Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren

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Kaiserlicher Bordfotograf: Großvater Heinrich Siems

Schwalben aus Perlmutt verzieren dieses Fotoalbum

Auf einem kleinen, runden Wohnzimmertisch von Oma und Opa Siems, vor dem Blumenfenster, lagen dekorativ zwei wunderschöne große Fotoalben. Ich hielt sie im Herbst 2011 seit langer Zeit wieder in den Händen. Ihretwegen war ich zu Heiner nach Bayreuth gefahren, der die Kostbarkeiten sein Eigen nennen durfte. Obwohl ich schon seit ewigen Zeiten wusste, dass darin Heinrich Siems seine fast dreijährige Schiffsfahrt als Marinesoldat bildlich und textlich festgehalten hatte, und obwohl ich wusste, dass unser Großvater der Bordfotograf während der Ostasienreise des Prinzen Eitel Friedrich von Preußen, dem zweitältesten Sohn Kaiser Wilhelm II., war, hatte ich sie noch nie genau betrachtet, geschweige denn die handschriftlichen, akkurat auf dünnen Bleistiftlinien festgehaltenen Beschreibungen gelesen.


SMS Gneisenau


Das Schiff, mit dem der Kronprinz einen Teil seiner Weltreise unternahm, war die S.M.S. Gneisenau [‚Seiner Majestät Schiff‘, Anm. d. Autorin], das zum deutschen Ostasiengeschwader mit Stützpunkt in Tsingtau gehörte. Die Ostasienreise startete für den 20jährigen Heinrich Siems am 10.November 1910. Heinrich durfte am 7.Januar 1913 von Bord gehen, als die Gneisenau sich auf den Weg machen musste, um über Südamerika nach Deutschland zurückzukehren. Sie sollte als Kriegsschiff im Ersten Weltkrieg eingesetzt werden. Doch schon bei den Falklandinseln wurde sie von den Briten beschossen. Schließlich versenkte sich die Besatzung in aussichtsloser Lage selbst.



Würdenträger und die Elite aus Bombay empfangen Kronprinz Eitel Friedrich von Preußen, unten auf der Treppe stehend.


Heinrichs begleitender Text:

Unsere eigentliche Aufgabe, den Kronprinzen auf seiner sensationellen Weltreise zu begleiten, begann am Sonntag, 11.XII.10, sich abzuwickeln. An diesem Tage kamen im Hafen von Colombo die hohen Herrschaften zu uns an Bord. Ein blitzblankes Schiff. Paradefieber bis zum letzten Heizer. Das Achterschiff gleicht einem streng bewachten Heiligtum. Auch mir war beim Photographieren unbehaglich zu Mute. Vorgesetzte, nichts als Vorgesetzte! Der Kronprinz zeigt sich leger, nennt mich: ‚Mein Sohn!‘ Die Kronprinzessin[5] geht abends zum Antritt der Heimreise auf Dampfer „Lützow“. Wir fahren mit dem Kronprinzen nach Bombay.

Wenn man durch die Straßen von Port Aid wandert, dann sieht man Menschen aus allen möglichen Ländern. Hierauf ist alles eingestellt. Die Schwarzen sprechen einige Brocken Deutsch. Deutsches Geld wird gerne genommen. Schuhputzende Neger überall. Wenn der Fuss nicht gerade in Bewegung ist, kauert der Neger am Boden. Unversehens beginnt das Putzen. Auch in Lokalen. Die Händler treiben großen Schwindel. Nicht mehr als 30% des Preises zahlen!


Peststation

Am Morgen des 14.XII.1910 geht S.M.S. Gneisenau im weiten Hafen von Bombay vor Anker. Alle Schiffe im Hafen machen grosse Flaggenparade. Ehrenwachen an Bord. Salutschießen ohne Ende. Hohe Würdenträger kommen und gehen. Kronprinz in weisser Garde Uniform. Immer dieses verbindliche Lächeln der Berufsdiplomaten auf den Gesichtern. Ein Kunststück bei 35 Grad am frühen Morgen.

Auf Landurlaub in Yokohama lernten drei Kameraden und ich einen deutschen Arzt kennen. Wir saßen in einer Hafenbar und erzählten von unseren Erlebnissen. Der Arzt verabredete mit uns ein Zusammensein in einem sehr schönen Bungalow unweit von Yokohama. Der unverheiratete Arzt hatte zur Unterhaltung eine Anzahl Geishas kommen lassen. Meine Tischdame hieß Ina, die mir bei einem späteren Treffen, das wir verabredet hatten, eine Lichtbild schenkte.


Heinrich Siems mit „seiner“ Geisha

Bombay, 14.XII 1910 bis 4.I.1911

Geishas sind gebildete Mädchen, die von frühester Jugend an für ihren Beruf geschult werden. Auf öffentlichen und auch auf privaten Veranstaltungen. Die meisten sprechen etwas Englisch und singen und tanzen.

Deutschland hatte ein modernes Krankenhaus bauen lassen, das von den Europäern und Japanern stark in Anspruch genommen wurde. In diesem Krankenhaus war unser Gastgeber angestellt.


Die schwarzen Gesichter der Besatzung nach dem Kohletrimmen.


Die Angehörigen des Jahrgangs, die als nächste zur Entlassung in die Marine-Reserve kommen werden, zählen die Nächte bis zu diesem Ereignis. Jeden Morgen, wenn die Spielleute an Deck ‚Freut‘ Euch des Lebens‘ gespielt haben, auf den Bootsmanns-Maaten-Pfeifen der schrille Weckruf gepfiffen und anschließend gerufen wird: ‘Rise, rise‘ (sprich reiße, reiße), überall zurrt Hängematten‘ , dann ertönt das Lied der Reservisten:

‚Zum letzten Mal haben wir an Bord geschlafen, zum letzten Mal die Hängematt gezurrt. Noch drei Hurras, für unsere Kameraden, und dann geht’s wohl mit voller Fahrt nach Haus.‘

Hieran anschließend ertönt dann mit größter Lautstärke:

„Gerade noch 235 und eine schlaflose Nacht.“

Am nächsten Morgen heißt es dann ‚234‘ und so geht es weiter bis zum Tage ‚1‘, wenn nämlich am nächsten Tage die Entlassung der Reservisten erfolgt. Das ist auch so in der Heimatflotte. In außerheimischen Gewässern wird zusätzlich gesungen:

Holdrich, dann geht’s zur Heimat.

Holdrich, zur schönen Heimat!

Holdrich, dann geht’s zur Heimat.

Ich hatte im dritten Ausbildungsjahr das märchenhafte Glück, von Schanghai aus mit dem Reichspost- und Luxusdampfer „Yorck“ heimzureisen. Außer mir wurden von der „Gneisenau“ elf Besatzungsmitglieder mit diesem Dampfer in die Heimat zurückgeschickt, die längere Zeit schwer erkrankt waren und tropenunfähig geworden waren. Ich war immer gesund geblieben.

R.P.D. Yorck hat drei Fahrgastklassen. Ich war in der II. Klasse untergebracht, der Touristenklasse für Weiße. In der III. Klasse fuhren Farbige. Ich brauchte keinerlei Dienst zu machen und genoß während der 6 ½ -wöchigen Reise auf Kosten der Marineverwaltung die gleichen Vorteile und Rechte der zivilen Passagiere! Täglich sechs viel zu üppige Mahlzeiten. Dazu an jedem Tag 1l Exportbier frei. Dazu weiter die vollen Gebührnisse eines Obermaaten. Die Heimreise ging ab Shanghai über Hongkong, Bangkok, Singapoor, Penana (Malakka), durch den indischen Ozean nach Aden, Suez, Port-Said, Genua, Algier, Gibraltar, Southhampton, Rotterdam, Bremerhaven. Ich konnte in jedem Hafen an Land gehen. Zum Fotografieren bin ich während der ganzen Fahrt nicht gekommen.“


Schauturnen am Reck an Deck


Baden an Deck. Ein Sonnensegel dient als Badewanne.

Leni Siems‘ Geburtstage

Opa Heinrich Siems kannte ich nur als Rentner. Leni, meine Omi, und er wohnten in Oldenburg, in der Winkelmannstraße, in einer Drei-Zimmer-Wohnung in der zweiten Etage.

Omi hatte Geburtstag. Es war Sonnabend, der 4. Oktober. Meine Mutter half – das wurde auch von ihr erwartet– in der Küche mit. Es duftete nach frisch aufgebrühtem Filterkaffee, Apfeltorte, Frankfurter Kranz, Sahnetörtchen standen zum genüsslichen Verzehr bereit. Die Blutsverwandten meines Vaters waren allesamt süße Leckermäuler. Die Damen „zuckerten“ ihren Kaffee mit Süßstoff. Der Stubentisch wurde liebevoll gedeckt mit dem Rosenthaler „Maria Weiß“, die Spitzendecke und Serviettenringe hatte meine Omi mit ihren geschickten Händen selbst gehäkelt und gestickt.

In den tiefen, stoffbezogenen Sesseln und der dazu passenden Couch versanken die Älteren. Die Kinder der Älteren, also die Generation meines Vaters, saßen auf Stühlen, und am Katzentisch, der ebenfalls im engen Wohnzimmer Platz hatte, saßen wir Enkel.

Nach dem Kuchenschmaus, der von halb vier bis sechs Uhr genossen wurde, kamen Likörchen und Salzgebäck auf den Tisch. Für die Herren Cognac und Bier. Um viertel vor sieben war „Sportschau“- Zeit. Opa „Oldenburg“ ließ sich höchst ungern aus seinem Tagesablauf bringen. Es ging sehr geordnet zu und deshalb schauten wir alle die Bundesliga.

Omi hatte ein schmales, hellhäutiges Gesicht, das zu meiner großen Verblüffung bis ins hohe Alter von hellblondem, feinem Haar gerahmt wurde. Verblüffung deswegen, weil ich damals noch nicht wusste, dass „frau“ sich die Haare färben konnte. Meine Mutter hatte seit Anfang ihrer 40iger graues Haar.

Opas Schädel war eher rundlich, erstaunlich glatt, wenig Haare, die ebenfalls mal blond gewesen waren.

Das Ehepaar Siems war immer gut gekleidet: knielanger Rock, Bluse, oder ein feines Kleid; gräuliche Stoffhose mit Bügelfalte, weißes Oberhemd, darüber entweder eine Weste oder Strickjacke. Nie habe ich die beiden leger oder gar nachlässig angezogen gesehen. Selbst bei der Gartenarbeit nicht, den Opa sehr gut zu bestellen wusste, ob Gemüse-, Spargel- oder Blumenbeet.

 

Albert und Henny Büsing

Gute Kleidung konnten die Eltern meiner Mutter, genannt Oma und Opa „Rüdershausen“, nur zu besonderen Anlässen anziehen. Als Landwirte wäre alles andere unzweckmäßig gewesen. Ihre Körperhaltung, ihre Hände waren Spiegelbilder der harten Arbeit.

Oma Büsing war pragmatisch, durchsetzungsstark, aber fröhlich. Opa Büsing war zu Tier und Mensch gutmütig und fürsorglich, still, fast schon introvertiert. Ich bewunderte seine schlohweißen Haare, die etwas gelblich waren.

Im Sommer nahm er uns mit auf den Leiterwagen, der von der Stute Gretel gezogen wurde, zur Heuernte. Wir halfen, das Heu zu wenden, zu Haufen zusammen zu rechen und auf den Leiterwagen zu hieven. So lange er arbeiten konnte, Kühe, Schweine, Hühner, Gemüse und Obstbäume mit Henny versorgte, gab es nur Pferde, nie einen Traktor. Ein Leben wie in Bullerbü.

„Wie groß ist Opa Büsing eigentlich gewesen?“, fragte ich mich, als ich versuchte, ihn in meine Erinnerungen zurückzurufen. Ich war sechzehn, als er starb, die meiste Zeit meines Lebens hatte ich ihn aus der Kinderperspektive gesehen. Ich ging an mein Archiv, suchte den Ordner „Büsing: Dokumente und Ausweise“ und fand:


Der Stahlhelm[6], Bund der Frontsoldaten e.V., Mitgliedsbuch, Nr. 1059124; ein neun mal vierzehn Zentimeter Büchlein, in violettfarbenen, festen Karton gebunden, ausgestellt am 25.Januar 1933, verweist darauf, dass Landwirt Albert Büsing am 15.3.1922 Sturmmann im „Stahlhelm“ geworden war.

DINA 5 Format, lachsfarbener Karton, in der Mitte gefaltet zum Ausweisformat: S.A.-Ausweis, Nr. 7, linke Innenseite ein kleines Schwarz-Weiß-Foto, das Albert Büsing im dunklen Anzug mit Krawatte vor einer Hecke stehend zeigt. (…)

Einen S.A.-Ausweis, ausgestellt (…) von ‚Sturm 17‘, (…) Dienstgrad: Sturmmann, befördert am 31.7.1934; Werdegang in der Partei und in der S.A. (…) Übertritt in die S.A. R1 8.4.35 aus dem Stahlhelm Oldenburg. Vereidigt am 13.11.1934 (…).’

13,8 cm x 9,5 cm, beiger Karton: SA-Brigade Reserve 61, Bremen, Bestätigung: ‚Dem Sturmmann A. Büsing, (…) wird bestätigt, daß er berechtigt ist, den Aermelstreifen für altgediente SA-Männer gemäß Verfügung des Obersten SA-Führers Nr. 23 483 vom 9.9.1934 zu tragen und zwar 2 – 12mm breite 2 – 4mm breite Aermelstreifen. Oldenburg, den 1.11.1934. (…)’

Nirgendwo fand ich eine Angabe über seine Körpergröße. Auch nicht in seinem „Entlassungsschein“, ausgestellt am 24.März 1948, in dem die britischen Alliierten bestätigen, dass er aus dem Volkssturm entlassen ist, also eine Bestätigung über seine Entnazifizierung.


Graues Postkartenformat:

FREIE DEMOKRATISCHE PARTEI, (…), MITGLIEDSKARTE, Büsing, Albert, (…) Eintrittstag: 5.10.48. Auch die FDP verriet nicht, wie groß er war.

Endlich: Im grünen Reisepass der Bundesrepublik Deutschland steht: (…) Größe: 168 cm (…). Der Ausweis wurde am 15.März 1971 ausgestellt, als Albert Büsing 79 Jahre alt war. Es scheint, dass die Parteizugehörigkeit (in diesem Wort steckt „Hörigkeit“) für die Generation meiner Großeltern ein wichtigeres Merkmal war, als das körperliche.

Vom Glück, immer etwas auf dem Herd stehen zu haben

Auf einem grünlichen, in fleckigem Leinen gebundenen, dünnen Büchlein steht in goldenen Lettern geschrieben: „Für Küche und Haus“, für Henny Hillmer, Hamburg 1914, Mai.


Handschriftlicher Eintrag:


Wer nicht kochen kann,

Ist übel dran,

Aber wer es kann,

kriegt bald `nen Mann.

Denn so hört ich sagen,

Der Männerliebe geht durch den Magen.

Drum, so prophezei ich der geprüften Kochkünstlerin

Dass sie in diesem Jahr noch sich

Kocht in den Ehestand rein.

Diese Zeilen kam von Lotte von Jaminet aus Hamburg-Bergedorf, bei der Henny Hillmer, geboren 1894, bis 1917 eine sogenannte Jungmädchenzeit absolvierte, in der das Erlernen von Haushaltsführung und Kochen im Mittelpunkt standen.

Oma Büsing und Frau v. Jaminet entwickelten ein freundschaftliches Verhältnis. Die wirtschaftliche Stellung der Familien von Jaminet und Büsing vertauschte sich im Zweiten Weltkrieg. Hinzu kam, dass die von Jaminets den Großteil ihres Vermögens während der Weltwirtschaftskrise 1929 verloren hatten. Die „Wohlhabenden“ waren nunmehr Oma und Opa aus Rüdershausen, die „Arme“ war Frau von Jaminet, wie ihren Briefen zu entnehmen ist.

Bergedorf, den 15. Dez. 1947

Meine liebe Frau Büsing, aber auch noch meine liebe Henny!

(…) Ja, mein liebes Kind, ich habe so furchtbar schwere Jahre hinter mir, daß ich nicht zurückdenken mag, was ich alles mit durchmachen mußte.

Wir bekommen schon seit Monaten weder Milch, noch Eier und für Butter, da habe ich die letzten 2 Perioden gerade 50 gr. abscheuliche Margarine gekriegt. Was wir früher zu fett und zu gut gegessen haben, das müssen wir jetzt büßen. Sie haben es jetzt gut, liebe Henny, Sie sind eine reiche Frau gegen uns arme Städter. (…) Wir kaufen auch schwarz, aber das kann man auf die Dauer nicht fortsetzen, denn wenn es mir auch pekuniär ganz gut geht, aber man weiß ja nicht wie lange man noch lebt und was man noch durchmachen muss. (…) Ich lege heute 200 Mark bei, ich hoffe, daß Sie mir irgend welche Fettigkeiten, vielleicht ein bißchen Speck schicken können. Wie froh wäre ich, wenn wir mal ein ordentliches Stück Rind oder Schweinefilet im Topf hätten, aber so etwas werde ich wohl nicht mehr erleben. Sie haben ganz recht, man muß sich zu Tode wundern, wo all die Sachen hinkommen, die die Bauern abliefern müssen, wir Städter werden hiervon nichts gewahr, das geht wohl mit dem Flugzeug übers Meer und die da oben an der Spitze sitzen, denen geht nichts ab.

(…) Ich habe nur noch einen Wunsch, daß ich bald zu meinem lieben Mann und meinem lieben Kind komme [beide waren schon verstorben, Anm. d. Autorin], so ist das Leben unerträglich.


Bergedorf, 11.3.48

Meine liebe Henny,

nun komme ich endlich dazu Ihnen nochmals herzlichst zu danken für all das Liebe und Schöne was Sie mir eingepackt hatten und was mir die liebe Elisabeth mitbrachte. Ich bekam ordentlich das Zittern als ich die herrlichen Sachen sah, ich konnte mich nicht satt genug sehen an all dem Guten. Aber nun habe ich alles gut eingeweckt, auch die Wurst und die Schweinerippchen, denn nun muß es noch lange vorhalten. Zu den Rippchen hatte ich mir Wurzeln [Karotten, Anm. der Autorin] geschrappt und alles so portionsweise in ein Glas getan, so habe ich noch lange Freude an Ihren schönen Sachen und denke noch oft in Dankbarkeit an meine liebe Henny zurück. Das Schönste von Allem war natürlich die Sandtorte und der große Schweinenacken, mir blieb sozusagen die Spucke weg als ich das herrliche Stück sah.

(…) Was müssen Sie alle doch so zufrieden und so glücklich sein, wo Sie so im Vollen drin sitzen, alles haben, während der halbe Erdball hungert. Dazu die schönen Mädchen, ich kenne zwar nur Alice und Elisabeth, aber die beiden anderen werden wohl ebenso schön und tüchtig sein und klug und tüchtig in ihrem Beruf, sodaß sie gar keine Sorgen um Ihre Kinder zu haben brauchen. Elisabeth hat mir besonders gut gefallen, klug und gescheit, und überall weiß sie Bescheid, in allen Sätteln ist sie sicher und kann mitreden. Ich gäbe was darum, wenn ich solch ein liebes Menschenkind um mich hätte, dann wollte ich wieder aufatmen, dann würde ich auch wieder gesund, so bin ich auch nur ein halber Mensch. (…)

Gruß und Dank von Ihrer Lotte von Jaminet

Ein Brief von Ellis ältester Schwester Alice vermittelt, dass zur Diphterieerkrankung meiner Mutter kurz nach Kriegsende noch schlechte Verpflegung hinzukam.


(….) denn es ist augenblicklich sehr schlecht mit der Ernährung, es gibt zu wenig Brot, wie es mit den Selbstversorgern wird, wissen wir noch nicht, Mehl gibt es überhaupt nicht wieder. Liebe Elly, das Brot, was Mutti Dir schmiert, ißt DU doch auf? Daß Du ja nichts verschenkst, (…). Unsere Hühner legen fast garnicht mehr ein Ei am Tage, die Gänse legen auch noch nicht. Ja, das ist auch nicht zu verwundern, die Tiere bekommen ja nichts, es sieht im großen Ganzen traurig aus. Demnächst bekommen wir auch noch Flüchtlinge, das ist das Schlimmste und die sollen wir auch noch mit ernähren, und wir haben nicht mehr Kartoffeln. (…). Ich habe mich bemüht wegen Kaffeebohnen, es wird mir wohl nicht gelingen.(…)


Schmackhafte Grüße aus der Heimat an einen hungrigen Soldaten:

Freitag, den 28.Juli 1944

Mein lieber Hans Jürgen!

(…) Es ist schade, daß wir Dir zur Wiederherstellung Deines körperlichen Normalgewichts nichts senden können. Aber wenn, wie Du schreibst, bei Euch die Verpflegung immer noch gut ist, dann wirst Du die verlorenen Pfunde sowieso wieder zunehmen.

(…) Sie [Mutti] hat sonst immer noch flott mit dem Einmachen zu tun. Unser Garten liefert hierfür in diesem Jahre wieder recht viel. Seit 14 Tagen essen wir regelmäßig neue Kartoffeln. Gestern Abend sagten wir noch, als wir eine große Portion Bratkartoffeln mit Salat auf dem Tisch hatten, wenn unser Hans-Jürgen doch daran teilnehmen konnte. Dein Vater

Dienstag, 1. August 1944

Mein lieber Hans Jürgen!

(…) Himbeeren, Johannesbeeren und Stachelbeeren sind kaum noch im Garten zu finden. Mutti hat radikale Ernte gehalten und alles eingekocht. Mein Rundgang durch den Garten ist daher zunächst nicht mehr so angenehm für meinen Gaumen. Bald kommt aber das erste Obst und dann kann der tägliche Spaziergang mangs den Delikatessen wieder ausgeführt werden. (…) So gibt es immer etwas zu erledigen. Ist es nicht ein Segen, daß wir alle viel zu tun haben? Dann kommen einem nicht unnütze Gedanken. Unangenehm ist die Zeit am Abend vor dem Einschlafen. Wenn man dann zur Ruhe kommt, denkt man nach und fragt man nach unserm Jungen, der ferne im Osten ist. Vater

Hans-Jürgens „normale“ Zeiten
Wunsch und Wirklichkeit

Mein Bruder und ich sind mit zwei Aussagen über unseren Großvater väterlicherseits groß geworden:

1. Unser Vater hatte vor, Jura zu studieren, was ihm sein Vater aber versagt habe. Er musste in Oldenburg bleiben und zusehen, was er dort lernen konnte. Deshalb sei unser Vater Lehrer geworden.

2. Heinrich Siems wollte meine Mutter nicht zur Schwiegertochter und habe das „Du“ gegenüber ihren Eltern abgelehnt. Grund: Bauern seien seiner und seiner Kinder nicht würdig.

Zur ersten Wahrheit (Der zweiten widmet sich das Kapitel „Die Suche nach der Frau“):


Zeitungsausschnitt vom 14. März, 1940, NordWest Zeitung, Oldenburg:

Abschied von der Schule . Am Staatlichen Gymnasium zu Oldenburg fand die feierliche Verabschiedung der diesjährigen Abiturienten statt. (…) Die Namen der Abiturienten, denen das Reifezeugnis ausgehändigt wurde, sind (in Klammern der gewählte Beruf) ….Hans-Jürgen Siems (Jura)

Ein Brief meines Großvaters Heinrich Siems an seinen Sohn, stationiert in Kopenhagen, verrät:


3.September 1941

Mein lieber Hans-Jürgen!

(…) Daß Du Dich in der Berufswahl endgültig für ein Jurastudium entschieden hast, hat uns sehr gefreut. Auch daß Du nicht zur höheren Militärverwaltung gehen möchtest, ist uns natürlich durchaus recht.

 

(…) Eine sehr große Portion Glück muß der Soldat eben in allen Lebenslagen haben, wenn er etwas erreichen und werden will. Ich bin aber der Meinung, daß Du es durchaus nicht als besonderes Pech anzusehen brauchst, wenn Du jetzt nicht an der Front stehen kannst und auf die dort bestehenden besseren Aussichten verzichten mußt.

(…) Also, lieber Hans-Jürgen, wir sind uns vollkommen einig. Ich weiß, daß Du Dein Ziel erreichen wirst. Dann beginnt für Dich eine Zukunft, die Dir sehr viel geben und bieten wird, und in der Du nicht nur eine volle Befriedigung, sondern auch die Grundlage für ein glückliches Dasein finden kannst. Dein Vater


Wehnen, Dienstag, den 12. September 1944

Mein lieber Hans Jürgen!

(…) Die von Dir geübte Geduld mit den Luftwaffenhelfern beweist tatsächlich, daß Du ein „primarer“ Lehrer sein würdest, wie Albert Brüning Dir das vor langen Jahren schon einmal bescheinigte. Also, wie wäre es? Daß Du ein ausgezeichneter Jurist zu werden versprichst, davon bin ich restlos überzeugt, und ich glaube, daß Deine guten Eigenschaften für einen Paukerberuf mindestens den gleichen Wert für den Rechtswahrerberuf haben. Ich schreibe darüber, obgleich ich weiß, daß diese Gedanken völlig fehl am Platze sind. (…) Dein Vater


Mein Vater war sogar in Jena fernimmatrikuliert für Jura. Nicht zuletzt die Tatsache, dass Jena nach Kriegsende in der russischen Besatzungszone lag, wird ein Grund gewesen sein, dass unser Vater etwas anderes lernen musste.

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