höllenteil hinuntergefallen, vorzugsweise dann, wenn ich in den Händen einen Legokasten trug? Mit einem Knall landete ich unten an der Esszimmertür! Legosteine hinterließen ihre Abdrücke schmerzhaft in meinen Handballen.

 

Vor meinem inneren Auge erschien mir mein Zimmerchen mit den Dachschrägen. In den 70er Jahren bot eine knallgelbe, blumig gemusterte Tapete den Hintergrund für Pferdeposter und David Cassidy.

Von meinem Fenster aus konnte ich in den schmalen, langen Garten, über eine Teppichstange hinweg, auf den dahinter liegenden kleinen Bungalow schauen. Dort lebte Klaus. Ich lieferte ihm quasi seine Beine, denn er hatte Muskelschwund, hatte nie Laufen können. So raste ich mit ihm im Rollstuhl durch die Straßen meiner Stadt, immer einen Schabernack mit den staunenden Passanten treibend. Im Slalom umfuhren wir sie, oder wir taten so, als ob wir uns fürchterlich stritten, was für Kopfschütteln sorgte.

Von der Katze, die Johannisbeeren klaute, erzählte das Haus Nummer 9. Die aus meinem damaligen Blickwinkel uralte Nachbarin behauptete, dass unsere Pussy Geschmack an diesen Früchten gefunden hätte. Sie wollte wahrhaftig gesehen haben, wie auf jedem Eckzahn eine Johannesbeere steckte. Manchmal fielen Schüsse, jemand versuchte mit seinem Luftgewehr die Beeren klauende Katze zu verscheuchen.

Einige Jahre später ermutigten wir unsere Dackeldame Buffy, die Maulwurfshaufen in unserem Rasen aufzubuddeln, um die unterirdischen Bewohner zum Umzug zu bewegen. Das gelang dem Hund prächtig. Schon bald wölbten sich graue Erdhaufen auf dem Grundstück des Hauses Nr. 9.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, doch es waren wohl nur zwei Minuten gewesen, erreichten mein Mann und ich den Anfang meiner Straße, die Hausnummer 1.

Der Anblick des Seniorenheims holte mich abrupt aus meiner Versunkenheit heraus. Hier stand nämlich früher Detlefs Zuhause. Er war mein kleiner Freund für die ruhigen Spiele. Seine Heimat ist vor vielen Jahren abgerissen worden.

In unserem Auto transportierten wir einen schriftlichen Nachlass, an dessen Entdeckung ich mich erst drei Jahre später herantraute. Langsam begann ich zu erahnen, welche Werte er barg. Keine materiellen Werte, sondern emotionale.

Die Dokumente und Zeitzeugnisse, einige über hundert Jahre alt, bestehen aus gesammelten Zeitungsausschnitten, Fotos, gelblich oder schwarz-weiß, manche winzig klein, nicht größer als zwei mal zwei Zentimeter; Briefe an Angehörige und Freunde, an Behörden, von Behörden, Notizen, Schulhefte. Der vergilbte Papierwust erzählt von Liebe, Kummer, Freude, Hass, Geburten, Tod, Armut, Nazis, Krieg, Hunger, Reichtum, Stolz und Demut, Depression und Hoffnung.

Der vorletzte Hilferuf

Weiße Wolken zogen in hoher Geschwindigkeit über mich hinweg. Seit Tagen hatte es im Westen Nordrhein-Westfalens heftige Unwetter gegeben. Diese himmlischen Kapriolen ähnelten meinem Gemütszustand. Es war früher Nachmittag an diesem 02. Juni 2008. Ich raste von Köln nach Oldenburg, nahm die A3, A2 und dann die A 31, und schließlich bei Leer, Ostfriesland, wo meine Schwiegereltern begraben lagen, die A 29.

Was würde mich da wieder erwarten, zu Hause, im Heynesweg, fragte ich mich. Meine Mutter hatte am Vormittag einen Notruf abgesetzt.

„Tini, bitte komm‘ und hilf mir. Ich habe so schlimme Schmerzen. Heiner hat schon im Krankenhaus Westerstede angerufen. Die wissen Bescheid. Ich soll mich in der Notaufnahme melden.“ Sie schluchzte, ihre Stimme war brüchig.

„Ja, natürlich. Ich muss hier nur noch einiges organisieren.“ „Einiges“, das waren meine fünfzehnjährige Tochter Cora, Claus, mein Mann, und Welpe Sandy.

Nun fuhr ich in meine Heimat, an grasendem Buntvieh vorbei, das schwarz-weiß war. Oldenburger Pferde schritten über Koppeln. Gedrungene Bauernhäuser aus rotem Ziegelstein lagen verstreut über dem saftigen Land. Baumschulen am Autobahnrand präsentierten ihre Kunstobjekte: rasierte, gestutzte Nadelgehölze, kugelförmige Buchsbäume. Meterhohe, in praller Blüte stehende Rhododendren säumten die Grundstücksgrenzen.

Während ich die Ausfahrt Wechloy nahm, versuchte ich mir einen Plan zurechtzulegen, wie ich meine 83-jährige Mutter, die sich kaum bewegen konnte, ins Auto bekomme und bequem lagern kann.

Die Osteoporose hatte die Wirbelsäule peu à peu zerbröselt. Wirbel sackten zusammen, quetschten Bandscheiben ein oder brachen. Knochenzement, Titanstifte, alles erdenklich Mögliche hatte meine Mutter schon erhalten. Jedes Mal war eine OP ein Risiko, weil sie Marcumar nahm, das sie absetzen musste, nur Heparin durfte noch gespritzt werden. Die höllischen Schmerzen rührten vermutlich daher, dass bei einer OP ein Nerv mit Knochenzement einbetoniert worden war. Selbst Morphium brachte kaum Linderung.

Kurz bevor ich die Einfahrt zum Haus erreichte, das in zweiter Reihe zur Straße lag, schwirrten Gedanken, die eher Vorwürfe waren, durch meinen Kopf.

„Nur weil Mutti keinen Kontakt mehr nach draußen pflegt, muss ich aus Köln extra hierher fahren.“

Seit Vaters Tod zwei Jahre zuvor hatte sie alle Freundschaften vernachlässigt. Mein Vater, gezeichnet durch multiple zerebrale Infarkte und gegen Lebensende bettlägerig, hatte das große Glück, in seiner Elly eine aufopfernde Pflegerin zu haben – aber sie ließ auch keinen anderen ran, weil es ihr niemand recht machen konnte. Selbst in ihrer damaligen eigenen misslichen Situation kam für sie ein Pflegedienst, geschweige denn privat angeheuerte Frauen, die im Haus hätten leben können, nicht in Frage.

Ziemlich geladen stieg ich aus meinem Auto und knallte die Tür zu. Den Hausschlüssel brauchte ich nicht. Meine Mutter ließ die Eingangstür Tag und Nacht angelehnt, damit nicht nur ihre Haushaltshilfe, sondern jeder, der etwas bringen oder abholen wollte, problemlos hinein konnte. Aufstehen konnte sie nicht mehr, um die Tür zu öffnen. Allein der Gedanke, dass wildfremde und vielleicht unehrliche Zeitgenossen jederzeit ins Haus gekonnt hätten, ließ meinen Magen verkrampfen.

Ich eilte die Treppe hoch, an der noch zu Lebzeiten meines Vaters ein Treppenlift angebracht worden war. Das Haus war 1979 großzügig gebaut worden, Eingangsdiele unten und der Flurbereich oben waren überdimensional geräumig. Meine Eltern hatten sich einen Traum mit diesem Haus erfüllt. Endlich Platz!

Die Schlafzimmertür stand offen. Meine Mutter lag im Pflegebett, dessen Rückenteil hoch gestellt war.

„Da bist du ja. Wie war die Fahrt?“

„Danke. Gut.“

Sie wollte sich etwas hoch drücken und schrie vor Schmerz auf.

„Wie bekomme ich dich jetzt aus dem Bett?“

Ich ging näher zu ihr hin und schaute in ein graues, eingefallenes Gesicht. Die Nase wirkte viel zu groß. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Ihr weißes Haar war stumpf geworden.

„Da brauchst du dir jetzt keine Gedanken zu machen. Wir bekommen gleich Besuch, von Hille aus Bremen. Ich hab’ sie eingeladen. Du kannst schon mal Tee aufsetzen und schauen, ob wir noch Kekse haben.“

Ich schnappte nach Luft. Ich runzelte die Stirn, spürte meine Zornesfalte.

„Aber du musst doch ins Krankenhaus! Die warten doch.“

Wie so oft schon in meinem Leben, wenn Mutti und ich nicht einer Meinung waren, floss mir ein heißes Kribbeln durch Haut und Adern. Heiner hatte es trotz seines anstrengenden Alltags als Radiologe in Bayreuth geschafft, in Westerstede bei Oldenburg die Ärzte zu mobilisieren, dass sie unsere Mutter an diesem Tag noch aufnehmen und intensiv betreuen wollten.

Sie fügte noch hinzu: „Ich habe jetzt Appetit auf Obstsuppe, hol‘ mir bitte welche.“

Ich verstand sie nicht. Tränen der Wut füllten meine Augen. Meine Stimme wurde zittrig, als ich sagte: „Das glaube ich jetzt nicht. Ich rase hierher, um dir zu helfen, finde hier einen Haufen Elend vor – und du kommandierst mich erst mal rum?“

Wieder gellte ihr Schmerzensschrei durch das Haus. Sie fing an zu weinen. Oh, mein Gott, sie tat mir so leid!

„Ich will nicht mehr. Warum lasst ihr mich nicht einfach sterben?“

„Was soll das jetzt, Mutti? Willst du mir ein schlechtes Gewissen machen?“

Mein Tonfall erschien mir selbst unangemessen aggressiv. Ihr Weinen klang erschütternd. Ich war verzweifelt. Sollte ich sie tröstend in den Arm nehmen? Wie oft hatte ich in meinem Leben darauf vergeblich gewartet, dass meine Mutter einmal Zärtlichkeit zeigte, uns Kinder spontan umarmte? Nein, so lautete mein Entschluss, ich würde hart bleiben. Auch einen liebevollen Händedruck von mir ließ ich nicht zu.

„Um fünf Uhr fahren wir“, gab ich bekannt, „egal, ob Hille noch da ist oder nicht.“

Zur angekündigten Uhrzeit bat ich Hille um Verständnis. Sie half mir noch, Mutter ins Auto zu setzen und wir fuhren los. Es dauerte dann in der Tat, wie immer in den Notaufnahmen, Stunden, bis sie versorgt wurde. Wie immer ließ sie den Ärzten kaum eine Chance, Fragen zu stellen.

„Hören Sie mal eben zu!“, war ihr Standardsatz. Dann erzählte sie ihre Leidensgeschichte inklusive Anamnese. Nach geraumer Zeit sagte die Ärztin:

„Ich glaub', Sie brauchen mich nicht mehr. Sie wissen scheinbar selbst am besten, wie Ihnen zu helfen ist.“

„So?“ Meine Mutter verstummte. Ich schwieg.

Am nächsten Tag lag sie in einem Patientenzimmer der Notaufnahme. Ein junger Arzt kam. Ich saß am Fußende des Bettes. Wieder erhob meine Mutter den rechten Zeigefinger. Dieser Arzt war geduldiger. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass meine Mutter die Augen weit geöffnet hatte und ihr Blick ziellos durch den Raum schweifte. Ihre Worte waren undeutlich. Sie wiederholte sich. Morphium. Ich begleitete sie noch auf ein Stationszimmer, ordnete ihre Wäsche in den Schrank, schaute sie ernst an und verabschiedete mich. Drei Stunden später war ich wieder in Köln.

Köln, 6. Juni 2008

Liebe Mutti,

(…) Ich versuche seit Wochen Dich von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass Du Dir Betreuung ins Haus holst. (…) Es kann doch nicht angehen, dass Du mich aus Köln holen musst, um Ansprache und Gesellschaft zu haben? Mein Kommen war schließlich nichts anderes als die Inanspruchnahme alltäglicher Pflege, Hilfs- und Fahrdienste, die eine Dame, und bezahlt noch dazu, hätte leisten können. (…)

Ich komme Dich gerne besuchen. Aber es muss eine Lage bei Dir im Haus vorhanden sein, die es ermöglicht, dass wir zwei unkomplizierte Gespräche haben und noch einige gute, schöne Dinge tun können. (…) Ich wiederhole mein Angebot, dass ich Dir bei der Suche nach Unterstützung helfen kann.

Allein – solltest Du das leider immer noch nicht einsehen, dass das der beste Weg für Dich für ein weiteres erfreulicheres Leben ist, und dass Du damit Heiner und mir eine große Last nimmst, werde ich mich nicht imstande sehen, nach OL zu kommen, (…). Deine Mutter konnte sich das vielleicht mit Euch Schwestern erlauben – bei mir geht das nicht, auf Abruf parat zu stehen, für Dinge, die ich gar nicht machen müsste und auch nicht will.

(…) Gib mir bitte irgendwann Zeichen, wie Du Dich entscheidest, Deinen Alltag zu gestalten.

Ich wünsche Dir, dass es weiterhin voran geht mit Deiner Mobilität und die Schmerzen im Erträglichen bleiben. Liebe Grüße! Deine Tini