Nachtdenken

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From the series: Orbis Romanicus #6
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Nachtdenken
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Martina Bengert

Nachtdenken

Maurice Blanchots

„Thomas l’Obscur“

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0039-7

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Inhalt

  Für meine Mutter – Le ...

  A. Präliminarien: Tag und Nacht

  A. 1 Dunkle Nacht – andere Nacht – Nachtdenken Dunkle Nacht Die andere Nacht Nachtdenken

  A. 2 Vorgehen, Methode, Forschungsziel

  A. 3 Wahrnehmung und Tod als Leitbegriffe der Nachtspur – Soma, Selbstimplikation und Affizierung Selbstimplikation Soma und Affizierung

  B. Hauptteil

 0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen0.1 Der Kern als beigefügtes ZentrumRécit0.2 Differenzen zweier Bücher selben Titels0.3 Fokussierung: Thomas l’Obscur. Nouvelle version0.4 Makrostrukturelles

 1. Mikroskope – Berührung auf Entfernung1.1 Il y a und es gibt (Blanchot zwischen Heidegger und Levinas)Il y a und es gibtBlanchots il y a1.2 Durchkreuzte InitiationIncipit1.3 Innere Erfahrung und Transgression (Gleiten)Innere Erfahrung als TransgressionImmersion und OffenesUnter dem MikroskopRückkehr (hinter dem Mikroskop)Kreisschluss

 2. Kryptologie – Der Weg in den Ungrund2.1 Überlegungen zum Grund (Aushöhlungen)Aushöhlungen des Grundes2.2 Der Einfall der NachtAbstieg2.3 Krypta (Phantasma und Verschiebung)Die Wand der Höhle, die Wand der KryptaDie Krypta als Anti-Metapher2.4 Thomas’ Gang in die KryptaNacht-SehenDie Wunde des Denkens als ÖffnungDer Wald im AugeDer Wald in den Händen

 3. Licht-Blick – Berührung des Anderen3.1 Annäherung3.2 Der leere Blick – Faszination3.3 Zwischenleiblichkeit: Blicken und Berühren (Merleau-Ponty)Der LeibChiasmus und ZwischenleiblichkeitFleischDer phänomenologische Blick – Trennung von Auge und BlickTaktile Berührung3.4 Eigennamen: Anne und ThomasAnneThomas, der Ungläubige – JohannesperikopeThomas – ThomasevangeliumJohannes-EvangeliumEpilogBlicken und Berühren

 4. Lesen (bestialischer Worte)4.1 Die absolute Einsamkeit oder Eine monastische Leseszene unter Beobachtung4.2 Lesen als Verschlingen (Tiere I: Mantis religiosa)Mantis religiosaZu viele BlickmöglichkeitenZeichen und WortAnwesenheit4.3 Tiere II: Die Ratte4.4 Mise en abyme des Lesens4.5 Vom punctum überwältigt

 5. Katze, Seher, Medium – Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung5.1 Tiere III: Die Katze – ägyptischer TotenkultEine Katze, die keine Katze istAbstieg – Vers le milieu de la deuxième nuitKa, Ba und AchBild und Leiche: KaDoppelter TodGraben und Grübeln5.2 Versiegelung5.3 Ach – Lazarus – Mumie. Die Rückkehr des TodesThomas, Joseph und LazarusThomas und LazarusDer nach Tod riechende Lazarus

 6. Das gleißende Licht6.1 Mittagssonne6.2 Nietzsche – ewige WiederkehrChronosDer Schritt über die Wiederkehr des Gleichen hinaus6.3 Wiederholung, Stillstand und Kontinuität (Josua)Der Weg des VerschwindensAbgrund und Antlitz6.4 Tiere IV: Die SpinneDifferenz und Wiederholung

 7. Beziehungsweisen7.1 Frage und AntwortDie tiefe und die tiefste Frage oder autrui und autre7.2 Entmachtung und Entgrenzung7.3 Fragen: Der versuchte Kontakt mit dem Unmöglichen7.4 Enttäuschungen

 8. Sich vom Aussagen befreien8.1 SchreienDarstellbarkeit des SchreisSprache als Unterbrechung des SchreisSchreien als Lärmen der Tiefe8.2 Récit – Erzählen, ohne etwas zu sagen8.3 Jenseits von Pascal: Die Sogmaschine des DenkensPascal und der Abstieg in die Hölle des Denkens – AußenTiefe als Außen

 9. Leiche-Werden: Selbstähnlichkeit9.1 Das ImaginäreBild und Imaginäres9.2 Die zwei Fassungen des ImaginärenLeiche9.3 Verbotener AnblickEinsamkeitEintritt von ThomasIm anderen GartenEkelUnendliche Einsamkeit

  10. Sterben 10.1 Die Anziehung der Nacht 10.2 Sich Hin-Geben 10.3 Das Unsagbare sagen 10.4 Todesfalle: Eurydike und der Blick zurück

 11. Sprechen und gesprochen werden11.1 Die Rede des Neutrums. Blanchot – Novalis – Schlegel11.2 Das Sprechen im Modus des ‚als ob‘11.3 AnführungsstricheWeitersprechen11.4 Lupe und Spiegel11.5 Ich denke, also bin ich nicht11.6 Hymnen an die Nacht

 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse12.1 SchreitenPas – Verneinung und FortschreitenSehenHörenWahrnehmungsüberlagerungenKonstrukteBaudelaires StadtNacht ohne AnkommenNoahs Mission12.2 Gedächtnis: Warten – VergessenGedächtnis12.3 Kein Ende in Sicht: Kafkas Spur der SchamRichtung KafkaTürhüterBilderflut

  C. Schlussgedanken

  C. 1 Thomas l’Obscur lesen

  C. 2 Über Thomas l’Obscur schreiben Ausgelassenes – Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles

  DANKSAGUNG

  D. Verzeichnisse

  Literaturverzeichnis

 

  Siglenverzeichnis

Für meine Mutter – Le pas au-delà

A. Präliminarien: Tag und Nacht

A. 1 Dunkle Nacht – andere Nacht – Nachtdenken

Mit dem 2008 erschienenen Buch Tiefer als der Tag gedacht – Eine Kulturgeschichte der Nacht der Anglistin Elisabeth Bronfen1 sowie dem 2011 publizierten Buch Die Ästhetik der Nacht – Eine Kulturgeschichte2 von Heinz-Gerhard Friese liegen zwei umfangreiche aktuelle Studien vor, die einen kenntnisreichen Einblick in zahlreiche Stationen der Nacht von der Antike bis in die Moderne geben.3 Obwohl Bronfen sich in ihren Nachtbetrachtungen stark auf die englischsprachige Literatur fokussiert, umfasst ihre Kulturgeschichte auch die Bereiche des Kinos (film noir) und der europäischen Malerei. Frieses Nachtwerk widmet sich auf der Basis von Hesiods Theogonie ausgiebig den Nachtkonzepten im alten Griechenland, um sich sodann dem „Nachtleib“ und seinen Inszenierungen, z.B. in Form von Monstern und dem Motiv des literarischen Nachtmahls, zuzuwenden.

Das vorliegende Buch ist keine weitere Kulturgeschichte der Nacht, sondern konzentriert sich im Gegensatz zu motivgeschichtlichen Nachtbüchern auf die philosophisch-literarische Denkfigur der anderen Nacht in Maurice Blanchots Thomas l’Obscur. Eine solche Konzentration entspricht dem, was Blanchot in der Verschränkung von philosophischem und literarischem Schreiben als Gegenentwurf zu einem Denken über die Nacht in Gestalt eines Denkens der Nacht entwickelt. Durch die Entfaltung dieses Nachtdenkens wird Blanchots Versuch, den Tod zu schreiben, in Form eines Textkommentars nachgezeichnet.

Dunkle Nacht

Kein anderer hat wohl wie der Mystiker Johannes vom Kreuz (1542–1591) den Topos der noche oscura in der spanischen, aber auch der europäischen Literatur geprägt. Ist in einem literarischen Werk von der dunklen Nacht die Rede, verweisen die Kommentatoren bis heute zumeist auf sein Bild der noche oscura.1 Die Rezeption seiner Schriften war unter den französischen Intellektuellen Mitte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet. Blanchot weist in seinem Briefwechsel mit Pierre Madaule darauf hin, dass er von den Gedichten des Heiligen Johannes vom Kreuz (San Juan de la Cruz im Spanischen) sogar eigene Übersetzungen angefertigt habe.2 Aber auch Jacques Lacan zählt zu den Lesern San Juans, wenn er in seinem séminaire die noche oscura eine nennt, „que tout le monde lit et personne ne comprend.“3 Dieses Nicht-Verstehen-Können begründet sich ganz wesentlich in San Juans Versuch, das Unsagbare zu umkreisen und damit in einen Raum der (mystischen) Erfahrung vorzudringen, der sich dem logischen Erkennen entzieht. Auf Basis einer solchen grundlegenden Unmöglichkeit des Begreifens wird sich meine Arbeit in die dunkle Nacht und mit dieser in die andere Nacht wagen.

Dabei gäbe es scheinbar einen einfacheren und geführten Zugang zum Dunklen: In Dante Alighieris Divina Commedia findet sich der Ich-Erzähler zu Beginn des 1. Gesangs inmitten eines dunklen Waldes (selva oscura) wieder.4 Diese Metapher wurde meist als Beschreibung eines Krisenzustandes geistiger und intellektueller Dunkelheit und Orientierungslosigkeit interpretiert. Der Protagonist steht am Anfang eines Läuterungsweges, der ihn durch die verschiedenen Kreise der Hölle, des Fegefeuers bis hin ins Empyreum führen wird.

Anders als bei Dante, doch auch mit einem Läuterungsweg verbunden, verhält es sich mit der Thematik der noche oscura des heiligen Johannes vom Kreuz. In dem gleichnamigen Gedicht, vor allem in den von Johannes vom Kreuz selbst verfassten Prosakommentaren,5 ist der Weg eine Flucht, die in Überschreitung etlicher literarischer wie gesellschaftlicher Konventionen von einem weiblichen, sehnsuchtsvoll liebenden Subjekt ausgeführt wird. Die selva oscura wird ersetzt durch eine noche oscura, welche gleich mehrmals (im Sinne einer Umnachtung der Sinne und des Geistes) durchschritten werden muss, um zur Vereinigung mit dem Geliebten zu finden. Bemerkenswert vor dem Hintergrund der abendländischen Theologie und Philosophie ist die Anerkennung der Nacht als Erkenntnisgrund bzw. Erkenntnismöglichkeit, die sich gerade aus ihrem Negations- und Subversionscharakter ergibt. Aus diesem Grund scheint es angebracht, mit Bezug auf die noche oscura von einer „Nachterfahrung sui generis“ zu sprechen.6 Wie schon beispielsweise Teresa de Ávila oder Fray Luis de León vor ihm, stellt Johannes vom Kreuz den Weg hin zu Gott und die Vereinigung mit Gott als einen Stufenweg dar, der von jedem Menschen allein bewältigt werden muss und der vor allem aus einem schmerzhaften Entwerden des Ichs besteht. Doch deutlicher als bei allen anderen vor ihm und nach ihm steht die Nacht explizit im Zentrum dieses Weges.7

Das Gedicht „Noche oscura“, 1577 während einer neunmonatigen Kerkerhaft in Toledo verfasst, ist die Beschreibung eines Hinaustretens der Gott suchenden Seele in vollkommene Dunkelheit, Unwissenheit und Verlorenheit. Es schildert die Überwindung einer ersten, ‚gewöhnlichen‘ Nacht, die Johannes vom Kreuz in der Subida del Monte Carmelo, einem Prosakommentar zum Gedicht, als Finsternis identifiziert, in der die weltlichen Dingen verhaftete menschliche Seele lebt.

Das Durchleben der zweiten Nacht hingegen, der dunklen Nacht, bildet eine weitaus extremere Nachterfahrung der Seele, die einem Gefühl der vollkommenen Geworfenheit und Einsamkeit entspricht. Sie ist nicht als romantisch zu verstehen, d.h. nicht als erstrebter Einsamkeitszustand, der Erhabenes verspricht, sondern als (dreifache) absolute Negation der Sinne und des Geistes, die in ihrer Gewaltigkeit und Präsenz den erlebenden Menschen mit Angst erfüllt. Das weitere Durchschreiten dieser Negation bis zu ihrem Höhepunkt in der absoluten Leere, führt in ein Oxymoron: zur Erfahrung von Präsenz Gottes gerade in der absoluten Abwesenheit.

Als eine mögliche Spur einer unbeschreiblichen göttlichen Präsenz könnte die unerklärte plötzliche Wunde der Sprecherin des Gedichts betrachtet werden, die ihr paradoxerweise ein Windhauch zufügt und all ihre Sinne suspendiert.8 In der Kulmination des Gedichts klafft sie unvermittelt am Hals des lyrischen Ichs und manifestiert sich als Spur eines Geschehens, das selbst nicht dargestellt wird. Der Text zeigt hierin möglicherweise – in Anlehnung an Paul de Mans Auslegung der Allegorie als ein selbstreferentielles Zeichen, das auf das Scheitern jeglicher sprachlicher Ausdrucksform verweist – seine eigene Verletzlichkeit, nämlich die der Uneinholbarkeit des Sinns durch die (Nachträglichkeit und Begrenztheit der) Sprache.

Johannes vom Kreuz hat als erster spanischer Schriftsteller und Philosoph den grundlegend allegorischen Charakter der Nacht (und der Schrift) quasi als Vordenker der (Post)moderne literarisch umgesetzt, indem er in der Rede seines Gedichtes „Noche oscura“ durch mystisches Sprachspiel, wie auch in Korrelation mit dem Textkommentar, mannigfaltige Allegorien auf eine unsichtbare und unbegreifliche Nacht kreiert. Die dunkle Nacht des Johannes vom Kreuz scheint in Martin Heideggers Begriff des Existenzials wiederzukehren. Er beschreibt die Erfahrung des In-der-Welt-Seins als eine Erfahrung des „Hineingehaltenseins der Existenz in die Nacht“,9 die, so meine These, in der französischen Rezeption Heideggers und ganz besonders in Blanchots Thomas l’Obscur umgedeutet wird in ein Hinausgehaltensein der Existenz in die Nacht. In der Betonung der Nacht als gänzlich andere, jenseits einer möglichen Innerlichkeit und oppositionellen Beziehung zum Tag, denkt Maurice Blanchot die andere Nacht.

Die andere Nacht

Wie eingangs erwähnt, kannte Blanchot die Texte des Heiligen Johannes vom Kreuz. Die Tatsache, dass er San Juans Gedichte sogar selbst übersetzte, lässt sich nicht nur als Nachweis seiner profunden Textkenntnisse lesen, sondern als Zeichen größter Anerkennung:

Aminadab m’a été donné par saint Jean de la Croix que j’ai beaucoup lu jadis, traduisant même ses admirables poèmes. Aminadab est comme le gardien de l’énigme de la ‚Nuit obscure‘. J’en dirais plus, si les écrits de St Jean étaient ici pour réveiller ma mémoire. Mais tous mes livres sont dispersés comme mes textes du reste.1

Der Verweis auf Aminadab zu Beginn des oben zitierten Briefausschnitts deutet in zwei Richtungen, zum einen auf Blanchots 1942 veröffentlichten Roman Aminadab, zum anderen auf die Herkunft dieses Titels als Effekt der Lektüren mystischer Texte San Juans – Aminadab tritt als Figur in der letzten Strophe des Cántico espiritual auf. Wer er ist und ob er überhaupt eine wesenhafte Erscheinung bezeichnet, ist nicht mit Eindeutigkeit festzumachen. Wie Bernhard Teuber in seiner Auslegung des Lexems ‚Aminadab‘ zeigt, bewegen sich die Deutungsmöglichkeiten vom „Wagenlenker“ der Braut des biblischen Hohelieds, über „Satan“ und „Christus“ bis hin zu Zergliederung der Signifikanten in „a mí nada“2. Wenn Blanchot in seinem Brief an Pierre Madaule schreibt, dass Aminadab ihm von San Juan de la Cruz „gegeben“ wurde, dessen Werk er darüber hinaus aufgrund eigener Übersetzungen der – von Blanchot mit dem Adjektiv „admirables“ bewerteten – Gedichte bestens zu kennen betont, dann verdeutlicht er damit auch, dass er sich der Vielschichtigkeit dieses Namens und seiner Einbettung in eine besondere Form der christlichen Mystik bewusst ist. Dabei handelt es sich um eine Mystik, die sich sehr affirmativ der Nacht zuwendet und sie insbesondere im Gedicht „Noche oscura“ – von Blanchot in der französischen Form „Nuit obscure“ erwähnt – als Erkenntnisgrund setzt. In Aminadab sieht Blanchot den Türhüter dieser „Dunklen Nacht“ des Heiligen Johannes vom Kreuz, wobei auch an dieser Stelle die Trennung zwischen Blanchots Aminadab und der im Cántico espiritual vorkommenden Lautkette ‚Aminadab‘ nicht streng vollzogen, ja vielmehr gerade als Dopplung und Ambiguität sehr deutlich offen gelassen wird. Blanchots Verweis auf seine intensive Auseinandersetzung mit San Juan ist zudem zu entnehmen, dass sie in der Vergangenheit liegt. Da der Brief zeitlich entweder dem 30.12.1985 (Blanchots eigene Datierung auf dem Brief) oder dem 30.12.1989 (Poststempel) zuzuordnen ist3 und der Roman Aminadab 1942 ein Jahr nach der Erstfassung von Thomas l’Obscur erschien, lässt sich folgern, dass Blanchot sich schon in den Jahren vor 1942 intensiv mit der Denkfigur der noche oscura beschäftigt hat und seine denkerische Leidenschaft für die Nacht in Thomas l’Obscur, ebenso wie in Aminadab und insbesondere den frühen literaturkritischen Essays ihren Ausgang von der frühneuzeitlichen spanischen Mystik nimmt. Blanchots Denken bekennt sich zur Nacht, nicht jedoch zu Gott. In der dunklen, gottlosen Nacht aber, aus der es kein Entkommen gibt, die fasziniert ohne zu bergen, findet Blanchot eine Denkfigur, die sein Werk bis in die späten Texte durchzieht.

Denn der Tag ist für Blanchot verbunden mit Ordnung, Licht und Rationalität, mit gesetzten Aussagen und allzu festen Strukturen, wohingegen die Literatur, und insbesondere die Dichtung, ihren Ort in der Nacht als Raum des Unkontrollierbaren und Kreativen hat. Der Tag bricht an, die Nacht bricht ein. Jedoch läuft die Nacht Gefahr, gebändigt und als dichotomisches Gegenstück des Tages gedacht zu werden: sei es als ein Zustand der zu überwindenden Orientierungslosigkeit, Passivität oder Ausgesetztheit, sei es als romantischer Zufluchtsort des nach Verschmelzung mit sich und dem Universum strebenden Ichs. Eine weitere Möglichkeit der Abschwächung besteht darin, die Nacht mit Gespenstern, Monstern, Gewalt und Verdammnis zu bevölkern und dadurch ihre Leere anhand von abschreckenden Gestalten zu überdecken.

All diese Aspekte versucht Blanchot zu überschreiten, indem er die Nacht, die er auch als première nuit, als erste Nacht, bezeichnet, von einer radikaleren und absoluteren Nacht, der ‚autrenuit, abgrenzt. Die andere Nacht Blanchots bezeichnet damit explizit nicht, wie etwa bei Gérard Genette4, das Andere des Tages, sondern vielmehr das Andere der Nacht.5 Die ‚autrenuit ist folglich als eine Nacht aufzufassen, die keine Opposition im Sinne einer Dialektik zulässt und somit als radikales Außen und radikales Anderes (der Schrift oder auch des Erkennens), das kein Innen determiniert, zu verstehen ist.

 

Nur das Tagesdenken maßt sich an, die andere Nacht, die man sich gerade nicht aneignen kann, vereinnahmen zu wollen. Das Nachtdenken hingegen weiß um dieses Unbegreifliche und Uneinholbare der anderen Nacht.

Quand on oppose la nuit et le jour et les mouvements qui s’accomplissent, c’est encore à la nuit du jour qu’il est fait allusion, cette nuit qui est sa nuit […]. Mais l’autre nuit est toujours autre. C’est dans le jour seulement qu’on croit l’entendre, la saisir. […] Mais, dans la nuit, elle est ce avec quoi l’on ne s’unit pas, la répétition qui n’en finit pas […] la scintillation de ce qui est sans fondement et sans profondeur.6

In L’espace littéraire benennt Blanchot das, was jede Bewegung überschreitet bzw. fundiert, mit der ‚autrenuit. Er setzt das ‚autre‘ durchgängig kursiv und verweist derart von der Ebene der Signifikanten auf eine Metaebene, die die andere Nacht als infinite Verschiebung ausmacht.7 Die andere Nacht ist immer anders als alles, was bezeichnet werden kann, und referiert als Aufflackern des Ungrunds auf ein sich stets entziehendes und verschiebendes A/anderes.

Diese radikale Negativität und Alterität rückt Blanchots Konzeption der anderen Nacht in deutliche Nähe zu jenen Formen der Annäherung an Gott, wie sie in der Tradition der negativen Theologie seit Proklos’ Deutung der ersten Hypothese des platonischen Parmenides, über den dreistufigen Weg der Negation des Dionysius Areopagita und insbesondere seit Nikolaus von Kues bekannt sind.8 San Juans noche oscura und vor allem die von ihm in ihrer gesteigerten Nächtlichkeit noch einmal gegen die „Nacht der Sinne“ abgegrenzte „Nacht des Geistes“ steht nicht nur in dieser Tradition, sondern scheint mir auch den zentralen Nexus zu Blanchots ‚autrenuit herzustellen:

Es [der zweite, tiefere Teil des Glaubens bzw. der Nacht bzw. das dritte Durchschreiten der Nacht; Anm. der Verfasserin] también más oscura que la primera, porque ésta pertenece a la parte inferior del hombre, que es la sensitiva y, por consiguiente, más exterior; y esta segunda de la fe pertence a la parte superior del hombre, que es la racional, y por el consiguiente, más interior y más oscura […]. Y así, es bien comparada a la media noche, que es lo más adentro y más oscuro de la noche.

Pues esta segunda parte de la fe habemos ahora de probar cómo es noche para el espíritu, así como la primera lo es para el sentido.9

Die zweite Nacht ist dunkler und verstörender als die erste. Von ihr wird wesentlich das weiter innen und damit im Dunkleren liegende Denken des Menschen erfasst. Sofern sie als Nacht der Nacht verstanden wird und damit die Dunkelheit als Abwesenheit des Lichts verdoppelt, bezeichnet die noche oscura jene existenzielle Entzogenheit und Differenz, die im 20. Jahrhundert in der ‚autrenuit unter anderen Vorzeichen wiederkehrt. Die andere Nacht ist das radikal A/andere, das für einen die Innerlichkeit invadierenden Prozess steht. Statt einer Letztbegründungsebene setzt Blanchot die Denkfigur der ‚autrenuit, die weniger Gott, als dem Tod zugewandt ist. Während der Gang durch die dunkle Nacht ein notwendiger Prozess des Ich-Sterbens hin zu Gott ist, wird die andere Nacht Blanchots zur Fährte, den Tod zu schreiben, zu lesen und als Grenze auswegslos zu erfahren.