Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren

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Der letzte Hilferuf

Am 30. Juni 2008 rief mich meine Mutter von zu Hause wieder an, in Tränen aufgelöst, sie wolle nach Bayreuth, weil mein Bruder dort bei einem Kollegen im Krankenhaus eine weitere OP organisiert habe.

Ich möge sie doch bitte in Oldenburg abholen und dann nach Bayreuth fahren.

Ich erinnerte sie an meinen letzten Besuch und an meinen Brief.

Ich verweigerte meine Dienste.

Ein Bekannter fuhr sie schließlich hin.

Vier Tage später verstarb meine Mutter (in Bayreuth). Ich habe nicht mehr mit ihr reden können.

Dies war der „Gipfel“ unserer Mutter-Tochter-Beziehung.

Der rote Ordner

„An deiner Stelle würde ich es nicht tun“, warnte mich mein Bruder schon kurz nach dem Tod unserer Mutter, als ich ihm erzählt hatte, dass es einen Ordner gäbe, in dem sie die Korrespondenz zwischen ihr, meinem Vater und mir während meiner Pubertät aufbewahrt hatte. Heiner wollte sicherlich verhindern, dass ich beim Lesen Geister weckte, die mich piesacken könnten.

Erst drei Jahre später schlug ich den roten Ordner auf, in der Hoffnung, endlich Klarheit zu erhalten und Gründe zu finden, warum Mutter und ich, zum Teil auch mein Vater und ich, so gravierend aneinander vorbei gefühlt und gelebt hatten.

Ich saß an meinem Arbeitsplatz zu Hause und schaute in einen stürmischen und verregneten Nachmittag hinaus. Auf meinem Schreibtisch lagen verteilt einige handgeschriebene Briefe, die meisten von meiner Mutter mit blauem Kugelschreiber, manchmal mit Bleistift auf gewöhnlichem, karierten oder linierten Papier geschrieben. Ihre weiche Handschrift stand für mich schon immer im Widerspruch zu ihrem pragmatischen Verhalten.

„Das gibt es nicht!“, entfuhr es mir laut. Ich starrte auf einen Fetzen Papier. Der mit Bleistift geschriebene Inhalt verriet mir, dass ich damals siebzehn gewesen war:

„Tini, bevor Du Dich mit Th. wieder triffst, überlege Dir gut, was zu tun ist. Den Schutz, den Du gestern offensichtlich genommen hast (Reste in der Hose), reicht todsicher nicht aus, um das Schlimmste zu verhüten. Entweder Du widerstehst ihm in einer Form, die risikolos bleibt oder Dein Weg ist wie bei allen anderen Mädchen zum Frauenarzt. – Wähle gut, Du weißt, was ich damit meine. Mutti

P.S: Ich meine es in jeder Form gut. Mache was aus Deiner Jugend. Bleibe das Mädchen, was Du eigentlich im Grunde immer geblieben bist. Werde kein Dutzendmensch!

Ich hatte verdrängt, wie kontrolliert ich zu Hause lebte. Und mit jedem Brief, jeder Zeile, jedem Wort, pirschte sich die Erinnerung heran, sie bedrohte mich, machte mich schwindelig, würgte mich. Gleichwohl musste ich als über Fünfzigjährige oft lachen über so manche Ausrede, die mir als Teenager eingefallen war.

Wie jedes Kind konnte auch ich meine Eltern nur als Eltern erleben, nicht als Menschen, die ein Leben vor ihren Kindern hatten. Die wenigen Anekdoten, die sie erzählten, ergaben kein vollständiges Bild. Mit dem Nachlass an Ordnern und Kartons hatte ich die Gelegenheit erhalten, Briefe zu lesen, als sie junge Menschen gewesen waren. Ich wagte das Abenteuer, was mir zu Anfang gar nicht so bewusst war, in die Vergangenheit meiner Eltern und ihrer Eltern hinab zu tauchen. Mit jedem Dokument, das sie mir hinterlassen hatten, lüftete sich Stück für Stück ein Schleier der Unkenntnis. Und was ich heraufholte, ließ mir so manches Mal den Mund offen stehen. Ich trat in einen inneren Dialog mit ihnen. Endlich fand ich Erklärungen.

Der Traum

Köln, 20. April 2012: Ich liege auf dem Rücken, die Daunendecke bis zum Kinn hochgezogen, meine Füße schauen unten hervor. Soeben hatte ich im Traum eine Auseinandersetzung mit meinem Vater.

Ich sitze in Oldenburg, Heynesweg, am Esszimmertisch. Es ist grell um mich herum.

„Wie lange musst du noch schreiben, Tini?“, fragt er mich.

„Keine Ahnung, es gibt so viel zu erzählen.“

„Aber du musst jetzt fertig werden.“

Vati sitzt mir gegenüber. Er ist noch nicht so alt, wie zu dem Zeitpunkt, als er starb, vierundachtzigjährig. Er hat noch Geheimratsecken, und einen klaren Blick. Am Ende seines Lebens war dieser wässrig verschwommen, suchend. Meistens schlief er. Die Haare waren gänzlich verschwunden und rosablasse Kopfhaut schimmerte im Licht der Nachttischlampe.

Im Traum weise ich mit dem Zeigefinger auf mein Archiv im Arbeitszimmer in Köln, sitze dabei aber in Oldenburg.

„Weißt du, wie viele Briefe darin liegen?“, frage ich ihn mit erregter Stimme. „Ihr habt sie mir alle hinterlassen! Doch sicherlich mit Absicht? Ich muss doch alles erzählen, dies ist meine Aufgabe, die ihr mir hinterlassen habt.“

„Hör auf damit“, echauffiert sich mein Vater. „Du willst mich doch nur bloßstellen!“

„Ich kann machen, was ich will, hörst du? Das ist mein Leben!“, meckere ich zurück.

Vom „positiven Denken“ und der „Notwendigkeit“

„Wenn du doch nur mal positiver denken könntest, dann würde dir vieles leichter fallen.“ Frühjahr 2006: Ich war mal wieder in Oldenburg.

„Es gibt kein positives Denken“, antwortete mir meine Mutter. Wir saßen im Wohnzimmer, sie auf dem Zweiersofa, ich im Sessel. Mein Vater lag im ersten Stock in seinem Pflegebett.

Meine Mutter hatte ihre Beine übereinander geschlagen und wippte mit dem oberen unentwegt, auf und nieder, auf und nieder. Ein Haarnetz zähmte ihr schlohweißes Haar, das sie an den Schläfen, direkt oberhalb der Ohren, mit Haarklemmen festgemacht hatte. Muttis aschfahlen Wangen waren eingefallen, ihre Nase stand dominant zwischen den ausgeprägten Wangenknochen. Der Mund schmal und blass, ihr Blick war gesenkt, die Brillengläser im goldfarbenen Gestell gräulich getönt.

Die Sonne schien hell durch die zimmerhohen Fenster in diesen sechzig Quadratmeter großen Raum. Mein Blick hinaus, über die von mir wenig geliebten weiß und rot blühenden Alpenveilchen auf der Fensterbank, erfreute sich an den hellblauen Perlhyazinthen, den ersten Glockenblumen und Tulpen. Der Rasen war nach hinten hinaus eingefriedet von einem einige Meter hohen Rhododendronwall. Den „grünen“ Daumen hatte meine Mutter in der Tat. Sie und mein Vater – er jedoch gezwungenermaßen - hatten Jahrzehnte lang viel Arbeit investiert. Aber sie wurden jedes Frühjahr und jeden Sommer von ihrem selbst angelegten Paradies belohnt.

An diesem Aprilwochenende 2006 fiel mir zum ersten Mal auf, dass das Unkraut zwischen den knorrigen Rosenpflanzen wucherte. Der Rasen, sonst auch im Winter ein grüner Flauschteppich, war fleckig geworden, Maulwürfe hatten unter ihm ihr neues Zuhause gefunden.

Wir warteten auf die Geschwister meines Vaters und den Schwager.

„Mutti“, hatte ich bei meinem Besuch im Februar davor gesagt, „ich möchte dich bitten zu akzeptieren, dass Enno, Lore und Hermann Papi besuchen kommen können. Ich habe mit Papi gesprochen. Er möchte das auch. Wer weiß, ob es nicht die letzte Möglichkeit ist.“

Mir standen die Tränen in den Augen. Ich wünschte mir nüchterner zu sein. Meine Mutter zuckte nur kurz mit den Schultern und sagte: „Na, dann.“

„Mann, bist du verbittert! Natürlich gibt es positives Denken!“, empörte ich mich während meines Aprilbesuchs. Ich erhob mich vom Sessel und fühlte wieder diese Ohnmacht in mir, wie schon so oft, wenn sie und ich zusammen waren.

„Hat dir in deinem Leben eigentlich irgendetwas Spaß gemacht, also, ich meine, so richtig Freude, dass dein Herz hüpfte?“

„Nun hör mal eben zu!“

„Wie bitte? Wer spricht da?“

„Ich.“

„Mutti?“

„Ja.“

„Quatsch. Wo sollst du denn sein?“

„Ich bin überall.“

„Klar! Wie geht es dir? – Entschuldigung, wie soll es einem in deinem Zustand schon gehen?“

„Schmerzfrei. Aber darum geht es nicht.“

„Warum dann, Mutti?

„Ich will deine Aufarbeitung nicht unkommentiert lassen!“

„Ach, Mutti, selbst jetzt mischt du dich ein.- Na gut, ich wiederhole meine Frage von damals: Hat dir im Leben irgendetwas wirklich Spaß gemacht oder war alles nur….“

„…eine Notwendigkeit. Dieses Wort kennst du ja schon, Tini.“

„Allerdings. Zur Genüge. Man muss etwas tun, um eine Not zu wenden.“

„Genau. Meine Arbeit als Medizinisch Technische Angestellte im Landeshygieneinstitut war meine Erfüllung. Obwohl - weißt du eigentlich, dass ich nebenbei noch während der Kriegsjahre für das Abitur lernte, um Medizin studieren zu können? Meine Eltern hatten mir den Besuch eines Gymnasiums nicht erlaubt.“

„Aus den Briefen zwischen dir und deinem Jan habe ich es herausgelesen. Mutti, Respekt. Du hast dich von den Machoworten dieses Jan nicht beeindrucken lassen, wie überhaupt nicht von den Jungs, die damals von den Mädchen die übliche Frauenrolle erwarteten. Du warst mächtig emanzipiert, und das schon mit 17, 18 Jahren.“

Über die Rollenverteilung von Männern und Frauen


Jan Claus, 21 Jahre alt, schrieb an die siebzehnjährige Elisabeth:


Brandenburg – Briest, den 23.3.1943

Liebe Elli!

(…) Im Augenblick bin ich nicht mal Soldat, ich zeichne von früh bis spät, wenn ich nicht weiterkomme, hole ich mir Rat bei einem älteren Kameraden, von dem ich schon viel gelernt habe. Wir arbeiten zu dritt in einem Atelier, das uns der General für unsere Zwecke zur Verfügung gestellt hat.

 

Hans hatte vor einigen Tagen eine größere Arbeit beendet und abgeliefert. Der Alte war begeistert und hat ihm alle Arme voll Flaschen gesteckt, Wein, Sekt und Kognac (habe ich Sekt richtig geschrieben?) Na, ist ja egal, es wurde jedenfalls sehr schön, das Zeug schmeckte uns großartig und wir waren bald in guter Stimmung. Dann wurden wir lustig und erzählten uns was. Thema: Frauen. Nicht etwa so, wie Soldaten im Allgemeinen über sie reden, sondern ganz anders. ‚Wie soll ein Mädchen sein, das man heiratet?’ Hans ist schon über 30 Jahre alt und seit 7 Jahren verheiratet und hat zwei Kinder. Erich ist erst seit 3 Wochen glücklicher Ehemann, er ist 22 Jahre alt, darum ist es kein Wunder, daß er von seiner Frau begeistert ist.

Doch Hans liebt seine Frau auch, und wie! Das war es, was mich erstaunen und fragen ließ: ‚Nun, wie muß ein Mädchen sein, das man heiratet?’ Hans beschrieb seine Frau, wie sie war, wie sie sich änderte, und wie sie ist. Erich kennt sein Mädchen schon viele Jahre und erzählte von ihr.

Wir verglichen die Frauen, ließen alles Unwichtige weg und kamen dann darauf, wie Frauen sein müssen, mit denen man eine glückliche Ehe führen kann. Sie muß so sein: sauber, treu und fraulich. Findest Du es sonderbar, daß diese Eigenschaften die Wichtigsten sind?

Die meisten Männer heiraten nämlich aus ganz anderen Gesichtspunkten. Der eine heiratet eine, mit der er sich sehen lassen kann. Sich sehen lassen, das ist ihm das Wichtigste, warum? Weil er grauslich eitel ist. Fragt man ihn dann, ob er sich in diesem Modepüppchen einmal die Mutter seiner Kinder vorstellen kann, dann macht er vor Erstaunen den Mund auf und vergißt vor Schreck zu antworten. Er hat ja noch nicht einmal darüber nachgedacht, daß sein Modepüppchen ja nicht nur Modepüppchen sein soll, sondern daß sie als Frau auch andere Aufgaben hat.




Mit dem will ich aber nicht gesagt haben, daß ein Modepüppchen nicht auch sauber, treu und fraulich sein kann, es gibt ja auch solche, aber dann sind es eben diese drei Eigenschaften das Beste an ihr.

Siehst Du Elli, so haben Hans, Erich und ich über die Frauen nachgedacht, und ich war ganz ihrer Meinung. (…)

Sei ganz herzlich gegrüsst von Deinem Jan

P.s.: Findest Du es „fraulich“, lebende Mäuse zu secieren?

Brandenburg-Briest, den 27.Januar 1944

Liebe sonderbare Elli!

Es hat mich sehr gefreut, daß Du mir davon schreibst, wenn Du Dir Gedanken machst. Darum sollst Du auch wissen, wie ich darüber und über Dich denke.

Es ist zwar vernünftig, wenn man danach fragt: ‚Was ist sie, was kann sie und was hat sie.’ Doch Du bist ja Gott sei Dank genauso unvernünftig wie ich. Du fragst ja auch nicht, was ich kann, was ich bin und was ich hab’, oder doch? Na, was kann er denn? Allenfalls zeichnen. Was ist er denn? Ein großer Junge. Und was hat er? Seine Elli. Frag’ mal ein anderes Mädchen, ob ihr das genügen würde. Es ist mir bestimmt nicht gleichgültig, ob Deine Familie gesund ist oder nicht, ob sie fidel ist oder missmutig. Die Hauptsache ist doch, daß Du mir gefällst, und ebenso wichtig, daß ich Dir gefalle. (Was Dir an mir gefällt, ist mir egal, Hauptsache, es ist so.)

Nun sieh’ aber auch zu, Elli, daß Du mir weiterhin gefällst. Was Du Dir da mit Deinem Beruf als Ärztin ausgedacht hast, mag ja ganz schön sein. Nimm aber `mal das Wort ‚Beruf’ genau, es kommt doch von „Berufung“. Fühlst Du Dich berufen Ärztin zu werden? Dann nimm es auch ernst damit. Wenn Du aber eine Frau werden willst, dann mußt Du es genauso ernst nehmen. Glaube nicht, daß es leichter ist, einem Mann eine gute Frau zu sein, als den Beruf einer Ärztin auszuüben. Frau zu sein kann viel schwerer, aber auch viel schöner sein.

Es mag ja Mädchen geben, die sich damit abgefunden haben, daß es eben zu viele Mädchen gibt. Die verzichten dann ganz darauf Frau zu werden, sie glauben oder reden sich ein, es sei ihre Berufung, ihre Aufgabe im Leben, Arzt zu sein. Sie lernen, streben und schaffen es dann auch, und ähneln dabei dann so sehr den Männern, die diesen Beruf ausüben, daß sie nie mehr eine Frau sein könnten, die ihn in allem ergänzt und zu ihm gehört.

Ich weiß, daß Du nicht so bist, Elli, ich kenne Dich ja. Du wärst zu stolz, um zu warten, bis irgendjemand kommt, um Dich zu heiraten. Du wolltest unabhängig sein, einen Weg vor Dir wissen und vorwärts kommen. Es freut mich, daß Du so bist, aber ich glaube, Dein Beruf macht Dich langsam zu dieser Sorte von Frauen, die später nicht mehr haben, was mir an Frauen liebenswert erscheint. Wenn Du in einigen Jahren einmal heiratest, dann bist Du nicht mehr meine Elli von heute.

Es gefällt mir ja alles an Dir, Elli, auch Deine Jungenhaftigkeit. Trage von mir aus Stiefel, fahre Motorrad, reise, jage oder was sonst Spaß macht, Du kannst ja trotzdem, oder gerade deswegen eine nette kleine Frau werden.

Aber Dein Streben, Dein Lernen, Dein Gelehrt-Sein-Wollen, das gefällt mir nicht und imponiert mir nicht mal. Es ist zwar nicht schön, eine dumme Frau zu haben, aber es ist noch viel weniger schön, mit einer gelehrten Frau leben zu müssen. Gelehrtsein hat gar nichts mit Klugheit zu tun, und klug bist Du. Klüger wirst Du nicht durch lernen, indem Du Deine ganze Freizeit über mit Büchern und Schulaufgaben verbringst. Klüger wird man durch Nachdenken. Lies ab und zu ein gutes Buch von einem klugen Mann, der das, was er dachte in seinem Buch als Roman erzählt hat und versuche es ihm nachzudenken. Sieh Dir schöne Theaterstücke an und überlege, was der Dichter drin sagen wollte. Höre gute Musik und versuche den Komponisten zu begreifen. Freue Dich über alles Schöne und Gute, dadurch wird man klug. Nicht durch den Pythagoras durch Tangens und a2 x 2ab + b2. Meine Motorkunde wird mir im Eheleben genauso wenig nützen, wie Dir Dein Latein. Natürlich bleiben und natürlich denken, das ist wichtig.

Wenn es Dir graut, lebende Mäuse zu secieren, wenn es Dich ekelt, Spucke zu untersuchen, wenn Du nicht über Dinge spottest, die mir (als Laie) heilig sind (den Medizinern nicht), solange ist es gut. Wenn Du aber durch Deinen unfraulichen Beruf soweit verdorben bist, daß Du diese natürlichen Gefühle nicht mehr hast, dann tut mir der Mann leid, der Dich heiratet und die Kinder, die Du dann nach irgendeiner Methode erziehst.

(…) Ja, Elli, vielleicht gefällt Dir der Jan gar nicht, der so redet: Lies’ Dir den Brief in Ruhe heute Abend nochmal durch, wenn Du mich jetzt nicht verstanden hast. Vielleicht bin ich zu jung, Dir zu erklären, was ich meine, vielleicht bist Du auch zu jung, um zu begreifen, was ich meine. Sicherlich merkst Du aber, was ich Dir sagen will, wenn ich es auch nicht vernünftig ausdrücken kann.

Ich danke Dir für Deinen lieben Brief und es grüsst Dich herzlich Dein ebenso sonderbarer Jan

O.U.[2], den 27.3.1944

Liebe Elli!

(…) Junge, Junge, watt mookst Du mi und Di för Sorgen!

Eigentlich wollte ich mich ja rasieren, aber das ist ja unwichtig, darum setze ich mich auf unseren einzigen Stuhl, nehme als Tisch ein Brett auf die Knie und nun kann’s Schreiben losgehen.

Es war gut, daß ich endlich aus den Kasernen von Briest rauskam. Hier habe ich meine Aufgabe und der stramme Dienst lässt mir wenig Zeit, so lange, so viel zulange über einfache Sachen nachzudenken. Wenn Du meine Briefe aus Briest nochmals in Ruhe durchliest, dann wirst Du merken, daß das ganze Geschreibsel nichts anderes ist als Eifersucht auf Deinen Beruf. Ich wollte nicht, daß Dir Dein Beruf wichtiger ist als ich, ich alter Egoist. Du gibst mir ja aber auch immer wieder Grund zur Eifersucht, wie z.B. in Deinem letzten Brief, wo Du schreibst, daß Dein Weg, techn. Assistentin zu werden, unbeirrbar und unveränderlich wäre. Das klingt ja geradezu, als wenn ich Dir ein Hindernis wäre auf diesem Wege. Was glaubst Du denn, welche komische Rolle ich in Deinem Leben spielen soll?

Du hast Recht, jetzt im Kriege hast Du in Deinem Beruf eine wichtige Aufgabe.

Auf meiner Stube sind zwei, die unterhalten sich mit ihrem wenigen Gehirn über Dinge, die sie nicht verstehen. Um sich gegenseitig zu überzeugen, schreien sie immer lauter, so daß es fast unmöglich ist, einen vernünftigen Brief zu schreiben. Ein anderer Kumpel hackt Holz, und jedes Mal, wenn er zuschlägt, hüpft meine Bank in die Höhe. Sei mir nicht böse, wenn ich mitten in diesem Brief abbreche und Dir erstmal diese Hälfte schicke.

Es geht mir gut. So früh wie in diesem Jahr war ich noch nie braun. Ich bin immer ganz verwundert, wenn ich in den Rasierspiegel schaue. (Oh ja, ich muß mich ja noch rasieren). Der frische Wind hier an der Küste, der Dienst auf den Bergen bei dem ewig blauen Himmel ist gesund und macht mir Spaß.

Sei wieder vergnügt, Elli! Dein Jan

Briefe an einen Toten

Rüdershausen, den 6.VI.44

Lieber Jan!

Schon sind wieder drei lange Wochen vergangen und ich erhielt keine Zeile von Dir. Hüllst Du Dich absichtlich in ein so geheimnisvolles Schweigen oder zwingen Dich Deine näheren Umstände dazu? Na, als Trost will ich es mal hoffen.

Wie ist es denn eigentlich mit der Invasion? Seid Ihr schon damit fertig geworden? Ich warte täglich auf den entscheidenden Schlag. Anscheinend tut uns der Engländer aber nicht den Gefallen. (…) Deine Elly

11.VII.44

Lieber Jan!

Da ich meine sämtlichen Aufgaben in der Trigonometrie nicht kann, soll die Zeit damit ausgefüllt werden, Dich doch noch mal an Deine Pflichten zu erinnern. Am Sonntag schrieb ich Dir ja schon, daß es am 11. zwei Monate her ist, wo Du die letzte Post an mich geschrieben hast. Und zwar ist das der Geburtstagsbrief, wo Du mir viel Glück im Beruf wünschst. Hätte ich Dich in dem Moment, als ich das las, hier gehabt, hättest Du eine saftige Ohrfeige gekriegt. – Sei doch nicht immer so häßlich zu mir, Jan. (…)

Alle Deine schönen Zeichnungen, die ja zum Teil schon einen Rahmen bekommen hatten, habe ich wieder entrahmt und haben nun alle einen Ehrenplatz eingenommen. Erst jetzt kommt es mir richtig zum Bewußtsein, was ich in den ersten Monaten von Dir gehabt habe. (…) Lieber Jan, wie lange muß ich noch auf einen Brief warten? Tue mir doch den einen Gefallen und lasse von Dir hören. Auch wenn es schwer ist. (…) Deine Elly

24.VII.44

Lieber Jan!

(…) Ich warte immer noch auf einen Gruß von Dir, den ich doch hoffentlich bald erhalte? Ich grüße Dich ganz herzlich Deine Elly


Jan Claus‘ Vater wurde am 11. Juli 1944 benachrichtigt, dass sein Sohn seit dem 11. Juni vermisst wurde. Die Briefe meiner Mutter an Jan wurden an sie zurück geschickt.


Welche Rolle der Frau im Ersten Weltkrieg zugedacht war, verrät nachstehende Feldpostkarte, die meine Oma Henny Büsing, geborene Hillmer, von ihrem damaligen Verehrer und zukünftigen Mann, Albert Büsing, der bei Verdun in den Gräben lag, erhalten hatte: