Generalprobe -Leben aus Musik-

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Martin Mehner

Generalprobe -Leben aus Musik-

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zwischenbilanz meiner Hände - Prolog

Generalprobe

Personal Identification Number

Warum toben die Heiden...

Das Schicksal steht in den Karten

Wohin mit den Beratern - eine Facebook-Erfahrung

Scheinfrucht

Die Ruhe auf dem Lande ist zu hören

Still wie die Nacht

Trio Trombone

turdus merula

Impressum neobooks

Zwischenbilanz meiner Hände - Prolog

Martin Mehner, Autor Das erste Mal habe ich wirklich über meine Hände nachgedacht, als ich meiner Freundin unter den Rock griff. Ich riss ihr dabei nämlich eine Laufmasche in die West-Feinstrumpfhose. Nur mit meiner Hornhaut. Strumpfhosen waren teuer damals, die guten gab's nur im Intershop. Ich glaube, sie hat ihre sogar noch mal gestopft. Wo kam die Hornhaut her? Ich schrieb damals mit Bleistift. Ich mochte das kratzende Geräusch und den Geruch, und ich mochte es, wenn ich mit dem Radiergummi verbessern konnte. Bleistifte mag ich heute noch. Bis dahin waren Hände eher selbstverständlich. Meistens ging es gar nicht um meine, sondern um anderer Leute Hände. Wie haben sie geheult, all die gestandenen, werktätigen Frauen, als mein Kumpel zum Frauentag das alte, schöne Tucholsky-Gedicht aufsagte: "Mutterns Hände". Ich hätte mitheulen können. Aber meine Mutter lebt heute noch und ihre Hände auch – was hab ich doch für ein Glück! Zwar schneidet sie keine 'Stullen' mehr, aber alljährlich putzt sie einen ganzen Rehrücken ab und verköstigt ihre vier Kinder samt Familien. Also doch: Mutterns Hände! Einige Male brannten ihre Hände in meinem Gesicht – davon schrieb Tucholsky natürlich nicht. Der Grund: Meistens war es, weil ich meine Hände nicht so benutzt hatte, wie ich sollte. Zum Beispiel, weil ich vergessen hatte, meine Hausaufgaben zu machen, mein Zimmer zu saugen, meine Sachen wegzuräumen, das Geschirr abzutrocknen, meistens mehrere Sachen auf einmal. Und weil ich dann sagte, ich hätte keine Zeit gehabt. Sie hat mir aber auch beigebracht, dass man Brennnesseln mit den bloßen Händen ausraufen kann, ja, dass es sogar schön sein kann, wenn es hinterher tüchtig brennt. Großmutter, so hieß es, peitschte sich sogar den Rücken damit, gegen ihr Rheuma. Schauer der Bewunderung, wenn ich das hörte. Zugegeben, heute benutze ich schon mal Handschuhe, aber nur, weil es so lange dauert, bis ich nach dem Holzschleppen die Eichensplitter heraus gezupft kriege. Klar, Thema waren meine Hände auch schon früher, ganz ohne Nachdenken. Da gab es Kumpels, die nach der Schneeballschlacht ins Haus kamen und sagten: Das kribbelt so schön! Die Glücklichen! Für mich war es eine Tortur, mir wurde immer schlecht, weil es höllisch weh tat. Das kalte Wasser auf meinen Fingern brannte, als würde es kochen!

In meiner Stadt gab es noch Kohlenplätze! Kohlenplätze rochen vor allem nach Fisch und erst, wenn man näher kam, auch nach Kohlen. Meistens traf man auf einen kleinen Teller, auf dem noch die Mittelgräte lag; manchmal erwischte man auch die Katze, während sie dabei war, die Mittelgräte freizulegen. Mutter sagte, die Katzen sollten angelockt werden, um auf dem Kohlenplatz Mäuse zu fangen. Ich wurde angelockt, weil man auf dem Kohlenplatz Geld verdienen konnte.

Zehn Pfennig gab es für einen Kasten, wenn man ihn mit Kohlen voll stapelte. Ich ging hin und freute mich, dass ich eine Mark machen konnte. Meistens schaffte ich zwei Kästen, manchmal drei. Ein Moskauer Eis kostete zwanzig, eine Waldmeisterbrause fünfzehn Pfennig. Das Eis wurde am Rand schwarz von meinen Händen. Von den Kohlenhänden.

"Warum kannst du deine Hände nicht waschen?", fragte mich meine Flötenlehrerin. Ihr Ton war so, als hätte ich ihre Hände im Gesicht. Irgendwo zwischen zornig und hysterisch. Meistens schwieg ich. Es ging ja nicht um ihren, sondern um meinen Ton, den Flötenton. Wozu ihr erzählen, dass ich für den Badeofen zuständig war, dafür, dass die Familie warmes Wasser zum Duschen hatte. Holz und Kohlen lagen im Keller und wir wohnten im dritten Stock. Außerdem hatte ich dafür zu sorgen, dass Kartoffeln im Haus waren. Und ich sorgte für das Eingemachte: die Ordnung im Kellerschrank. Meine Hände hatten den Überblick zu haben, über das, was weg musste, und das, was richtig weg musste, weil es verdorben war. Später lernte ich (Mutter gab mir den Rat), meine Hände zu schrubben. Heißes Wasser, so dass sie krebsrot wurden, gefühlte fünfzig Grad, und dann, wenn sie glühten, mit viel Seife die Bürste ansetzen. Unter den Nägeln war es besonders heftig. Und besonders nötig.

Die Hände meines Vaters zitterten immer. Schlimmstenfalls traf er mit der Kaffeekanne nicht mal die Tasse. Ich kann mich kaum daran erinnern, weil er nicht bei uns wohnte. Jedenfalls nicht mehr, als ich anfing zu beobachten. Da musste ich mich an andere Männer halten, zum Beispiel den Fahrradmonteur in der Fabrik, wo ich in den Ferien arbeiten ging. Der hatte vermutlich vier Hände: Mit zweien schraubte er Fahrräder zusammen, jeder Griff saß, immer war er der Schnellste. Mit der dritten führte er die Zigarette zum Mund und mit der vierten die Kaffeetasse.

Aber auch er zitterte. Das gehörte wohl dazu. Später las ich "Gewalt und Zärtlichkeit", sozialistischer Realismus. Heute würde ich sagen: kommunistischer Romantizismus. Und doch! Wie sitzen sie tief, diese Sätze: "Seine Hände waren vom Arbeiten so schwer, dass sie beim Streicheln zitterten." Ich liebte diesen Satz.

Heute zittern meine Hände auch. Schon lange. Demzufolge hasse ich Kaffeetassen mit kleinen Henkeln und Kerzen, die angezündet werden wollen. Außerdem Sopranblockflöten, weil sie so leicht sind. Dafür gehe ich lieber in den Wald und arbeite Eichenkronen auf. Da kommt es nicht darauf an. Und wenn ich meine Frau streicheln will, kommt es auf die Stelle an, wo ich sie streicheln will, ob es darauf ankommt. Ob ich zittere. Außerdem spiele ich Bassblockflöte, die ist schwer genug.

Mit meinem Bruder, dem, der anderthalb Jahre älter ist, habe ich gerungen. Die Faust war tabu. Ohne Vereinbarung, es war einfach so. Manchmal bereute ich, dass ich das nicht gelernt hatte. Als mir in einer Kneipe ein Typ sein Bier ist Gesicht schüttete, war ich dicht davor. Ich hätte ihn kratzen sollen!

Rechts trage ich immer Nägel. Die sind zum Gitarre-Spielen. Dafür klappern sie auf dem Klavier. Und sie brechen ab, wenn ich Eichenkronen aufarbeite. Wachsen wieder nach, wenn der Sommer kommt. Und sind selten sauber.

Fast hätte ich die Probezeit nicht bestanden. Als Berater muss man gepflegt aussehen, das erwarten die Leute. Fast wie ein Arzt. Musst du halt öfter abwaschen, sagten die Kollegen.

Das ist halt so auf dem Lande, sagten andere. Wenn man mit der Flex eine Fensteröffnung sägt, mitten hinein in den alten Backstein, werden die Hände sogar rot. Oder wenn man Rote Rüben schneidet. Das ist schön, fast wie Kriegsbemalung. Dazu der Geruch nach Eichenholz oder Feuer! Damit dann streicheln...

Was dürfen sie noch erleben? Diese Hände! Was müssen sie noch durchmachen? Heute waren sie wieder fast erfroren; bei minus siebzehn Grad ist jedes Stück Holz wie ein Klumpen Eis. Die Kuppen summen beim Tippen. Und nach dem vierten Espresso sind sie bereit zum Fliegen. Wahrscheinlich fliegen sie noch, wenn der Rest von mir schon streikt.

Das sind nicht meine Hände. Sie gehören zu etwas Größerem.

Mein einer Großvater schrieb für die Zeitung, der andere war Pianist. Ich habe sie beide nicht kennen lernen dürfen, kriegsbedingt.

Dafür lebte die eine Großmutter später mit einem neuen Mann. Der war ein handfester Bauer. Seine Hände hatten in der Kriegsgefangenschaft gelitten, waren rissig geworden vom Baumwollpflücken für die Amis. Er schonte sie nicht. Auch das beeindruckte mich. Ich wünsche oft, ich hätte die anderen beiden Großväter gekannt. Aber wenigstens haben sie mir etwas vererbt – ihre Hände. Ich habe auch vier. Mindestens. Und schone sie nicht.

Generalprobe

Lindgard Wolters, Tuttigeigerin

Da kommt er. Der Stardirigent! Dass ich das noch erleben darf, in meinem vorletzten Dienst!

Sir John Weakland. Klein, aber drahtig, im lässigen Leinenanzug. Heute in Zivil, wie alle hier. Er hat mit uns gearbeitet, gestern noch mal ganz intensiv, und morgen ist es so weit. Für ihn, für uns alle. Und für mich.

Ich sehe ihn im Profil. Er hat eine markante Nase, etwas grobporig, aber wunderbar runde Ohren, richtige Musikerohren.

Die Orchestermanagerin schiebt sich heran. „Bitte!“ Er tritt freundlich zur Seite.

 

„Ich habe Ihnen zwei Mitteilungen zu machen: Erstens, wir freuen uns, dass Herr Ling Chi einen Vertrag mit unserem Klangkörper bis 2018 unterschrieben hat.“

Applaus von hinten, von den Pauken und Becken, während die Streicher mit ihren Bögen auf die Pulte tippen.

„Außerdem wird Frau Lindgard Wolters morgen ihren letzten Dienst bei uns bestreiten. Nach der Aufführung soll es deshalb einen kleinen Sektempfang im Café Dyonisos geben. Dazu sind alle herzlich eingeladen!“

Der gleiche Applaus wie vorhin, nur dass einige zu mir schauen, eher verstohlen. Ich hantiere mit meinem Kolophonium.

Heute ist mein Abschied, nicht morgen beim Empfang. Diese Pflichtübung werde ich, so schnell es geht, hinter mich bringen. Wer möchte, kann ja danach zu mir kommen, mit 'ner Weinflasche unterm Arm.

Und auch nicht beim Konzert morgen ist Abschied. Da geht es nicht um mich, da geht es um die Musik. Morgen wird es wieder stimmen, das Wort vom KLANGKÖRPER.

Heute schaue ich mit Wehmut in die Runde und verabschiede mich tatsächlich. Und keiner wird es merken.

Schostakowitsch, 8. Sinfonie. Durchlauf, erster Satz. Für die meisten ist schon wieder Tagesordnung. Solche Ansagen wie vorhin erzeugen keine Unruhe. Wechsel gibt es halt, pro Jahr zwei bis drei.

Die Oboe klingt etwas dünn. Alles klar! Mitterecker hat das falsche Blatt genommen. Das passiert ihm regelmäßig, zum Glück spielt er nur die Zweite. Corinna spielt ohnehin für beide, sie beschreibt ausladende Bewegungen bei ihrem Solo, ihre Ohrringe schaukeln gefährlich vor und zurück. Sie war meine wichtigste Stütze, als ich ständig ausfiel, gab mir Adressen von Ärzten, die als Spezialisten bekannt sind. Aber letztlich kam keiner dagegen an. 90 Prozent aller Rückenleiden sind psychosomatisch, stand im vorletzten Heft meiner Krankenkasse. Und was nützt MIR das?

...ich hatte gern noch mal dreiundneunzig, Takt dreiundneunzig, die Hörner auch auf zwei und nicht so verschieden wie eben...

Die Hörner, sehen kann ich sie ja nicht, sie sitzen seitlich von mir, links. Und doch weiß ich, dass sie lässig auf ihren Stühlen lümmeln, bis auf Thibaut, der sitzt immer vornüber gebeugt und hält sein Instrument fest an der Brust, als könnte es verloren gehen. Thibaut kann mich gut beobachten, und ich weiß, dass er es auch tut.

Ein einziges Mal hat er mich zum Kaffee eingeladen, gleich nach der Probe, und dann war er so schüchtern, dass er nicht wusste, worüber er reden sollte.

Manchmal brennt sein Blick regelrecht. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Schließlich ist er ja kein Unsympath.

...hundertneunundzwanzig sind mir die Geige zu loud, das ist ein Diminuendo, schreiben Sie sich das ein, das geht die ganze Takt...

Ganz im Gegensatz zu Jonda! „Chonda heiß ich!“, das ist ihm wichtig. Jeder wird verbessert, der ihn falsch ausspricht. Breitbeinig lehnt er auf seinem Stuhl, die Füße weit von sich gestreckt, als ob er dem Dirigenten ein Bein stellen wollte. Die Hemden sind rot, orange oder gelb, die obersten Knöpfe natürlich offen.

...vor allem in zweihundertzweiundsiebzig, da tata tatatata, das Staccato hier noch schärfer, aber nicht louder werden...

Jonda spielt zweite Geige, erstes Pult rechts. Jetzt steht er mal wieder auf, kritisiert die Celli, dass sie geschleppt haben, und Weakland stimmt ihm auch noch zu!

Diesen Macho werde ich am wenigsten vermissen. Als ich noch am zweiten Pult war, konnte ich ihn immer riechen. Adidas, glaube ich, aber so genau kenne ich mich nicht aus. Ronald, mein Mann, nahm kein Parfüm, und das war mir recht.

Jonda ist spitz auf den Konzertmeisterposten, das sagen alle. Als Colby nach Melbourne ging und die Stelle plötzlich frei wurde, riet mir Corinna, ich solle unbedingt auch vorspielen, aber just in der Zeit fing es an mit den Rückenschmerzen. Natürlich nahm ich das nicht so ernst. Viele Geiger haben Probleme. Bis ich eines Morgens nicht mehr aus dem Bett kam.

Ronald war nicht zu Hause, nach meiner Zählung dürfte es die dritte Affäre in unserer Ehe sein. Und ich hatte die Organisation am Hals, wo die Kinder hin konnten, wenn ich abends zum Dienst fuhr

....okay, noch mal dreihundertzehn, aber jetzt weiter, ich will die Holz hören, die Piccolo musste noch mehr geben...

Dieser Weakland hat Ausstrahlung. Das muss man ihm lassen. Wenn er mit der Linken ein Crescendo angibt und dabei ganz langsam die Hand öffnet, sieht es aus wie eine Lotosblume. Die „Pauke“ da hinten erkennt das wahrscheinlich gar nicht, aber es funktioniert!

Die Pauke! Alle nennen ihn so, und er beschwert sich nicht. Wenn er nicht dran ist und nicht sein Instrument stimmt, dann spielt er mit seinem Handy. Oder vielleicht schreibt er SMS. Schlagzeuger haben so eine Art Narrenfreiheit. Wie in der Schule auf der hintersten Bank.

...und jetzt den zweiten Satz, die Bässe an pizzicato denken, bitte...

Ganz vorne, die zwei Kontrabässe, die sind fast wie ein Pärchen! Die zierliche Schmidten und der hünenhafte Tarsson. Manchmal stoßen sie mit den Instrumenten zusammen, und dann gibt’s Gelächter. Diese so unterschiedlichen Menschen haben es geschafft, ihre Bewegungen fast vollständig zu synchronisieren. Sie muss beim Zupfen regelrechte Reißbewegungen vollführen, während er wahrscheinlich nur seinen Zeigefinger krümmen müsste. Trotzdem schwingt er mit ihr mit. Es sieht wie ein Tanz aus. Manche Kollegen munkeln, dass die beiden wirklich zusammen seien, aber keiner weiß was Genaueres.

...ab dreiunddreißig war grottenschlecht, das müssen wir noch mal machen. Und jetzt together, nicht jeder einzeln...

Manchmal hatte ich ja auch davon geträumt, einen Musiker zum Mann zu haben. Dann hätte es sicher keine Diskussionen gegeben, wer wie viel arbeiten darf. Der Dienstplan stünde fest, oft schon Wochen im Voraus, und der Rest wäre einfach Absprache, mehr nicht.

Belinari zum Beispiel, der hätte es sein können. Wahnsinnig schöner Mann, ganz feine Züge, zarte Nase. Und immer solche weichen Hemden, vermutlich Bourrette-Seide. Die Haare fast bis auf die Schulter. Ich habe ihn gut im Blick. Er spielt Cello, zweites Pult, so wie ich damals bei den Geigen. Versteht sich bestens mit seinem Pultnachbarn.

...stop, stop, stop, ihr übertönt ja die Holz …

Die blitzen sich manchmal an, die beiden Kerle. Das war schon ein Schock für mich, als ich mit ansehen musste, wie sein Freund ihn abgeholt hat. Von dem Augenblick an war mir klar: Der steht auf Männer. Und ist wahrscheinlich fest gebunden. Was ihn nicht abhält, mit seinem Pultnachbarn zu flirten. Für mich hatte er nie einen Blick. Das war schlimm, aber andererseits auch ganz gut so. Wirklich anbändeln wollte ich mit ihm nicht.

...okay, jetzt das dritte Satz, mit viel Gefuhl, aber eindringlich...

Aber gespielt habe ich immer nur für ihn. Ich glaube, das machen hier viele, für irgendwen spielen. Es geht einfach besser, wenn man einen Menschen hat, dem man gefallen möchte. Es ist völlig ausreichend, dass Belinari genießerisch den Kopf zur Seite legt, wenn die Geigen Solo haben. Dieser Mann fühlt die Musik, das sieht man, und manchmal schluckt er. Dann geht sein Adamsapfel kurz hoch und runter. Das mag ich, besonders wenn er nicht rasiert ist.

...in neunundsiebzig die Bratsche nicht so kratzig bitte, ihr seid da voll im Vordergrund, ganz weich, daa daa daa daa, da daa, da daa...

Jonda redet auf seine Nachbarn ein, selbst sein Flüstern ist unüberhörbar, und schaut demonstrativ zu den Bratschen hin. Idiot!

...vierter Satz, presto...

Ich muss mich konzentrieren, da sind ein paar heftige Passagen drin. Und sofort geht es wieder los, das Reißen in der rechten Schulter. Es schmerzt so sehr, dass ich in der Pause wohl noch eine Tablette nehmen werde.

...hundertsechsunddreißig ist Crescendo, nicht Forte, das gilt vor allem für das Blech, die Stelle machen wir noch mal, auf eins...

Es ist schwierig, leise und sauber Posaune zu spielen, noch schwieriger, wenn alle drei zusammen einsetzen und dann ins Crescendo gehen sollen.

Breitenstein, der dritte, hatte es am hartnäckigsten versucht, nachdem Ronald weg war. Selber geschieden, nach langem Zögern deutscher Staatsbürger geworden, kaum Kontakt zu seinen Kindern. Kenne seine ganze Lebensgeschichte. Er hat sich lange gesträubt, hier zu arbeiten und zu leben, nach dem, was seine Großeltern durchmachen mussten.

...danke schön, viertel vor eins bitte PUNKTLICH wieder hier sein...

Ich verschwinde sofort auf der Toilette und nehme meine Tablette. Den Rest der Pause verbringe ich draußen. Den Kragen hoch geschlagen husche ich an den ersten schnellen Rauchern vorbei, um eine Runde um das Gebäude zu drehen. Gerade noch rechtzeitig vor der Solistin schaffe ich es auf meinen Platz.

Marita Levandovska wird das Sibelius-Violinkonzert spielen. Das letzte Mal, als wir mit ihr arbeiteten, spielte sie ohne Schuhe. Als Solistin kann man sich so was eben leisten.

Solistin – mein Vater wollte immer, dass ich Solistin werde. Er hatte ja keine Ahnung, wie viel Mühe es für mich bedeutete, eine Tutti-Geigerin zu werden. Es ist mir nicht zugeflogen, wahrlich nicht.

...im ersten in die Violinen, kraftvoll, aber nicht eckig, dija dija dija dija...

Da ist sie! Tatsächlich, sie zieht die Schuhe aus. Schwarz glänzende Plateauschuhe, die sie dicht neben das Dirigentenpult stellt. Und dabei lächelt sie. Weakland lächelt zurück, dann reißt sie plötzlich die Geige hoch und wartet auf den Anfang. Sie hat das Heft in der Hand, ganz klar.

Bei Sibelius leg ich mich immer besonders ins Zeug, ich gehöre zu denjenigen, die vorne auf der Stuhlkante sitzen. Meine Kraft kommt aus dem Becken. Bei anderen, Männern vor allem, kommt sie mehr aus der Schulter, noch verstärkt durch den Kopf. Ich liebe das, wenn diese starken Kerle hier die Töne mit einem kräftigen Nicken markieren. Das sieht so souverän aus! Bei den Celli machen das sogar die Frauen. Und Belinari natürlich auch. Dann blitzt sein Hals auf. Wüsste gerne, wie die in der Beziehung die Rollen verteilen. Aber das werde ich wohl nicht mehr erfahren.

...das war noch nicht gut, das geht noch viel weicher, dija dija dija dija daaa dadaaaaaaa...

Als der Arzt mir die Eröffnung machte, dass ich aufhören müsste, brach für mich eine Welt zusammen. Mein erster Gedanke war: Ich kann doch gar nichts anderes!

Das ist keine Übertreibung: Nicht mal kochen kann ich. Habe Zeit meines Lebens vor allem Geige gespielt und mir den Posten hier erarbeitet. Man verdient nicht so schlecht in so einem Orchester, aber für mich war es auch immer anstrengend. Manche Kollegen, denen es eher zufällt, die nicht viel üben müssen, die haben es leichter.

...da da daa da da daa , wo waren in neunundneunzig die Klarinette, ihr konnt noch louder!

Tja, es ist schon erstaunlich, wie der spielt, bei den vielen Zigaretten, die er so raucht. Seine meist olivgrünen Poloshirts riechen oft danach. Die Zweite, Rebecca, steht zu Unrecht in seinem Schatten, ich finde ihren Ton noch weicher, noch runder.

...weiter bitte und schon mal vorab, in Takt vierundvierzig/fünfundvierzig ein deutliches Por-ta-to in die Celli, so wie es da steht...

Keiner hatte mir sagen können, dass ich zum Arbeitsamt muss, BEVOR ich arbeitslos werde. Das war ein Aufstand! Die wollten mir nicht mal das Geld zahlen. Und ich hatte es gewagt, nach einer Umschulung zu fragen! Rebecca brachte mich schließlich auf die Idee mit dem Shiatsu. Sie meinte, da könnte ich doppelt profitieren.

...dritter Satz, energico, Marita...

Die Levandovska steht auf Zehenspitzen, ihre Haare sind so wirr, dass ich Angst kriege, sie könnten über die Saiten fallen. Diesen dritten Satz spiele ich auswendig. Ich sehe im Augenwinkel, wie die Bögen aller Geigen gleichzeitig auf- und abwärts gehen. Meine Nachbarin schlägt klatschend die Seite um und wirkt ein wenig hektisch. Es ist das Finale. Es ist mein Finale.

Minutenlanger Applaus für die Solistin. Ich beteilige mich und checke dabei schon mal vorsichtig den Weg zum Ausgang.

Von hinten nähert sich jemand. Ich spüre es und stehe auf, aber er ist schon da. Thibaut nimmt mich einfach in den Arm.

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