Im Wesentlichen Nichts

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Indianer

Mein Name tut nichts zur Sache. Ich gehöre zu einer anderen Zeit. Einer Zeit, in der die Menschen noch an die Kraft von Visionen und Träumen geglaubt haben. Für uns gibt es keine klare Trennung zwischen Traum und Wirklichkeit. Deshalb bringen wir unseren Träumen auch Ehrfurcht, Gehorsam und Disziplin entgegen. Mutige Träumer können die Realität verändern. Mutter Erde ist uns heilig und alles, was auf ihr lebt. Wir wollten das Gleichgewicht der Kräfte bewahren. Der weiße Mann hat die meisten von uns ausgerottet oder vertrieben. Seht selbst, wohin das geführt hat. Und doch ist nicht alles verloren. Wir leben fort in allen, die es wollen. Ich selbst bin Schamane und gebe mein Wissen weiter an diejenigen, die dazu berufen sind. Die moderne Medizin kann viel, aber den einzelnen Menschen vergisst sie zu oft. Ich bin weder Priester noch Zauberer. Ich heile, weil ich den ganzen Menschen sehen kann.

Jesuslatschen
Herr Grünwaldt

Endlich hat sie einem Treffen zugestimmt! Sie heißt Esther, was mich nur noch mehr verwirrt. Ich bin aufgeregt wie bei meinem ersten Date und habe mir schon tausendmal überlegt, was ich sagen soll und überhaupt wie wir den Tag, oder besser den Nachmittag, verbringen. Bestimmt werde ich alles vermasseln. Die Schweißflecken unter meinen Armen wachsen schon. Ich bin eine Viertelstunde zu früh und brauche lange, um einen passenden Platz zu finden, an dem wir uns ungestört unterhalten können. Hoffentlich erkenne ich sie überhaupt. Ob sie das Kopftuch trägt? Entweder sie kommt vom Deutzer Bahnhof her oder vom Dom. Auf dem Platz lärmen ein paar Skater. Ist das wirklich der richtige Treffpunkt? Die Touristen fotografieren alles, was ihnen vor die Linse kommt. Die meisten Frauen tragen riesige Sonnenbrillen. Ist wohl diesen Sommer wieder Mode. Da spaziert die Hoffnung auf ein Leben in Hollywood gleich mit. Im Sommer sind die Frauen immer hübscher. Vor allem, wenn man wie heute viel Bein sehen kann. Ein besonders schönes Paar bewegt sich gerade vom Dom her Richtung Museum, bekleidet mit ein paar einfachen Sandaletten, die wir früher als Jesuslatschen verspottet haben. Dabei achte ich insgeheim immer auf die Füße. Schöne Füße zeigen, ob eine Frau sich wirklich pflegt. Sie trägt ein farbenfrohes Sommerkleid. Obwohl das Kleid nicht eng geschnitten ist, kann man sehen, dass ihre Brüste ziemlich groß und fest sind. Die Haare hat sie zu einem Zopf gebunden, das Gesicht wird von einer dieser großen Brillen dominiert. Auffällig viele Silberringe schmücken ihre Hände. Als sie vor mir steht und mir die Hand reicht, weiß ich nicht, was ich tun soll. Dann setzt sie die Sonnenbrille auf den Kopf und erst jetzt erkenne ich sie. Esther lacht.

„Entschuldigung. Ich habe dich wirklich nicht erkannt“, finde ich schließlich die Sprache wieder.

„So soll das auch sein“, sagt sie.

Ich verstehe nicht recht und bin froh, als der Kellner unsere Bestellung aufnimmt. Sie überrascht mich mit einem Weizenbier. Ich nehme einen Latte macchiato, denn ich möchte dieses Date auf keinen Fall versauen. Sogar ihre Füße sind schön.

„Ich will einfach nicht, dass mich jemand auf der Arbeit anmacht. Und wer will schon was von einer türkischen Putzfrau, nicht wahr?“

Sie steckt sich eine Zigarette an und lacht wieder.

„Also bist du gar keine Türkin, oder?“

„Und wenn es so wäre?“

„Wäre es egal“, sage ich.

„Und deshalb bin ich gekommen“, sagt sie.

Sie sieht mich anders an als sonst.

„Um auf deine Frage zurückzukommen“, sagt sie, „nein, ich bin keine Türkin. Ich bin eine deutsche Putzfrau.“

In ihrer Personalakte steht, dass sie 43 Jahre alt ist, nicht verheiratet, zwei Kinder im Alter von 17 (Alexander) und 15 Jahren (Johanna). Das alles interessiert mich nicht. Das Einzige, was mich wirklich interessiert, ist die Frage, warum ich mich in ihrer Nähe so wohl fühle.

„Und was machst du, wenn du nicht bei uns arbeitest?“ Klassische Frage. Ich könnte mich ohrfeigen. Was heißt überhaupt bei uns?

„Ich treffe mich mit interessanten Menschen“, antwortet sie.

Das hat schon lange niemand mehr gesagt.

„Ich bin nicht interessant.“ Vielleicht war ich es mal. Das ist lange vorbei.

Sie lacht, sagt nichts. Ihre Augen machen mir Mut.

„Ich habe eine Sehnsucht in mir, seit ich denken kann. Ich weiß nicht, woher sie kommt und warum sie da ist und was sie überhaupt ist. Ich weiß nur, dass sie immer da ist, auch wenn ich nicht immer an sie denke. Sie ist wie mein zweites Ich. Kannst du mir etwas über diese Sehnsucht sagen?“

Esther nickt und dann erzähle ich ihr mein halbes Leben.

„Du bist nicht alleine“, sagt Esther, als ich fertig bin und lächelt mich an.

Ich glaube, ich habe mich verliebt.

Esther

Rot ist die Farbe der Bishnoi-Frauen. Sie leben in der Wüste Thar, in der Provinz Rajasthan, manche auch in den umliegenden Provinzen Indiens. Eine wilde Gazelle frisst einem weiß gekleideten Bishnoi aus der Hand. Sie töten keine Tiere und fällen keinen Baum. Sie sind zufrieden, obwohl ihr Leben hart ist. Ich würde Martin gerne mitnehmen, wenn ich es noch einmal schaffen sollte. Dort herrscht eine unglaublich friedvolle Atmosphäre. Ein kleines Paradies. Wenn ich aus meinem Sumpf herauskomme, reise ich wieder hin. Diese Menschen leben in Harmonie mit der Schöpfung. Sie nehmen Mutter Erde zwar etwas weg, aber sie geben ihr auch viel zurück. Die Bishnoi haben mir damals neue Kraft gegeben. Sie haben sich dem Schutz allen Lebens verschrieben. Oft sind sogar angeschossene Tiere in das Dorf gekommen, in dem ich eine Zeit lang leben durfte. Die Tiere wissen, dass sie dort versorgt werden, obwohl die Wüste karg ist. Regen fällt nur selten und im Sommer klettern die Temperaturen bis auf 50 Grad. Trotzdem reift auf den trockenen Böden Weizen heran. Die Bauern arbeiten ohne Strom und fast ohne Wasser, und sie zäumen noch nicht mal ihre Felder ein. So können sich auch die wilden Tiere ihren Teil der Ernte holen. Den Viehzüchtern geht es nur um die Milch und sie pflegen ihre Tiere bis zum Tod. Tiere und Menschen gehören für die Bishnoi zu einer Familie, die Welt ist für sie eine Einheit. Und wir halten uns für fortschrittlich! Auch Martin weiß, dass er in der falschen Welt lebt. Vielleicht kann ich ihm helfen. Und er mir.

Esther

Wir treffen uns am Rhein. Der Himmel ist fast wolkenlos und die Temperaturen liegen immer noch jenseits der 20 Grad. Wir kaufen uns jeder ein üppig belegtes Sandwich und schlendern die Promenade entlang. Auf einer Mauer setzen wir uns nebeneinander und beobachten den Strand zu unseren Füßen, wo sich die ewigen Sonnenanbeter versammeln. Dazwischen mischen sich Spaziergänger und Strandläufer. Eine ältere Frau träg ihren Hund auf dem Arm.

„Mein Mann hatte viele Affären“, beginne ich unvermittelt.

Martin schaut mich irritiert an.

„Du musst mir das jetzt nicht erzählen“, sagt er. „Es reicht, wenn wir hier sitzen.“

„Ich weiß. Ich will es dir erzählen. Ist das in Ordnung für dich?“

„Ja, natürlich.“

„Ich habe seine Affären lange toleriert. Sehr lange. Ich wollte meinen Kindern nicht ihren Vater nehmen, verstehst du? Außerdem habe ich gehofft, dass er sich ändert. Erst als ich erkannt habe, dass seine Liebe zu mir erloschen war, da wusste ich, dass das nicht ewig so weitergehen konnte.“

Es ist schwerer, als ich dachte. Obwohl wir uns in der Zwischenzeit so oft getroffen haben und uns mittlerweile schon ziemlich gut kennen. Und obwohl er der ist, für den ich ihn von Anfang an gehalten habe.

„Ich habe mich so einsam gefühlt damals, so schwer, so unfähig, auch nur einen einzigen Schritt zu tun. Wenn meine Kinder nicht gewesen wären, ich hätte mich umgebracht.“

Er sitzt ganz beklommen da.

„Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe. Ich habe lange nur noch für meine Kinder gelebt. Viele Wochen und Monate. Wie ein Roboter. Ich habe mechanisch meine Arbeit gemacht, gelacht, wenn jemand anders gelacht hat, aber innen drin war ich wie tot. Ich habe jeden Abend lange gebraucht, um einzuschlafen, weil ich mich immerzu gefragt habe, was in unserem Leben schief gelaufen ist. Habe mir das Hirn zermartert und doch keine Antwort gefunden. Habe heimlich geweint und versucht, Lösungen, irgendwas zu finden, an dem ich mich festhalten konnte. Da war nichts. Nur meine Kinder haben mir Kraft gegeben. Sie sind die einzigen Menschen in meinem Leben, die mir immer schon mehr gegeben als genommen haben.“

Er scheint erschrocken über meine Worte zu sein.

„Und wann hat sich an all dem etwas geändert?“, fragt er.

„Als ich mitbekommen habe, dass mein Mann krumme Geschäfte machte und uns alle in Gefahr gebracht hat.“

„Was für krumme Geschäfte?“

„Ich habe das alles noch nie jemandem erzählt“, sage ich und sehe ihm dabei tief in die Augen. Es fühlt sich an, als wenn sich unsere Seelen langsam aufeinander zu bewegen.

„Mein Mann hatte eine Internetfirma. Es ging uns gut und wir hatten ein großes Haus, zwei Autos, Putzfrau, zwei oder drei Mal Urlaub im Jahr, du weißt schon. Irgendwann liefen die Geschäfte immer schlechter, seine Affären haben ihm auch nicht weitergeholfen, er wurde immer verschlossener, hat nicht mehr viel geredet und schließlich stand die Firma vor der Pleite. Die Situation schien ausweglos, als sich quasi über Nacht das Blatt scheinbar wendete. Zuerst war ich erleichtert. Dann war klar, dass er dubiose Geschäfte machte.“

Martin nimmt meine Hand.

 

„Er hat Leuten die Möglichkeit geboten, über seine Firma ihr Geld zu waschen und hat ihnen außerdem Zugang zu zwei Ministerien verschafft, für die er damals noch tätig war. Er hatte sich hoffnungslos übernommen und wusste wahrscheinlich einfach nicht, wie er anders aus der Sache herauskommen sollte.“

„Kennst du diese Leute persönlich?“, fragt Martin.

„Zum Glück nicht. Es war irgendeine islamistische Gruppierung. Wir haben Besuch vom Staatsschutz bekommen. Ich habe dann nur noch meine Kinder genommen und bin weg. Als es vorbei war, haben mir die Leute vom Staatsschutz versichert, dass für meine Kinder und mich keine Gefahr mehr bestehen würde.“

„Und dein Mann?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe die Scheidung eingereicht, er hat Unterhalt gezahlt und das war es dann mit unserer wunderbaren Ehe.“

Ich drücke seine Hand und lasse sie dann los.

„Zum Glück ist das schon über zehn Jahre her.“

„Und seitdem?“

„Seitdem bin ich ein anderer Mensch“, sage ich.

Wir haben uns erhoben und gehen weiter die Promenade entlang Richtung Park.

„Ich habe auch mal gedacht, dass meine Ehe ewig halten wird. Ich wollte meiner Frau die Sterne vom Himmel holen und musste dann eines Tages mit Schrecken feststellen, dass sie einen Mann gefunden hat, den sie mehr liebt als mich.“

Ich sehe ihn von der Seite an und spüre sein Herz.

„Ich habe die Verzweiflung in ihren Augen lange vorher gesehen. Aber ich habe auch weggesehen, weil mir meine Arbeit so wichtig war und weil ich gar nicht wusste, warum sie mir immer fremder geworden war in all den Jahren. Und sie hat meine Trauer wahrscheinlich genauso gesehen. Vielleicht hat sie am Anfang so wie ich gedacht, das legt sich schon wieder, das ist normal in einer so langen Ehe. Und dann hat sie sich um das Haus gekümmert und um den Garten und um unsere Tochter.“

Er bleibt stehen, stellt sich mitten auf dem Weg mir gegenüber und nimmt meine Hände in seine. Es ist gut.

„Sag mir, warum haben wir die Menschen verloren, die wir geliebt haben? Was haben wir falsch gemacht?“

„Ich weiß es nicht“, sage ich. „Ich weiß nur, dass es nicht um Schuld geht. Auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht. Wir tragen alle unseren Teil der Schuld. In Wahrheit geht es eher um die Frage, was wir hätten tun können. Das ist keine Frage der Schuld. Wir alle machen Fehler. Wenn wir anfangen, die fremde Schuld gegen die eigene Schuld aufzurechnen, dann haben wir nichts begriffen.“

„Um was geht es denn?“

„Um Vergebung. Um Liebe. Um die Kraft, etwas Positives zu tun, egal wie dunkel die Nacht ist.“

Da stehen wir mitten auf der Uferpromenade und umarmen uns. Ich bin glücklich. Zwischen uns fließt eine Energie, die mich ahnen lässt, was alles möglich ist.

Farshad

Lese Zeitung über merkwürdige Geschäfte katholischer Bank. Mehr als kölsche Klüngel das ist. Kein Spaß mehr. Christliche Bankmenschen versprechen Himmel auf Erde, aber finanzieren schräg. Lesen hier schwarz auf weiß. Mischen groß mit bei Verhütungspillen, Rüstungen und Tabak. Wer hätte gedacht das? Ein himmlisches Donnerwetter ich wünsche mir. Das Mindeste. Haben Kunden entschuldigt. Glauben ich soll so was. Ist Papier nicht wert, auf dem geschrieben wurde. Kurze Zeit später eingestiegen in Urangeschäft. Eingestiegen ist eingebrochen, oder? Diebe sind, das passt. Himmlisches Donnerwetter derweil in New York, wo Monstersturm halbe Stadt lahmgemacht. Eine Woche davor Flammeninferno bei San Francisco gewesen und bei mir um die Ecke kleiner Bach reißenden Strom probiert. Nachbarn ganze Wohnung verwüstet. Dinge geraten außer Kontrolle, ich finde.

Martin bei Training auch. Hat Lachen auf Gesicht wie verliebte Schaf. Sogar mit Igor machen Scherze. Haut wie weiches Ei und tanzt in Pause. Damen wundern auch, wo doch sonst oft so mürrisch. Wenn Liebe Kopf verdreht, rette sich wer kann. Wächst kein Gras mehr. Nehme ihn beiseite, neugierig ich bin. Macht komische Bemerkung über schöne Wetter. Dabei draußen Regen oft genug. Ich mir Sorgen über Fieber auf Stirn. Alles Spaß, natürlich. Gewünscht ich es ihm habe, lange schon. Frau in Leben eines Mannes gehört, sonst Blume in Topf geht ein. Und Martin gar kein Wasser gehabt für viele Monde. Fast verdurstet wäre, der arme Tropf. Jetzt Speicher wieder voll, wie scheint.

Herr Grünwaldt

Wir haben Großkampftag. Die gesamte Vorstandsriege ist hypernervös und selbstredend die Pressestelle. Die Chefin reagiert äußerst empfindlich auf mediale Schelte. Emsig umschwirren die adrett gekleideten Kolleginnen und Kollegen anwesende Journalisten und weitere Zielpersonen. Die Drachenlady kommt zuckersüß daher. Ihr Stellvertreter lauert auf seine Chance. Er muss vorsichtig sein. Einen unliebsamen Kollegen hat es kürzlich wegen des Vorwurfs sexueller Belästigung erwischt. Der schiebt jetzt auf einem unbedeutenden Außenposten seinen Dienst. Die Behörde ist ein vorbildlicher Arbeitgeber. Der Pressezirkus bringt am Ende das gewünschte Resultat. Die Drachenlady grinst zufrieden und ihr Stellvertreter wird auf seine nächste Chance warten müssen.

„Ändere etwas“, sagt Esther.

Sie ist zum ersten Mal einer Einladung zu mir nach Hause gefolgt. In ihrer weißen Bluse sieht sie aus wie ein Engel.

„Habe ich lange versucht. Die Protestler von gestern sind die machtgeilen Säcke von heute. Lass uns von was Schönem reden.“

Ich liebe es, wenn sie ihre Haare offen trägt. Leider habe ich noch nicht genug Wein getrunken, um ihr das zu sagen. Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Sofa und schaut mich nachdenklich an.

„Schreib es auf“, sagt sie.

„Was?“

„Schreib den Albtraum deines Lebens auf.“

Ich sehe sie an und hole zögernd Papier und Bleistift. Manchmal ist sie seltsam.

„Du brauchst nicht viel zu schreiben, du hast alle Freiheiten. Wichtig ist nur, dass du es so formulierst, wie du es im Moment fühlst.“

„Also gut“, sage ich und setze mich an den Esstisch. Wie früher bei den Hausaufgaben. Da war die Welt noch in Ordnung. Ich muss später anfangen. Auch während des Studiums stand mir die Welt noch offen. Irgendwann ist mir mein Leben dann weggekippt.

„Schreib einfach“, lacht Esther, die sieht, dass ich über dem leeren Blatt Papier brüte.

„Ja doch“, sage ich. „Hetz mich nicht.“

„Es muss nicht druckreif sein“, sagt sie unbeeindruckt. „Nur ehrlich.“

Also gut. Auch wenn es weh tut.

Drehbuch meines Albtraums

Ich habe den Job damals angenommen, weil ich dachte, ich würde endlich einen Platz finden, wo ich bleiben kann. Außerdem musste ich ja schließlich meine Familie versorgen. Mit Ende 30 hat man nicht mehr so viele Alternativen. Zuerst hat es auch geklappt. Aber meine neue Chefin hat mir kein Vertrauen geschenkt und nach einem Anlass gesucht, um mich abzusägen. Ihre Freundlichkeit war nur gespielt. Sie wollte mich von Anfang an durch die Drachenlady ersetzen. Ich habe schließlich ihr Angebot angenommen, auf einen anderen Posten zu wechseln. Jetzt sitze ich auf einem Abstellgleis. Die Arbeit, die ich heute mache, interessiert mich überhaupt nicht. Irgendwann werden sie mich endgültig erledigen. Dann sitze ich auf der Straße.

Esther, die inzwischen Tee gekocht hat, setzt sich neben mich und liest durch, was ich da in aller Kürze zu Papier gebracht habe. Ich hätte noch viel mehr schreiben können. Das muss reichen.

„Sehr gut“, sagt sie.

Was ist daran sehr gut?

„Du hast aufgeschrieben, was du für deinen Albtraum hältst“, sagt sie und wieder möchte ich sie mitten auf den Mund küssen.

„Und jetzt schreib bitte dieses Drehbuch deines Albtraums um zu einem Drehbuch deiner ganz persönlichen Heldengeschichte.“

Ich bin mir nicht sicher, wie sie das meint und denke an die Spinnereien meiner Jugend, als ich Rockstar gewesen bin oder König Artus.

„Was ist dein größter Wunsch?“, fragt sie und setzt schnell nach: “Rein beruflich.“

„Das ist unrealistisch“, antworte ich.

„Denk nicht darüber nach, was realistisch ist oder nicht, sondern erinnere dich an deine Träume. Erzähl mir, wie das, was passiert ist, dir auf dem Weg zu deinem Traum geholfen hat.“

Natürlich ist mein größter Traum nicht die Arbeit in der Behörde gewesen. Wer, außer einer Handvoll Glückspilzen, kann schon als Schriftsteller leben? Und dann noch eine Familie versorgen? Ich habe mir das schnell aus dem Kopf geschlagen. Nun gut, ich werde mal träumen.

Wie mein Lebenstraum begann

Ich habe die Stelle als Pressechef angenommen und schon bald gemerkt, dass ich auch dort nicht glücklich werde. Ständig musste ich mich gegen Intrigen wehren und aufpassen, dass mir niemand in den Rücken fällt. Ich wusste schon sehr bald, dass auch der letzte Rest an Kreativität in mir endgültig ersticken würde, wenn ich dort bleibe. Ich war unzufrieden, konnte es allerdings nicht offen sagen und meine Ehe hat darunter gelitten. Meine neue Chefin hat keinen Traum zerstört, denn der war schon vorher kaputt. Der neue Posten hat mir endgültig gezeigt, dass ich auf meiner Arbeit falsch bin.

Ich setze den Stift ab, denn jetzt geht es plötzlich nicht mehr um die Vergangenheit, sondern um meine Zukunft.

Deshalb habe ich gekündigt und ein Buch geschrieben, denn das war schon immer mein Traum. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich den Mut gehabt, ins kalte Wasser zu springen, um mir meinen Lebenstraum zu erfüllen.

„Das ist doch idiotisch“, sage ich. „Dann bin ich arbeitslos. Wie soll das gehen? Ich zahle Marga Unterhalt, das Haus ist auch noch nicht schuldenfrei und Leas Studium wird sich sicher nicht von selbst zu Ende finanzieren.“

„Beruhige dich“, sagt Esther und legt ihre Hand auf meinen Arm. „Du sollst dich nicht ins Unglück stürzen. Es geht erst einmal darum, dass du dir bewusst wirst, was dein Lebens­traum ist.“

„Das weiß ich doch“, sage ich.

„Ach ja? Das liest sich beim Albtraum noch ganz und gar nicht so. Da bist du ja noch nicht einmal dir selbst gegenüber ehrlich gewesen.“

„Es ist einfach unrealistisch“, blaffe ich zurück und es tut mir leid.

„Geschenkt“, sagt sie. „Es geht mir darum, dass du deine Situation ehrlich und ohne Selbstmitleid einschätzt. Und deine Zukunft ohne Angst planst.“

„Wieso habe ich Selbstmitleid?“

„Weil du dich als Opfer siehst“, sagt sie.

„Das bin ich auch“, fauche ich wütend zurück.

„Es liegt an dir“, sagt sie, immer noch ruhig. „Du kannst deine Geschichte umschreiben. Vertraue dir selbst.“

Das klingt schon wieder so, als hätte sie das irgendwoher. Als ob sie eine Quelle weiser Sprüche kennt. Eigentlich wollte ich nur mit ihr schlafen.

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