Im Wesentlichen Nichts

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Im Wesentlichen Nichts
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Markus Saga

Im Wesentlichen Nichts

Im Wesentlichen Nichts

Markus Saga

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2019 Markus Saga

Cover & Konvertierung: Sabine Abels | www.e-book-erstellung.de

Die Liebe ist geduldig und freundlich.

Sie kennt keinen Neid, keine Selbstsucht,

sie prahlt nicht und ist nicht überheblich.

Liebe ist weder verletzend

noch auf sich selbst bedacht,

weder reizbar noch nachtragend.

Sie freut sich nicht am Unrecht,

sondern freut sich, wenn die Wahrheit siegt.

Diese Liebe erträgt alles, sie glaubt alles,

sie hofft alles und hält allem stand.

Die Liebe hört niemals auf.

1. Kor. 13, 4-8

Für Katharina. Du machst den Unterschied.

Inhalt

Teil I — Einige Monate vorher

Was soll das alles hier?

Kutterscholle in Kalifornien

Jesuslatschen

Teil II — Jahreswendezeit

Glückskekse lügen!

Falschparker aus dem Meer

Liebe, verwickelt

Teil III — Ein kurzer Sommer

Gimme High five

Schwanzlurche, Bongos, Ämter

Der Bodenschläfer

Persisches Sprichwort

Teil IV — Nach der Kälte

Kellerkinder und die Liebe

Familienbande

Eins

Erzähler

Ich heiße Martin. Zugegeben kein sonderlich spektakulärer Name, aber mein Leben war das auch nicht. Jedenfalls nicht, bis ich meinen Namensvetter getroffen habe. Ganz recht, es gibt zwei von uns. Warum ausgerechnet ich euch diese Geschichte erzähle? Wahrscheinlich, weil ich verrückt genug bin, dass ihr mir glaubt. Denn es geschehen ein paar überaus merkwürdige Dinge in diesem Buch. Wenn ich die nicht selber irgendwie mitbekommen hätte, dann würde ich sie wahrscheinlich für Blödsinn halten. Es wird übrigens eine ganze Zeit lang dauern, bis ich mich wieder zu Wort melde. Erst mal kriegt ihr es mit meinem Namensvetter zu tun. Und mit einem Traum, den er schon viel früher hatte. Bevor die ganze Sache wirklich losging.

Traum

Der Wolf hat ein blaues Fell und dunkelgelbe Augen, die leuchten. Der Weg, auf dem ich gehe, ist steinig. Eigentlich kann ich gar nicht drauf gehen. Die Steine sind viel zu groß und scharfkantig. Die Frau da vorne ist nackt. Ich müsste sie eigentlich auf die Arme nehmen, damit ihre Fußsohlen nicht verletzt werden. Sonst denke ich nichts. Das Tor auf der Hochebene ist offen. Ich sehe alte, sonnengebleichte Steine mit kleinen Rissen drin. Ich trete hindurch und bin alleine. Dann stehe ich vor einem Abgrund. Ich stürze mich hinunter. Statt unten aufzuklatschen, fliege ich. Hoch und tief und weit in den Himmel hinein. Ich kann das einfach so. Szenenwechsel. In der Wüste sitze ich an einem Feuer. Mir gegenüber ein Beduine. Indigoblaues Tuch, schwarze Augen. Das ist die schwärzeste Nacht, die ich jemals gesehen habe. Ich habe ja auch noch nicht viel gesehen. Dann schwimme ich durch ein Meer. Die Sonne über mir, die Luft ist blau. Ich schwimme wie ein Delfin bis zum Horizont. Ein tolles Gefühl. Am Horizont finde ich mich direkt vor der Sonne wieder. Ich stelle ihr eine Frage, die sie mir beantwortet. Sie ist ganz schön hell. Wieder bin ich woanders. Diesmal ist es ein Urwald, durch den ein Fluss fließt. Da sitze ich lange und höre dem Wasser zu. Im Grand Canyon stehe ich auf einer ewig hohen Steinsäule, die sich ganz alleine im Tal befindet. Und wieder fliege ich. Ich bin der König der Lüfte, weil ich weiß, dass ich niemals abstürzen werde. So etwas habe ich noch nie erlebt. Dann ruft mich eine Stimme zurück. Mist, verdammter. Ich will noch nicht und sauge mich fest in meinem Traum wie eine Zecke. Da ruft mich die Stimme schon wieder. Ob ich ihr vertrauen kann? Ich wage es und bin zurück am Tor. Mir gegenüber taucht ein steinernes Standbild auf. Statt da zu thronen, bewegt sich die Gestalt und umarmt mich. Ich finde mich in den Armen meiner Frau wieder und bin ganz überrascht.

Herr Grünwaldt

Als ich den Kopf hebe, sehe ich einen flüchtigen Schatten und warte auf eine Reaktion in meinem Hirn. Aber es scheint zu früh für eine Verbindung zu sein und so schließe ich die Augen wieder. Das schmatzende Geräusch irgendwo in der Ferne ist hoffentlich eine Kaffeemaschine, denkt es in mir, während gleichzeitig ein bollernder Tsunami in der Wand explodiert und mein Herz in einen wilden Galopp versetzt. Was um Himmels willen …? Da setzt mein Gehirn schlagartig wieder ein und mir wird übel bei dem Gedanken, was in der letzten Nacht wohl passiert sein mag. Das jedenfalls ist nicht meine Wohnung. Die Matratze, die mich beherbergt, schwimmt inmitten eines Meeres aus Dosen, Einkaufstüten, Klamotten, Zeitschriften und Zigarettenschachteln vor dem Tsunami davon. Die Bettwäsche immerhin ist aus Satin und dunkellila. Ich bin also wenigstens bei einer Frau gelandet. Das Bollern aus der Wand wird leiser und ich drehe meinen Kopf in Richtung der kaffeeduftenden Küche, aus der sonst leider nichts weiter zu vernehmen ist. Dann wuchte ich meinen gepeinigten Körper ans andere Ende der Matratze und durchsuche die leeren Schachteln auf dem Boden nach einer Zigarette, werde allerdings nicht fündig. Enttäuscht stehe ich auf, stolpere über meine Hose in Richtung eines arg ramponierten Holztisches, auf dem neben Asti Spumante und mehreren Feuerzeugen eine Probierpackung Drum liegt, aus der ich mir mit steifen Fingern eine Fluppe bastele. Nach den ersten Zügen betrachte ich mein Umfeld näher, vor allem die Skyline aus zernagten Gründerzeitvillen jenseits des schlierigen Fensters, aus dem mir ein paar verlorene Sonnenstrahlen entgegenkommen. Die Plastikuhr an der Wand zeigt fast halb eins und der Zeiger wandert unaufhörlich weiter.

„Kaffee?“

Die Frage kommt von schräg hinter meinem Kopf und ist rauer als die rissige Tapete daneben. Sie gehört zu einer blond gefärbten Dauerwelle, die feucht über schmalen Schultern endet. Ich grinse zurück und vergesse zu antworten, weswegen sich die Augenbrauen meiner Gastgeberin fragend nach oben in die sonnenbankgegerbte Stirn ziehen. Sie trägt ein langes One-Shoulder-Shirt über ansehnlichen Brüsten, viel Gold an den Fingern und nackte Beine. Die Füße stecken in pinken High Heels und der Kaffee ist gut. Bevor ich wieder draußen auf der Straße stehe, hat sie sogar einmal gelacht. Wenn auch nur, als ich mich mit Martin vorstelle und sie nach ihrem Namen frage. Ich weiß so gerade noch, in welcher Gegend wir letzte Nacht gestrandet sind und schlingere zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Das Fragezeichen, ob noch Wochenende ist, verfliegt mit immer mehr hastigen Beinen, Aktentaschen und Einkaufstüten, die meinen Heimweg kreuzen. Als endlich warmes Wasser über meinen Körper läuft und die Klamotten sicher in der Wäsche verstaut sind, kehrt etwas mehr Erinnerung an den verlorenen Abend zurück. Nichts davon bleibt. Aus den Resten im Kühlschrank stelle ich mir ein Frühstück zusammen und nehme ein paar der Glückspillen, die mein Arzt mir unlängst gegen die Bitterkeit in meinem Herzen verschrieben hat. Dann lege ich mich nackt ins Bett und bin bereit zu sterben.

Teil I

Was soll das alles hier?
Herr Grünwaldt

Die Petunien blicken mich vorwurfsvoll an. So als ob sie sagen wollten: „Siehst du, das hast du jetzt davon.“ Ich habe eben keinen grünen Daumen. Ob die Klematis sich mit der Passionsblume verträgt, ist auch noch nicht ausgemacht. Das war Margas Revier. Punkt, Aus, Ende. Bevor sie den Garten angelegt hat, gab es hier nur Gestrüpp und Unkraut, so weit das Auge blickte. Da hat sie drin gewütet. Als es mit uns bergab ging auch. Fuck.

Im Radio läuft wieder so ein Mist. Die Moderatorin ist krampfhaft bemüht, lustig zu sein. Die Show heißt „Schmier mir eine“. Es geht um Brötchen. Ich schlage besser die Zeitung auf, auch wenn da immer weniger Interessantes drin steht. Ich bin ein Fossil und kann eh nichts dran ändern. Die Todesanzeigen werden jetzt auch schon bunt und die Einschläge kommen heute besonders nahe: 1956 hier geboren und in Washington D.C. gestorben, 1958 (im Nachbarort), 1959 und ein Künstler, 1961 (!) mit einer zusätzlichen Anzeige seines Arbeitgebers, 1963 (!!), und eine Frau schießt mit 1969 sogar deutlich über das Ziel hinaus. Was bitte ist denn bloß los?

Das Wochenende ist zum Faulenzen da und zum Spaß haben. Ich klettere in meinen Lesesessel, der genau auf den Garten zeigt und blättere in der Beilage. Die müssen ganz schön um ihre Existenz kämpfen. Es gibt zu viele Apps, Blogs und Blubbs. Ich kenne mich da nicht so genau aus, aber es ist auf jeden Fall zuviel. In der Beilage gibt es zum Glück einen interessanten Artikel, denn unter der Eifel rumort es und da bin ich schließlich geboren. Die letzten Ausbrüche der Vulkane liegen zwar mehr als 10.000 Jahre zurück, allerdings ist die Wissenschaft offenbar überzeugt, dass von ihnen noch eine Gefahr ausgeht. Jetzt würde ich gerne Vater anrufen. Lea hat als Kind immer gesagt: „Opa weiß alles.“ Die Deutsche Vulkanologische Gesellschaft auf ihrem Gebiet wahrscheinlich auch, und in ihrem Memorandum, unterzeichnet von immerhin elf Wissenschaftlern, wird auf das Gefährdungspotenzial hingewiesen. Es gebe deutliche Hinweise darauf, dass sich in der Eifel in 40 bis 100 Kilometern Tiefe ein Bereich befinde, in dem die Temperatur deutlich höher sei als in der Umgebung. Das wiederum sei ein Hinweis für den Aufstieg von Magma aus dem Untergrund. Sagt ein Kölner Professor. Das gefährliche Gebilde heißt im Fachjargon Plume und im schlimmsten Fall droht der Eifel die Wiederholung des Laacher-See-Ereignisses von vor knapp 13.000 Jahren mit dem Ausbruch gigantischer Aschemengen, die alles unter sich begraben. Ich stelle mir den Laden von der alten Rosenke vor, der Halsabschneiderin. Oder besser noch: die Wassongs. Sitzen mit ihren Lästermäulern direkt auf der Plume, wie die mit Kawumm in die Luft geht. Das habt ihr jetzt davon. Ich musste mich bei denen sogar entschuldigen, obwohl die Wassong gelogen hat, nicht ich. Sie hat gesagt, ich bin so verzogen wie meine Mutter. Und dass wir die fette Töle beim Fußball abgeschossen haben, dafür konnte ich nichts. Schon wieder Buße tun. Diesmal musste ich den scheiß Rasen mähen. Bestimmt ein Hektar. Rache war Blutwurst und trug den Namen Carlo. Der gefährlichste Kampfkater vom ganzen Dorf. Die Töle sah danach echt gerupft aus und die Wassong hat fast einen Herzkasper gekriegt. Ach, was waren das herrliche Zeiten! Aber zurück zur Plume. Der Professor sagt, es lässt sich nicht mit 100-prozentiger Sicherheit ausschließen, dass es bereits nächste Woche zu einem Vulkanausbruch in der Eifel kommt. Mit globalen Konsequenzen, wie es scheint. Das geht dann doch zu weit, wenn mein geliebtes Rheinland so den Bach runtergeht. Rosenke hin, Wassong her. Ein paar Zeilen weiter bin ich wieder beruhigt: Es gibt zurzeit keine Anhaltspunkte für einen unmittelbar bevorstehenden Ausbruch, sagt der Professor. Was sich derzeit dort im Untergrund tue, unterscheide sich nicht signifikant von den Aktivitäten in den letzten 50 Jahren. Bis auf einige winzige Beben unlängst, die man nicht so genau einordnen könne. „Irgendetwas hat sich dort im Untergrund getan.“ Der Mann sollte Politiker werde, so wie der rumeiert, finde ich. Prompt empfiehlt er, die Feuerberge gründlicher und dauerhaft zu überwachen. Forschungsgelder, daher weht also der vulkanische Wind.

 

Esther

Ich hasse dieses Kopftuch. Und dann erst der Kittel. Ich komme mir vor wie unter einer Burka. Die Arme sind mit diesen Gummiüberziehern verunstaltet und statt Pumps trage ich Arbeitsschuhe. Sehr sexy. Am liebsten würde ich den ganzen Kram ausziehen und wegschmeißen. Aber dann würden sie ihre Zungen gar nicht mehr eingeklappt kriegen. Ich seh das ja bei meinen Kolleginnen. Bin gespannt, wann der Erste trotzdem versucht, mich anzumachen. Was ein Pack. Wenn einer versucht, mir unter den Kittel zu greifen, knall ich ihm eine. Verdammtes Geld.

Herr Grünwaldt

Nachdem der restliche Sonntag ohne größere Überraschungen vorbei gegangen ist, setze ich mich pünktlich um 07.20 Uhr am nächsten Morgen hinter das Steuer meines C-Klasse Mercedes, um kurze Zeit später den dichten Berufsverkehr auf dem Weg zu meinem Park and Ride-Stellplatz zu verfluchen. Ich sollte mir ein Fahrrad kaufen und die paar Meter bis zum Bahnhof als morgendliches Fitnesstraining nutzen. Zu Fuß dauert es zu lange. Mit dem Fahrrad würde es klappen. Nur den inneren Schweinehund überwinden, das muss doch gehen. Ich denke an meinen Religionslehrer mit den dicken Schweißflecken unter den Achseln. Und diese Helme sehen auch wirklich bescheuert aus.

Abseits des Pendlergewusels sitzt der Penner mit seiner Rotweintüte auf einer Bank. Kurz nach mir kommen die Bohnenstange mit dem ausgelaugten Alleinerziehendengesicht und der Gartenzwerg mit den Birkenstock-Latschen, der aussieht wie Nachbarschaftsstreit über herabfallendes Laub. Ein neues Graffiti verkündet:

Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen.

Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren,

aber aufgehört haben zu leben.

Bevor ich darüber nachdenken kann, kommt mit quietschenden Bremsen der Gegenzug und mit ihm die allmorgendliche Ladung Telekom-Mitarbeiter: die lange Mähne, wahrscheinlich IT-Freak, zwei Schlipsträger aus dem mittleren Management, diverse graue Mäuse und das Mädel, das schon von Weitem nach Drogenmissbrauch aussieht. Ich kann die Traurigkeit in ihren Augen sehen. Auch heute spreche ich sie nicht an. Wahrscheinlich bringe ich nie den Mut dazu auf. Sie würde mich vermutlich ohnehin falsch verstehen.

Ich sitze immer ganz vorne im Zug, wenn es geht. In den Zeiten des Terrors hat man da die besten Chancen, habe ich mal gelesen. Kofferbomber platzieren ihre tödliche Fracht offenbar am liebsten in der Zugmitte. Mir gegenüber sitzt der Flughafenmitarbeiter, neben ihn hat sich eine korpulente Rothaarige gezwängt. In Brühl steigt sie mitsamt ihrem Gucci-Imitat aus. Dafür entert das zivile Kirchenpersonal die Bildfläche: der pastorale Schwätzer, die Betschwester und die stumme Zeitungsleserin. Zwischen Köln-West und Hauptbahnhof geht es nur stockend und schließlich gar nicht mehr voran, weil eine Weiche klemmt. Die Störung erlaubt mir einen diskreten Blick auf das Sexparadies zur Rechten und den Gedanken, was eigentlich wäre, wenn ich jetzt einfach aussteigen würde. Armes Schwein. Doch da ruckelt der Zug auch schon wieder an. Pünktlich um 08.29 Uhr ziehe ich meinen Dienstausweis durch die Stechuhr und blicke auf exakt 98,24 Überstunden. Wenn ich den heutigen Tag dazurechne, habe ich die magische 100er-Grenze überschritten, die die Fleißigen von den Unentbehrlichen trennt.

Sekretärin

„Guten Morgen“, flöte ich.

Er sieht, dass etwas anders ist, kommt aber nicht direkt drauf. Männer! Er rätselt weiter. Die Haare! Wenn er nicht drauf kommt, rede ich heute nur das Nötigste mit ihm.

„Neue Frisur“, platzt es erleichtert aus ihm heraus.

Schwein gehabt, mein Lieber.

Während ich die Mails ignoriere, die sich über das Wochenende angesammelt haben (Spam oder übereifrige Kollegen), sortiert mein Chef die Morgenpost vom Freitag in den Abfall. Sein Leben ist so ausgefüllt wie die Tonne neben ihm.

„Ich sehe schon, wie dein Wochenende wieder war“, sage ich mit sorgenvollem Blick. Mütterlicher Instinkt.

„Ich hatte einen seltsamen Traum“, antwortet er und bietet mir einen Kaffee an. „War leider zu müde, um ihn aufzuschreiben. Ich weiß nur noch, dass ich in einem langen Gang unterwegs war. Der Boden bestand aus Linoleum und die tausend Türen waren alle verschlossen. Ich glaube, es war mein Studentenwohnheim. Ich bin dann auf einer endlosen Reihe leerer brauner Flaschen balanciert. Mit nackten Füßen. Ich musste dauernd aufpassen, dass ich nicht runterfalle.“

„Hat das nicht wehgetan?“

„Hm. Keine Ahnung. Unterbrich mich nicht.“

„Tschuldigung.“

„Jedenfalls, später habe ich in einem Sessel gesessen, so einem alten mit Cordbezug wie bei meinen Eltern. Und ein riesiger schwarzer Mann hat sich neben mich gedrängt. Dann weiß ich nur noch, dass sich zwei lange Beine um meinen Hals gewunden haben, wie Schlingpflanzen, und mich erwürgen wollten.“

„Der schwarze Mann?“

„Hä?“

„Ob es die Beine von dem riesigen schwarzen Mann waren?“

Wir müssen beide lachen.

„Nein, sie waren dünn und glatt rasiert.“

Er denkt einen Augenblick nach und blickt aus dem Fenster.

„Sie waren schön“, sagt er verträumt.

„Marga?“

„Weiß nicht. Nein, glaub ich nicht. Ich hab allerdings auch kein Gesicht gesehen. Ich bin schweißgebadet aufgewacht und hab mich erst mal umgezogen.“

Herr Grünwaldt

Ich hasse die Abteilungsleiterkonferenz. Die Chefin kommt wie alle wichtigen Leute chronisch zu spät, Kringe hat sein verlogenes Montagmorgen-Lächeln an und stinkt wieder bestialisch nach Fusel, und überhaupt würde ich am liebsten eine Bombe zünden. Ein herrlicher Tag nach einem erholsamen Wochenende, bereit zu neuen Taten! Ich schwafle was von der anstehenden Umstellung im PC-Bereich, Kringe verhaspelt sich im wachsenden Dickicht der selbstgebastelten Verwaltungsvorschriften, und nach dem üblichen Kantinengewürge erwartet mich ein freundlicher Agenturfuzzi mit modischer Brille, der unseren Behördenbrummer fit für die Zukunft machen soll. Für rund 3.000 Euro pro Tag bringt er uns weg vom Image des kommunalpolitischen Selbstbedienungsladens. Ich erhalte den ehrenvollen Auftrag, die gesammelten Erkenntnisse hausintern zu verankern und zusammen mit der Pressestelle für die erfolgreiche Umsetzung zu sorgen. Währenddessen kotzt der aufdringliche Mensch in mir und arbeitet dann an folgender kleiner Notiz:

In diesen Momenten ist alles leer in mir.

Ich spüre nichts, außer meinen Atem und

die Sinnlosigkeit meiner Existenz.

Es ist nicht die Leere, die ich mir gewünscht habe.

Die Leere, die man braucht, wenn das eigene Gefäß sich füllen soll.

Es ist die Leere kurz vor dem Tod eines Lebens, in dem es

im Wesentlichen um NICHTS gegangen ist.

Esther

In den meisten Bürokäfigen ist es still. Nur in der IT brennt Licht. Wahrscheinlich schauen sie sich wieder Pornos an. Der verdammte Putzwagen ist noch schwerer als sonst. Oder ich werde alt. Ich lasse ihn einfach hier stehen und flitze um die Ecke zur Männertoilette. Den wird schon keiner klauen. Wie das hier wieder aussieht! Müssen die immer daneben pinkeln? Die dicken Gummihandschuhe sind doch manchmal ganz gut. Ein Glück, dass die mir fast bis zu den Ellenbogen reichen. Wozu gibt es eine Klobürste? Wie im Kindergarten. Schnell noch den Schweinestall durchwischen und dann ab nach Hause.

Ich habe schon die Klinke in der Hand und bin froh, dass trotz fehlender Absperrung durch den Putzwagen keiner reingekommen ist, da springt mir die Tür förmlich entgegen.

Dong!!

Ich höre den Knall in meinem Kopf und denke, gleich falle ich um. Himmel, was hat das gescheppert. Scheiße!!! Ich muss mich festhalten. Die Tür ist still. Da stehe ich in meiner ganzen weiß-blau-gelben Herrlichkeit, klammere mich an das Waschbecken, während mir ein Horn aus der Stirn wächst und von draußen ein zaghaftes Hallo? zu hören ist.

Der Schlipsträger steht jetzt schräg hinter mir und fragt: „Alles in Ordnung?“

„Geht schon.“ Witzbold.

Ich bleibe über das Waschbecken gebeugt. Der glotzt mir bestimmt auf den Hintern und versucht krampfhaft abzuschätzen, ob ich eine Figur habe, für die es sich lohnt. Pech gehabt, du Schmock! Tarnung ist das halbe Leben.

„Soll ich einen Arzt holen?“

Jetzt hat er auch noch Angst, dass ich ihn verklage.

„Mir ist nur schwindelig. Bin gleich wieder soweit.“

Seine Stimme passt nicht zu dem, was ich denke. Ich drehe mich um. Er ist mittelalt, schon Geheimratsecken, die übliche Beamtenspießerkleidung. Er schaut mich an, als hätte er noch nie eine Frau gesehen. Aber mir gefallen seine Augen. Sehr sogar. Sie sind offen. Dahinter sehe ich ein Licht. Das kann doch nicht sein. Ich glaube, jetzt starre ich auch. Er schluckt schwer und wir sehen bestimmt beide höchst dämlich aus, wie wir uns hier anglotzen. Ich schiebe eine Haarsträhne zurück unter mein Kopftuch. Schade, dass er meine Haarfarbe nicht sehen kann. Henna. Heute morgen erst gemacht. Ob sie ihm gefallen würden? Oh Esther, jetzt krieg dich wieder ein, der ist unter Garantie verheiratet und hat Kinder in einem schmucken Einfamilienhaus im Grünen. Einen Ring trägt er allerdings nicht. Das sind die Schlimmsten.

Jetzt nimmt er auch noch meine Hand!

Seine ist ganz warm.

Ich kann nicht anders und schaue ihn wieder an. Wir kennen uns schon ewig, kein Zweifel.

 

„Es geht schon wieder“, sage ich und nehme meine Hand wieder aus seiner. „Es war meine Schuld.“

„Nein, nein“, stammelt er, „es war meine Schuld. Ich hätte nicht so hektisch die Tür aufstoßen dürfen. Entschuldigung.“

Ich muss lächeln, obwohl ich mich zurückhalten will. Am liebsten würde ich ihn umarmen. Fast schon rührend, wie er dasteht und nicht weiß, was er tun soll.

Ich drehe den Wasserhahn zu, nehme Putzeimer und Mopp und stehe auch ganz unschlüssig vor ihm.

„Ich müsste jetzt da raus“, sage ich schließlich.

Er nickt und tritt zur Seite.

„Was ist mit Ihrer Beule? Wir sollten sie kühlen.“

„So schlimm ist das nicht. Danke.“

Ich blicke mich noch einmal um und verschwinde dann. Mannomann.

Ich kann das nicht einordnen. Obwohl ich weiß, wer er ist. Alles um mich herum hat sich verschoben. Ihm geht es genauso. Dieses Licht kam von ganz weit her. Oder täusche ich mich?

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