Nachtdenken

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From the series: Orbis Romanicus #6
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2.2 Der Einfall der Nacht

Thomas l’Obscur est un roman difficile à lire.“1 Solche oder ähnliche Urteile ergeben viele der Rezeptionen und Interpretationen von Thomas l’Obscur. Milo Sweedler sieht die Schwierigkeit dieses Textes unter anderem in einer Fallenstruktur, die den Leser im 1. Kapitel scheinbar unschuldig mit dem am Meer sitzenden Protagonisten Thomas in den Text lockt, um ihn dann an sich zu nehmen, zu manipulieren und sich selbst auszusetzen.2 So eröffnet auch das 2. Kapitel scheinbar harmlos:

Il se décida pourtant à tourner le dos à la mer et s’engagea dans un petit bois où il s’étendit après avoir fait quelques pas. La journée allait se terminer; il n’y avait presque plus lumière […] Comme la nuit tombait, il essaya de se redresser et, les deux mains appuyées sur le sol, il mit un genou à terre, tandis que son autre jambe se balançait; puis il fit un mouvement brusque et réussit à se tenir tout à fait droit.3

Thomas wendet sich vom Meer des 1. Kapitels ab, indem er ihm den Rücken zudreht und sich in einem kleinen Wald niederlegt. Er wechselt vom Meer zur Erde, oder vom Glatten zum zunächst Gekerbten – gekerbt auch deshalb, weil im folgenden Satz ein frei stehender Hügel in all seiner Unschuld in den Vordergrund gestellt wird.4 Die Räume (das Meer, der Wald, die Landschaft) werden von Beginn an in ihrer Deskription auf ein Minimum reduziert, bzw. abstrahiert, indem der Text durch sie lediglich als Verweisstrukturen oder Richtungsangaben evoziert. Zeitlich scheint die Abenddämmerung anzubrechen, was eine Reduktion des Lichtes impliziert und somit – bis auf einige Details der Landschaft, wie den genannten Hügel – die Sicht auf die Umgebung trübt. Der Hinweis auf das nahende Ende des Tages ist eminent wichtig, denn er bezeichnet den Beginn einer sodann statthabenden Erfahrung der anderen Nacht. Der bereits zwei Sätze weiter folgende Übergang vom Tag zur Nacht ereignet sich nicht sanft, sondern eher überfallartig als ein Hereinbrechen, wenn es da heißt, „la nuit tombait“.5 Im Französischen fällt oder stürzt die Nacht herein (tomber = fallen, stürzen), ebenso heißt es im Englischen „the night falls“, während man im Deutschen vom Hereinbrechen der Nacht spricht. Diesen Fall oder Einbruch der Nacht lese ich nicht einfach als Hinweis auf die Tageszeit zu Beginn des 2. Kapitels, sondern als ein Aufbrechen der Oberfläche des Symbolischen ins Semiotische (um mit Julia Kristeva zu sprechen) oder, um es im Vorgriff auf das Konzept der Krypta zu formulieren, als Einbruch in die Krypta, für den es immer irgendeinen Spalt, Riss oder Bruch geben muss. Dabei wird eine Bewegung nach unten evoziert, die sich auf der Ebene des Erzählten mit einer Abstiegsbewegung verknüpft.

Doch zunächst reagiert Thomas auf das Hereinbrechen der Nacht, indem er sich gegen einen inneren Drang liegen zu bleiben, vom Boden aufrichtet. Mit Blick auf den Einbruch in die Krypta könnte man auch von einem Zwang sprechen, der ihn sich erheben lässt. Schon hier ist die Wichtigkeit der Körperpositionen und Ausrichtungen nicht zu übersehen: Thomas verlässt das Meer, indem er ihm den Rücken zukehrt. Er geht in den Wald, wo er sich zunächst auf dem Boden liegend, daraufhin kniend und schließlich aufrecht stehend wiederfindet. Mit geschlossenen Augen stehend, ist sein Sehen dennoch nicht weniger geworden: „Ainsi, quoiqu’il eût les yeux fermés, il ne semblait pas qu’il eût renoncé à voir dans les ténèbres, c’était plutôt le contraire.“6 Dieses Bild des blinden Wachens formuliert Andreas Gelhard in seiner Dissertationsschrift über Maurice Blanchot wie folgt: „Thomas sieht ohne zu sehen. Sein Blick hat ebendie Struktur der Ausgesetztheit an das Gestaltlose, die Blanchot auch der literarischen Rede zuschreibt, er ist aveugle vigilance.“7

Abstieg

Als blinder Seher – und dies bedeutet auch, dass von nun an nicht mehr exakt zwischen Imagination und äußerem Geschehen unterschieden werden kann – steigt er in der Nacht/durch die Nacht in eine „Art Kellergewölbe“. Unentscheidbar bleibt, was der Grund für diesen Abstieg ist. Festzuhalten ist aber, dass die Oberfläche verlassen und ein Gang in die Tiefe initiiert wird:

Il descendit dans uns sorte de cave qu’il avait d’abord crue assez vaste, mais qui très vite lui parut d’une exiguïté extrême: en avant, en arrière, au-dessus de lui, partout où il portait les mains, il se heurtait brutalement à une paroi aussi solide qu’un mur de maçonnerie; de tous côtés la route lui était barrée, partout un mur infranchissable, et ce mur n’était pas le plus grand obstacle, il fallait aussi compter sur sa volonté qui était farouchement décidée à le laisser dormir là, dans une passivité pareille à la mort.1

Nachdem der erste Eindruck des Raumes der der Weite war, erscheint das kellerartige Gebilde dann aber als so eng, dass Thomas zu allen Seiten dessen Wände spürt, wodurch ein klaustrophobisches Szenario entsteht. Auch in der Verengung der Weite stehen wieder Raumkoordinaten im Vordergrund: „[…] en avant, en arrière, au-dessus de lui, partout où il portait les mains […].“2 Thomas ist einerseits in seiner schmerzhaften Wahrnehmung gefangen, jedoch auch durch seinen eigenen Willen, der ihn in Passivität hält und ihn dort im Wald oder im kellerartigen Raum – die Örtlichkeit, an der das Geschehen stattfindet, ist nicht klar – übernachten lassen will. Im Anschluss daran bildet die aus Thomas’ Willen entspringende todesähnliche Passivität die Matrix der Nacht und ermöglicht einen Eintritt in die Krypta. Sie setzt das Subjekt aus und bewirkt, dass nach der Problematisierung des umliegenden Raumes die Abgeschlossenheit des Körpers aufgegeben wird. Thomas, der in diesem Kapitel nur selten mit seinem Eigennamen bezeichnet wird, sondern fast durchweg mit der unpersönlichen Form des „il“3, legt auf der Suche nach den Grenzen des Raumes seinen Körper dicht an die Trennwand und wartet: „[I]l plaça son corps tout contre la cloison et attendit.“4 Die Grenzerfahrung wird als Begrenzungserfahrung zum Formgeber seines Körpers, der – zum Medium geworden – nun wartet.

Bis zu dieser Textpassage wurden bereits diverse Bilder der Abgrenzung aufgerufen, darunter „une sorte de cave“ (eine Art Keller[gewölbe]), „une paroi“ (Wand, Trennwand), „un mur de maçonnerie“ (Mauerwerk), „un mur infranchissable“ (eine unüberwindbare Mauer), „les limites“ (die Grenzen, Abgrenzungen), „la fosse voutée“ (der überwölbte Graben oder das gewölbte Grab), „la cloison“ (die Wand, Zwischenwand). Dabei variiert das Spektrum von eher dünnen Wänden bis hin zu massivem Mauerwerk oder gar dem Vergleich mit einem Grab. Es handelt sich um Grenzfiguren, die keinen konstanten Raum umgeben, sondern lediglich augenblickliche subjektive und durch die Erzählinstanz vermittelte Wahrnehmungsentwürfe bilden. Um diesen durch den Abstieg oder durch die Nacht eröffneten Raum zu denken bzw. zu entziffern, werde ich ihn mit dem psychoanalytischen Begriff der Krypta verknüpfen.

2.3 Krypta (Phantasma und Verschiebung)

In Cryptonymie. Le verbier de l’homme aux loups1, unternehmen die Psychoanalytiker Nicolas Abraham und Maria Torok eine Neulektüre der berühmten „Wolfsmann-Texte“2 Sigmund Freuds. Eine Besonderheit dieser Neulektüre ist die Beschreibung der Ausbildung einer intrapsychischen Krypta als Resultat eines gescheiterten Trauerprozesses. Dabei werden die mit Lust und Scham besetzten Objekte (meistens sind es mehrere) phantasmatisch inkorporiert und in einer inneren Krypta verwahrt. Die geschluckten Objekte (frz. fantasmes) sind dem Bewussten unzugänglich, steuern es vielmehr in Wiederholungshandlungen fern und bedienen sich so des Subjektes. Diese Fernsteuerung ist der negative Aspekt der Krypta. Ausgebildet wird sie aber ursächlich, um die Subjektstabilität zu erhalten.

Die Krypta bildet einen Ort im Bewussten, der sich wie ein künstliches Unbewusstes zum Bewusstsein verhält. Künstlich ist dieses Unbewusste insofern als es nicht außerhalb des Bewussten liegt, sondern innerhalb und gleichzeitig dem Bewussten, dem Außerkryptischen unbewusst ist. Von außen gibt es kein Eindringen in die Krypta, es sei denn, man vermag es, über verschlüsselte Pfade die Wege der nach außen dringenden kryptophoren Objekte nachzuverfolgen. Abraham und Torok gehen davon aus, dass es immer wieder Risse an den Grenzzonen der Krypta gibt, durch die die eingeschlossenen Phantome nach außen dringen und sich in Handlungen des Subjektes niederschlagen, die diesem im Nachhinein teilweise völlig fremd sind. Die Doppelbödigkeit der Krypta besteht darin, dass die inkorporierten phantasmatischen Objekte den Grund des Ichs begründen, d.h. Teil des Ich-Fundaments sind, auf dem Neues errichtet wird. Das Gefährliche dieses Grundes ist seine Eigendynamik, denn das vermeintlich Besiegte (das Objekt, dem die Trauer ob seines Verlustes verweigert wurde) muss verwahrt werden, um so zwischen Leben und Tod, zwischen Realität und Latenz, in der Schwebe zu bleiben: unverfügbar, aber da.

Um die Krypta als raum-zeitliches Gefüge in Hinblick auf die Tiefenerfahrung von Thomas im 2. Kapitel von TO2 zu beschreiben, muss die Vorstellung der Krypta jedoch von der rein psychoanalytischen gelöst und in Richtung auf das hin gedacht werden, was Derrida in seinem, der Cryptonymie vorangestellten, Vorwort „Fors“3 beschreibt. Er geht darin gewissermaßen tiefer in die Topik der Krypta hinein und legt Verbindungen zu ihrem Ort-Sein zwischen Natur und Fremdkörper frei, indem er sie als verräumlichte différance liest und ihren metaphorischen Ausdruck zurückbezieht auf die eigentliche architektonische Herkunft als eine unter dem Altar befindliche Grab- oder Reliquienkammer, die aus einem System von Druck und Gegendruck besteht und daraus ihre ganz eigene Stabilität entfaltet. Auch das Moment der Gewalt als ein konstitutives Gründungsmoment ist in der Krypta somit vorhanden, nämlich als stumme Gewalt des Gegendrucks des Verbergens.

 

Die Wand der Höhle, die Wand der Krypta

Platons Höhle verfügt über zwei Wände, eine natürliche Höhlenwand und eine künstliche Trennwand. Hinter der künstlichen werden Gegenstände vorbei getragen, von denen die Eingeschlossenen lediglich die Schattenwürfe auf der ihnen sichtbaren natürlichen Höhlenwand erblicken können. Ihr Wirklichkeitsbezug besteht in der Auslegung der Schattenzeichen auf der Wand. In der Krypta, wie Derrida sie liest, gibt es ein Verbergungssystem von unterschiedlichsten Trennwänden, Mauern und Abschirmungen, wodurch das Ich zu einem zersprungenen Symbol wird:

La place-forte cryptique protège ce rebelle en provoquant la fracture symbolique. Elle brise le symbole en fragments anguleux, aménage des cloisons internes (intrasymboliques), des cavités, des enfoncements, des couloirs, des chicanes, des meurtrières, des fortifications escarpées. Toujours des ‚anfractuosités‘ puisqu’elles sont l’effet de cassures : telles sont les ‚parois de la crypte‘. Dès lors la muraille à traverser ne sera pas seulement celle de l’Inconscient […] mais la paroi anguleuse à l’intérieur du Moi.1

Das Ich, nicht mehr Herr im Haus, vermag die Innenseiten der Kryptawände nicht zu sehen und folglich genauso wenig zu deuten. Sie bleiben dem Ich verborgen und werden nicht Teil der Semiose. Die Krypta wird errichtet, kann jedoch nicht betreten werden. Das Wesentliche der Krypta ist dieser komplizierte Verbergungsmechanismus, an und in dem eine eindeutige Verortung scheitert, bei dem aber gleichzeitig strikte Trennwände existieren.

Die Krypta als Anti-Metapher

Zum Schutze der in der Krypta eingeschlossenen Objekte, welche sich ihrerseits um ein Ur-Wort oder Tabu-Wort1 herum lagern, müssen alle Verbindungen gekappt werden – nicht nur die der Erinnerung, sondern auch metaphorische Bezüge, durch die ein Eindringen in die Krypta möglich wäre. Wie schon erwähnt, drängt es aber die Kryptaobjekte immer wieder an die Oberfläche. Dieses kryptische Sprechen bezeichnen Abraham und Torok als eine „Figur der aktiven Zerstörung der Bildhaftigkeit“ und schlagen vor, es als „Antimetapher“ zu lesen.2 Sie unterstreichen dabei, dass das Ziel des kryptischen Sprechens nicht sei, mit dem Literalsinn der Worte zu agieren, sondern auf jeder Ebene ihre verbindende, übertragende Kraft zu zersetzen. Die Krypta als Figur des Bruches mit jedem referentiellen Grund der Eigentlichkeit und der radikalen Verschiebung wäre in dieser Lesart, die auch Derrida in seinem Vorwort in Teilen verfolgt, der Ungrund des Verstehens, auf Basis dessen jede Deutung ins Wanken gerät. Dieses Wanken erfasst auch die Handlungskontrolle des Kryptophoren (Träger der Krypta), denn die Krypta erfüllt ihre Funktion der Erhaltung der Subjektstabilität nur scheinbar: Die eingeschlossenen Wörter dringen unkontrollierbar aus ihrem Ungrund nach oben und walten nach ihrer eigenen Ordnung, der das Ich hilflos gegenüber steht. Die ursprüngliche Schutzfunktion der hermetischen Abriegelung einer übergroßen Trauer wird über kurz oder lang zur Gefahr für das Subjekt, dessen Wesenskern von fremden Gestalten besetzt ist. Das Besondere liegt darin, dass diese Ketten des Krypta-Sprechens nicht mehr lediglich auf semantischen Verknüpfungen beruhen, sondern sich andere, verstecktere Kontakte der sprachlichen Fortpflanzung suchen, um das Ur-Wort der Krypta zu verdecken. Die Assoziationen, aufgrund derer Kontiguitätsketten gebildet werden, speisen sich also aus einer lexikologischen Quelle, die von der Ebene der Sache sowie des Wortes zu unterscheiden ist. Sie sind unberechenbarer und beweglicher als übliche Assoziationen, da sie quer durch die Ordnungsstrukturen der Sprache schießen (man könnte auch mit Gilles Deleuze sagen: Transversalen bilden). Eine von den Autoren dabei vielfältig am Wolfsmann diagnostizierte Struktur ist das Verfahren, ein Wort durch ein Synonym bzw. Rebus eines Allosems3 zu ersetzen.

Bei dieser „kryptonymischen Transkription“4 handelt es sich folglich nicht mehr um einfache Ersetzungsvorgänge, sondern um „Verschiebungen zweiten Grades“5, d.h. eine stark erweiterte assoziative Anschlussfähigkeit auf der phonetischen Ebene. Derrida formuliert dies im Bild eines „befremdlichen Staffellaufs“6, bei dem der Stab nicht an eindeutig vorhersehbare und zurück verfolgbare Anschlusspartner übergeben wird und somit die Regeln des Spiels nicht klar erkennbar sind. Die Objekte der Krypta zeigen sich, sie tun dies jedoch verschlüsselt. Ihnen auf die Schliche zu kommen hieße, mit dem Sichtbaren (dem Diskursiven) anzufangen, um zum Unsichtbaren zu gelangen (dem Ur-Wort, dem Ur-Trauma).

2.4 Thomas’ Gang in die Krypta

Wenn sich Thomas im 2. Kapitel nun ein Raum eröffnet, den man als Krypta lesen kann, ist, so meine These, das Betreten der Krypta nicht wie das physische Betreten eines Raumes zu verstehen, sondern eher als ein Sich-Aussetzen einer Erfahrung all dessen, was die Stabilität gefährdet, d.h. einer Begegnung mit all den Wörtern, die aus dem Diskurs ausgeschlossen sind. In die Krypta zu steigen, heißt den Weg ins Außen zu beschreiten und auf der Suche nach dem Ausweg zu merken, dass das Außen ein Außen im Innen ist, also ein Außen, was die Innerlichkeit von innen zersetzt, weil es immer anders ist und sein wird als jedes mögliche Innen.1 Dies manifestiert sich auf der topologischen Ebene in Gestalt diverser Grenzfiguren, die den Raum teilen, verwinkeln und unpassierbar machen. Die unterschiedlichen Mauerwerke, Trennwände und Grenzen, die Thomas berührt, zeigen dies sehr plastisch. Es sind Grenzfiguren, die – wie bereits erwähnt – keinen konstanten Raum schachtelartig umrahmen, sondern lediglich augenblickliche subjektive Wahrnehmungsentwürfe unterschiedlicher Grenzen darstellen, die durch die Erzählinstanz vermittelt werden. Die Krypta formt so einen Zwischenort zwischen dem Natürlichen und dem Gemachten, was für Thomas (und den Leser) vor allem eine Problematisierung der Räumlichkeit über die Wahrnehmbarkeit impliziert. Man weiß nicht mehr, ob etwas existiert, ob es in Thomas oder außerhalb von ihm da ist oder in wie weit seine Wahrnehmung die räumlichen Gegebenheiten manipuliert und verformt. Die Krypta schreibt sich in den Raum ein und bildet somit ein abgeschottetes Außen im Innen. Dabei, und das ist zentral, verdeckt sie die Differenz zwischen sich und dem natürlichen Raum, in dem sie sich mit ihren Haltekräften aus Widerständen errichtet hat. Sie bildet ihre eigene A-Topik, sprich in ihr gelten andere Regeln des Verstehens und der Interpretation, die sich der Logik des Subjekts entziehen und zur Erhaltung dieses Nicht-Ortes dienen. Die Sprache der Krypta – ein „befremdlicher Staffellauf“ der auf Entdeutung abgerichteten Assoziationen2 – bedeutet mit Blick auf Blanchots Kapitel ein performatives Durchspielen der Gewaltsamkeit der Sprache in ihren Repräsentationsbewegungen, in ihrer gestalterischen Kraft, die sich jedoch mittels der Ersetzungsbewegungen entstaltet oder entdeutet und somit in einem negativen Schöpfungsakt ihre Hervorbringungen unaufhaltsam überschreibt. Was dennoch lesbar bleibt, sind die Spuren dieser Vorgänge. Da es mir – anders als den Psychoanalytikern Abraham und Torok – bei meiner Lektüre nicht um Heilung geht, sondern um das Nachzeichnen der Textbewegungen, möchte ich die schon begonnene Spur weiter verfolgen und an ihr exemplarisch zeigen, wie die Gründungsproblematik im Text verhandelt wird.

Nacht-Sehen

Thomas, der im Kryptaraum weiter fortschreitet – was bedeutet, dass er sich gerade nicht linear nach vorne bewegt, sondern physisch wie gedanklich durch seine Negation vorangetrieben wird – gelangt in einer Verdopplungsbewegung des Ortes an einen neuen Ort, der sich nicht vom vorherigen unterscheidet. In einem ereignishaften Augenblick ändert Thomas seine Wahrnehmung ein wenig, schwenkt vom Fortschreiten bzw. Starren zum Blicken. Dies eröffnet das Gewahrwerden der Nacht.

A cet instant, Thomas commit l’imprudence de jeter un regard autour de lui. La nuit était plus sombre et plus pénible qu’il ne pouvait s’y attendre. L’obscurité submergeait tout, il n’y avait aucun espoir d’en traverser les ombres, mais on en atteignait la réalité dans une relation dont l’intimité était bouleversante. Sa première observation fut qu’il pouvait encore se servir de son corps, en particulier de ses yeux; ce n’était pas qu’il vît quelque chose, mais ce qu’il regardait, à la longue le mettait en rapport avec une masse nocturne qu’il percevait vaguement comme étant lui-même et dans laquelle il baignait.1

Die Nacht zeigt sich in ihrer Omnipräsenz der Dunkelheit weitaus dunkler und schmerzhafter als gedacht. Das Vordringen zur Realität der Nacht geschieht über den Schmerz und die Dunkelheit. Je dunkler die Nacht wird, desto intensiver ist auch die Nähe zwischen Thomas und ihr bzw. ihren Repräsentationen. Thomas beobachtet, dass er nach wie vor mittels seines Bewusstseins Zugriff auf seinen Körper, insbesondere auf die Augen, hat. Er kann nicht sehen, aber über die Augen mit seiner Umgebung in Verbindung treten und über den Blick eine Berührung herbeiführen. Dabei wird zwischen „voir“, „regarder“ und „percevoir“ unterschieden: Nicht sehend, setzt ihn das Betrachtete mit einer „masse nocturne“ über das Betrachten (regarder) in Verbindung, die er als sich selbst wahrnimmt (percevoir) und in der er schwimmt. In einem Akt der Immersion kommt es zur Ununterscheidbarkeit zwischen dem Betrachter und der nächtlichen Masse. „[E]n dehors de lui se trouvait quelque chose de semblable à sa propre pensée que son regard ou sa main pourrait toucher.“2 Außerhalb von ihm gibt es etwas, eine Art Gedankenverkörperung, die er über den Blick oder die Hand taktil greifen kann. Eine Möglichkeit wäre, dieses Außerhalb schlichtweg als Realität zu bezeichnen, die nicht komplett deckungsgleich mit seinen Gedanken ist, ihnen jedoch gleicht, da sie, konstruktivistisch betrachtet, als Realität erst durch seinen Blick oder durch seine Berührung entsteht. Die Frage wäre hier, wie es um die anderen Sinneswahrnehmungen und ihren Stellenwert steht. Im zitierten Text gibt es jemanden (den man vielleicht als Thomas bezeichnen könnte) und etwas außerhalb von ihm, was in einer Beziehung zu ihm steht. Es ist hier von einer gewissen Innen-Außen-Differenz die Rede, wenngleich über eine Ähnlichkeitsbeziehung von Innen und Außen die Differenz sogleich wieder porös gemacht wird.