Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit

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Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit
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MARIE BRENNAN

DER ONYXPALAST

SCHICKSALSZEIT

Ins Deutsche übersetzt von

Andrea Blendl



Die deutsche Ausgabe von DER ONYXPALAST: SCHICKSALSZEIT

wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler; Übersetzung: Andrea Blendl;

verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;

Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: Peter Schild;

Satz: Rowan Rüster/Cross Cult; Coverillustration: Martin Frei;

Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice.

Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe: ONYX COURT 4: WITH FATE CONSPIRE

Copyright © 2011 by Bryn Neuenschwander

German translation copyright © 2020 by Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-075-5 (September 2020)

E-Book ISBN 978-3-96658-076-2 (September 2020)

WWW.CROSS-CULT.DE

DRAMATIS PERSONAE


Sterbliche

Diejenigen, die mit einem Sternchen markiert sind,

sind historisch belegt

Iren in Whitechapel

Elizabeth O’Malleyeine junge Frau

James O’Malleyihr Vater, ein Gefangener in Newgate

Owen Darraghein Junge, seit sieben Jahren vermisst

Maggie Darraghseine Schwester

Mrs. Darraghseine Mutter, eine Invalidin

Fergus Boyleein Tunichtgut

Vater Tooleyein Priester

Dónall Whelanein Feendoktor

Cromwell Road Nr. 35

Louisa Kitteringeine rebellische junge Frau

Mrs. Kitteringihre Mutter

Mrs. FowlerHaushälterin bei den Kitterings

Ned SayersHausdiener bei den Kitterings


Gesellschaft für Psychische Forschung

*Frederic William Henry Myersein spiritistischer Forscher

*Henry Sidgwicksein Freund, ebenfalls ein Forscher

*Eleanor SidgwickFrau von Henry, ebenfalls eine Forscherin

*Annie MarshallFrau von Myers’ Cousin, jetzt verstorben

Iris Wexfordein Medium

Scotland Yard

*Adolphus WilliamsonOberster Inspektor der irischen Sondereinheit

*Patrick QuinnPolizeisergeant in der irischen Sondereinheit

*Augusta Ada KingMathematikerin und Gräfin von Lovelace, jetzt verstorben

*Charles Babbageein Erfinder, jetzt verstorben

*Eliza Carterein Mädchen aus West Ham

Mrs. Chaseeine Witwe aus Islington

Eveleen MyersEhefrau von Frederic Myers und Fotografin

Delphia St. ClairEhefrau von Galen St. Clair, jetzt verstorben

Francis Merrimanein sterblicher Seher und Begründer des Onyxpalasts, jetzt verstorben

Prinzen vom Stein in chronologischer Reihenfolge

Sir Michael Deven

Sir Antony Ware

Dr. John Ellin

Lord Joseph Winslow

Sir Alan Fitzwarren

Dr. Hamilton Birch

Galen St. Clair

Matthew Abingdon

Colonel Robert Shaw

Geoffrey Franklin

Henry Brandon

Alexander Messina

Benjamin Hodgeder derzeitige Prinz

Fae
Der Hofstaat von London

LuneKönigin des Onyxhofs

Sir Peregrin ThorneHauptmann der Onyxwache

Sir CerenelLeutnant der Onyxwache

Dame Segraineeine Ritterin der Onyxwache

Dame Irrithein Irrwisch und eine Ritterin aus dem Tal des Weißen Pferdes

AmadeaOberste Kammerherrin des Onyxhofs

Tom Togginein Hauself; Leibdiener des Prinzen vom Stein

Knochenbrecherein Gefolgsmann des Prinzen

Invidianaeine ehemalige Königin, jetzt verstorben

Der Goblinmarkt

Nadrettein Verbrecherboss

Der Tote Ricksein Hund, ein Skriker

Cymaeine ehemalige Lady, bei Nadrett verschuldet


Orleggein Thrumpin im Dienst von Valentin Aspell

Greymalkinebenfalls im Dienst von Valentin Aspell

Pohein chinesischer Fae, Verbündeter von Lacca und Wirt einer Opiumtaverne

HafdeanWirt im Crow’s Head

Schwarzzähnige MegHexe aus dem Fluss Fleet

Kohlen-Eddieein wenig intelligenter Puck

Die Galenische Akademie

Abd ar-Rashidein Dschinn aus Istanbul und oberster Gelehrter der Akademie


Yvoirein französischer Fae und Gelehrter in Fotografie

Kutuhalein Vanara aus Indien

Fjotharein Svartálfr aus Skandinavien

Rosamund Goodemeadeeine hilfsbereite Braunelfe

Gertrude Goodemeadeebenfalls eine hilfsbereite Braunelfe und Rosamunds Schwester


SuspiriaBegründerin des Onyxhofs, jetzt verstorben

Vater ThemseGeist des Flusses Themse

»Heimat ist ein Name, ein Wort, ein starkes. Stärker, als ein Magier je sprach oder ein Geist je in der stärksten Beschwörung antwortete.« CHARLES DICKENS, Martin Chuzzlewit

Inhalt

PROLOG

DER ONYXPALAST, LONDON

29. Januar 1707

TEIL EINS Februar-Mai 1884

DIE INNENSTADT VON LONDON

26. Februar 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

2. März 1884

WHITECHAPEL, LONDON

4. März 1884

FLUSSUFER, LONDON

10. März 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

10. März 1884

ISLINGTON, LONDON

14. März 1884

DER GOBLINMARKT, LONDON

19. März 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

 

24. März 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

26. März 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

27. März 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

30. März 1884

ADELAIDE ROAD, PRIMROSE HILL

6. April 1884

WHITE LION STREET, ISLINGTON

11. April 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

11. April 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

11. April 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

12. April 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

12. April 1884

DER HOF DES PRINZEN, ONYXPALAST

12. April 1884

ST.-ANNES-KIRCHE, WHITECHAPEL

13. April 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

14. April 1884

IN DEN ABWASSERKANÄLEN

1. Mai 1884

PRAED STREET, PADDINGTON

7. Mai 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

8. Mai 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

9. Mai 1884

TEIL ZWEI Mai - August 1884

WHITE LION STREET, ISLINGTON

16. Mai 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

19. Mai 1884

NACHTGARTEN, ONYXPALAST

22. Mai 1884

SHADWELL, LONDON

24. Mai 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

26. Mai 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

27. Mai 1884

FLUSSUFER, ONYXPALAST

28. Mai 1884

DER HOF DES PRINZEN, ONYXPALAST

29. Mai 1884

NEWGATE, INNENSTADT VON LONDON

31. Mai 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

31. Mai 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

1. Juni 1884

ROSENHAUS, ISLINGTON

6. Juni 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

6. Juni 1884

DER HOF DES PRINZEN, ONYXPALAST

9. Juni 1884

Erinnerung: 30. März 1859

ARBEITSHAUS ST. MARY ABBOTS, KENSINGTON

18. Juli 1884

FLUSSUFER, ONYXPALAST

24. Juli 1884

HYDE PARK, KENSINGTON

25. Juli 1884

ARBEITSHAUS ST. MARY ABBOTS, KENSINGTON

27. Juli 1884

INNENSTADT VON LONDON

30. Juli 1884

WHITE LION STREET, ISLINGTON

6. August 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

6. August 1884

INNENSTADT VON LONDON

6. August 1884

ALDERSGATE, ONYXPALAST

6. August 1884

DIE INNENSTADT VON LONDON

6. August 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

6. August 1884

TEIL DREI August – Oktober 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

6. August 1884

ALDERSGATE, ONYXPALAST

6. August 1884

LECKHAMPTON HOUSE, CAMBRIDGE

12. August 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

13. August 1884

EAST END, LONDON

14. August 1884

HOF DES PRINZEN, ONYXPALAST

15. August 1884

WHITECHAPEL, LONDON

16. August 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

17. August 1884

ST. ANNES-KIRCHE, WHITECHAPEL

22. August 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

22. August 1884

Erinnerung: 14. September 1877

ST. ANNES-KIRCHE, WHITECHAPEL

22. August 1884

HARE STREET, BETHNAL GREEN

22. August 1884

WHITE LION STREET, ISLINGTON

24. August 1884

PADDINGTON STATION, PADDINGTON

25. August 1884

WEST HAM, LONDON

26. August 1884

SCOTLAND YARD, WESTMINSTER

27. August 1884

WEST HAM, LONDON

2. September 1884

DER HOF DES PRINZEN, ONYXPALAST

2. September 1884

DER LONDONSTEIN, ONYXPALAST

2. September 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

7. September 1884

Erinnerung: 29. Mai 1870

DER LONDONSTEIN, ONYXPALAST

16. September 1884

DER LONDONSTEIN, ONYXPALAST

4. Oktober 1884

 

DAS ANGEL, ISLINGTON

6. Oktober 1884

OAKLEY STREET, CHELSEA

6. Oktober 1884

DIE U-BAHN, INNENSTADT VON LONDON

6. Oktober 1884

DER NEUE PALAST, LONDON

31. Oktober 1884

EPILOG

BURLINGTON HOUSE, PICADILLY

2. September 1899

DANKSAGUNG

PROLOG


DER ONYXPALAST, LONDON
29. Januar 1707

Wie eine Wolke ätherischer Glühwürmchen schwebten die Lichter mitten in der Luft. Die Ecken des Raums lagen im Schatten. Jegliche Beleuchtung hatte sich in die Mitte, zu diesem Fleck vor dem offenen leeren Kamin zusammengezogen und auf die Frau, die dort schweigend stand.

Ihre rechte Hand bewegte sich mit geistesabwesender Sicherheit und dirigierte die Lichter in Position. Die linke hing steif an ihrer Seite, eine starre Klaue, die von ihrem Handschuh nur unzureichend bedeckt wurde. Ohne Kompass oder Lineal, nur von tief greifendem Instinkt geleitet, formte sie die Lichter zu einer Karte. Hier der Tower von London. Im Westen die St.-Pauls-Kathedrale. Die lange Linie der Themse unter ihnen und der Walbrook, der aus dem Norden herabfloss, um sich mit ihr zu vereinen, und unterwegs am Londonstein vorbeikam. Und um das Ganze herum, mit Berührung des Flusses auf beiden Seiten, der ungleichmäßige Bogen der Stadtmauer.

Für einen Augenblick schwebte er vor ihr, strahlend und perfekt. Dann griffen ihre Fingerspitzen nach oben zu einem nordöstlichen Punkt an der Mauer und schnippten einige Lichter weg.

Als sei dies ein Ruf gewesen, öffnete sich die Tür hinter ihr. Nur eine Person an diesem gesamten Ort hatte das Recht, sie unangekündigt zu stören, und so blieb sie, wo sie war, und betrachtete die jetzt mit einem Makel behaftete Karte. Sobald die Tür geschlossen war, sprach sie, wobei ihre Stimme in der Stille des Raums perfekt widerhallte. »Du warst nicht in der Lage, sie aufzuhalten.«

»Es tut mir leid, Lune.« Joseph Winslow trat vor, an den Rand des kühlen Lichts. Es verlieh seinen gewöhnlichen Gesichtszügen einen seltsamen Schein. Was in der Helligkeit des Tages wie Jugend gewirkt hätte – mehr Jugend, als er für sich beanspruchen sollte –, verwandelte sich unter solcher Beleuchtung zu fremdartiger Alterslosigkeit. »Sie ist zu sehr im Weg. Ein Hindernis für Karren, Reiter, Kutschen, Fußgänger … sie dient keinem Zweck mehr. Keinem, den ich ihnen erklären kann, zumindest.«

Blau spiegelte sich im Silber ihrer Augen, als sie mit ihnen der Linie der Mauer folgte. Die alte römische und mittelalterliche Befestigung, über die Jahrhunderte oft geflickt und verändert, aber in ihrer Essenz immer noch die Grenze des alten London.

Und ihres Reichs, das verborgen darunter lag.

Sie hätte dies kommen sehen sollen. Sobald es unmöglich wurde, noch mehr Menschen in die Grenzen von London hineinzustopfen, fingen sie an, sich außerhalb der Mauern auszubreiten. Flussaufwärts bis Westminster, in riesigen Häusern entlang des Ufers und in seuchengeplagten Mietshäusern dahinter. Flussabwärts zu den Schiffswerften, wo Seeleute unter den Lagerhäusern voller Güter aus fremden Ländern ihren Lohn versoffen. Auf der anderen Seite des Flusses in Southwark und nördlich der Mauer in den Vorstädten – doch im Herzen davon lag immer die Innenstadt von London. Und während die Jahre verstrichen, wurden die sieben großen Tore immer verstopfter, bis sie die endlosen Ströme der Menschheit, die herein- und hinausflossen, nicht mehr durchlassen konnten.

Im gedämpften Tonfall eines Mannes, der einen Arzt um eine Auskunft bat, die seiner Befürchtung nach eine schlechte Nachricht wäre, fragte Winslow: »Was wird das mit dem Onyxpalast machen?«

Lune schloss die Augen. Sie brauchte sie nicht, um ihr Reich anzusehen, den Feenpalast, der sich unter der Quadratmeile erstreckte, die von der Mauer eingeschlossen wurde. Jenes schwarze Gestein hätte ihre eigenen Knochen sein können, denn eine Feenkönigin herrschte durch die Verbindung zu ihrem Reich. »Ich weiß es nicht«, gestand sie ein. »Vor fünfzig Jahren, als das Parlament General Monck befahl, die Tore aus ihren Angeln zu reißen, befürchtete ich, dass es dem Palast schaden könnte. Dabei kam nichts heraus. Vor vierzig Jahren, als das Große Feuer die Eingänge zu diesem Ort verbrannte und sogar die St.-Pauls-Kathedrale, befürchtete ich, dass wir uns davon nicht erholen würden. Das wurde wiederaufgebaut. Aber jetzt …«

Jetzt hatten die Sterblichen von London vor, einen Teil der Mauer einzureißen – ihn einzureißen und nicht zu ersetzen. Weil die Tore ausgebaut waren, konnte sich die Stadt im Krieg nicht länger schützen. In Wirklichkeit hatte sie auch keinen Bedarf mehr, das zu tun. Was die Mauer selbst zu wenig mehr als einer historischen Kuriosität machte und zu einem Hindernis für das Wachstum von London.

Vielleicht würde der Palast dennoch stehen bleiben, wie ein Tisch, dem ein Bein weggebrochen war.

Vielleicht aber auch nicht.

»Es tut mir leid«, sagte Winslow erneut und hasste die Unzulänglichkeit der Worte. Er war ihr sterblicher Gefährte, der Prinz vom Stein. Es war sein Privileg und seine Pflicht, jene Punkte zu überwachen, an denen sich Feenlondon und das sterbliche London rieben. Lune hatte ihn gebeten, die Zerstörung der Mauer zu verhindern, und er war gescheitert.

Lunes Haltung war selten etwas anderes als perfekt, doch irgendwie richtete sie sich noch mehr auf und straffte die Schultern, sodass diese eine Linie bildeten, die zu erkennen er gelernt hatte. »Es war eine unmögliche Aufgabe. Und vielleicht eine unnötige. Der Palast hat schon früher Schwierigkeiten überlebt. Aber wenn sich daraus irgendwelche Probleme ergeben, dann werden wir sie lösen, genau wie wir es immer getan haben.«

Sie bot ihm ihren Arm an, und er nahm ihn und führte sie mit förmlicher Höflichkeit aus dem Raum. Zurück zu ihrem Hofstaat, einer Welt aus Feen, die sowohl freundlich als auch grausam waren, und den wenigen Sterblichen, die von ihrer Präsenz unter London wussten.

Hinter ihnen, allein im leeren Raum, schwebten die Lichter wieder frei, und die Karte löste sich zu bedeutungslosem Chaos auf.

TEIL EINS
Februar-Mai 1884


»Ich erblicke London; ein menschlich schreckliches Wunder Gottes!« WILLIAM BLAKE

»Jerusalem: The Emanation of the Giant Albion«

»Oh Stadt! Oh neuester Thron! Wo ich erzogen wurde, um ein Mysterium aus Lieblichkeit für alle Augen zu sein, die Zeit ist fast gekommen, da ich dieses glorreiche Heim aufgeben muss für neue Entdeckungen: Bald werden jene strahlenden Türme sich mit dem Wink ihres Zauberstabs verfinstern. Verfinstern, und schrumpfen und zu Hütten erbeben, schwarze Flecken in einer Wüste aus ödem Sand, niedrig gebaut, mit Lehmwänden, barbarische Siedlung, wie verändert von dieser schönen Stadt!« ALFRED, LORD TENNYSON »Timbuctoo«

»Eine große Stadt ist wie ein Wald– es ist nicht ihre Gesamtheit, die man über dem Boden sieht.« MR. LOWE, Parlamentsmitglied Ansprache bei der Eröffnung der Metropolitan Railway, abgedruckt in der Times, 10. Januar 1863

Mit genug Zeit kann alles vertraut genug werden, dass man es ignorieren kann.

Sogar Schmerz.

Die sengenden Nägel, die durch ihr Fleisch getrieben wurden, schmerzen so, wie sie es immer getan haben, doch jener Schmerz ist bekannt, gezählt, in ihre Welt aufgenommen. Wenn ihr Körper auf einer Streckbank gefesselt ist, Muskeln und Sehnen zerrissen und von der Folter vernarbt, hat ihn zumindest in letzter Zeit niemand weiter gestreckt. Dies hier ist vertraut. Sie kann es ignorieren.

Aber das Unvertraute, das Unvorhersehbare, stört diese Missachtung. Dieser neue Schmerz ist unregelmäßig und intensiv, nicht die stetige Qual von zuvor. Er ist ein Messer, das in ihre Schulter getrieben wird, eine plötzliche Pein, die wieder durch sie sticht. Und wieder. Und wieder.

Sie kriecht immer näher an ihr Herz.

Jeder neue Stich erweckt all den anderen Schmerz, jeden blutenden Nerv, den sie zu akzeptieren gelernt hat. Nichts kann noch ignoriert werden. Alles, was sie tun kann, ist es zu ertragen. Und das tut sie, weil sie keine Wahl hat. Sie hat sich an diese Qual gebunden, mit Ketten, die von keiner Kraft außer dem Tod gesprengt werden können.

Oder vielleicht der Erlösung.

Wie ein Patient, der von einer Seuche niedergestreckt wurde, wartet sie, und in ihren wachen Augenblicken betet sie um ein Heilmittel. Kein Arzt existiert, der diese Krankheit behandeln kann, aber vielleicht – wenn sie lange genug aushält – wird sich jemand jene Wissenschaft selbst beibringen und sie vor diesem schrecklichen, schrittweisen Tod retten.

Das hofft sie, und sie hofft es schon länger, als sie sich erinnern kann. Doch jeder Stich bringt das Messer so viel näher an ihr Herz.

So oder so, sie wird nicht viel länger durchhalten müssen.