Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit

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From the series: Der Onyxpalast #4
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Er tapste darauf zu, wobei er sich im Unterholz hielt. Ja, da war Licht vor ihm, hinter diesem Hain aus kränkelnden Apfelbäumen. Er ließ sich auf den Bauch sinken und kroch eine Pfote nach der anderen vorwärts, bis er etwas sehen konnte.

Die Sterbliche war kaum mehr als ein Mädchen, höchstens fünfzehn Jahre alt. Sie saß mit dem Rücken an einem Steinblock, die Knie eng an die Brust gezogen. Der Tote Rick fragte sich, ob sie wusste, dass sie gerade auf einem Grab saß. Ihr Kleid war relativ fein. Sie sollte lesen können – aber Ranken waren über die Inschrift gewachsen, sodass man diese leicht übersehen konnte, wenn man nicht danach suchte. Und ihre Aufmerksamkeit lag anderswo, als sie die Umgebung nach Anzeichen einer Bedrohung absuchte.

Anzeichen von ihm.

Feenlichter schwebten über der kleinen Lichtung, als würden sie versuchen, sie zu trösten. Sie besaßen gerade genug Bewusstsein, um auf die Wünsche anderer zu reagieren. Die Furcht des Mädchens hatte sie vielleicht angezogen. Oder hatte sie sie zu sich gerufen? Stell keine Fragen, knurrte der Tote Rick in sich hinein. Betrachte sie nicht als Person – erledige einfach deine Aufgabe.

Das Knurren entkam seiner Schnauze, ohne dass er es wollte. Die Sterbliche japste und ging in eine wachsame Hocke.

Sie hätte nicht im Licht sitzen sollen. Sie wird halb geblendet sein, sobald sie wegrennt.

Umso besser für ihn.

Der Tote Rick knurrte erneut, diesmal mit Absicht. Da war eine Lücke in den Hagedornbüschen. Er schlich hindurch, machte kein Geräusch, dann fletschte er scharf die Zähne. Daraufhin schlich er weiter: noch ein Knurren. Für einen verängstigten Verstand würde es klingen, als sei sie umzingelt.

In jeder Richtung außer einer: dem überwucherten Pfad, der vom Grab wegführte. Und tatsächlich sprintete sie los.

Er rannte beinahe schon, ehe sie sich bewegte. Sie war menschlich und trug ein Kleid. Er war ein Hund und kannte seinen Weg durch den Garten. Ein umgefallener Baum hatte schon vor Jahren den Pfad nach links blockiert, sodass sie, selbst wenn sie in diese Richtung lief – und er hörte, wie sie es versuchte –, am Ende nach rechts laufen musste. Und der Tote Rick war dort und wartete darauf, sie weiter zu hetzen.

Nadrett hatte ihn so oft geschickt, um dies zu tun, dass es beinahe Routine war. Aber das Mädchen überraschte ihn. Sie stürzte sich durch ein wucherndes Stechpalmengebüsch, zischte, als dieses sie kratzte, und nahm einen weniger offensichtlichen Pfad. Der Tote Rick fluchte innerlich. Zwei Kerle, die jeden der anderen Eingänge bewachten – aber bewachten sie alle davon? Oder nur diejenigen, die noch irgendwohin führten? Der Torbogen vor ihm öffnete sich in einen Korridor, der ungefähr fünfzig Fuß weiterführte, bis zu einer kaputten Stelle des Onyxpalasts.

Es waren fünfzig Fuß gewesen, als er das letzte Mal nachgesehen hatte. Vielleicht waren es jetzt weniger.

Der Tote Rick sprintete weiter. Ein ausgetrockneter Springbrunnen in der Nähe der Wand schenkte ihm einen Vorteil. Er sprang an der riesigen Fratze in dessen Mitte hoch, während seine Zehennägel am gezwirbelten Gestein kratzten, und stürzte sich durch die Luft zum Torbogen. Er landete mit einem gewaltigen Krachen, aber das diente ihm ganz gut: Er hörte, wie das Mädchen stolperte und fiel und sich dann hektisch aufrappelte und in die andere Richtung rannte, weg von was auch immer für einem riesigen Monster, das am Torbogen lauerte.

Riesig – nein. Monster – ja. Genau das bin ich geworden.

Der Tote Rick schüttelte sich, als könne er seine düstere Laune abschütteln wie Wasser. Wenn er hier scheiterte, würde Nadrett dafür sorgen, dass er mehr als nur düster gelaunt wäre.

Er trabte schnell der Spur des Mädchens nach und folgte ihrem Geruch. Sein Innehalten hatte ihr Zeit gegeben, einen Vorsprung zu bekommen, und in Abwesenheit seines Knurrens war sie still geworden. Die Spur führte ihn über die Brücke. Er erhaschte am Geländer einen Hauch, als sei sie dort stehen geblieben und hätte das schmutzige Wasser betrachtet. Aber für ein Mädchen in einem Rock, das wahrscheinlich nicht schwimmen konnte, wäre es nur ein unglücklicher Selbstmord. Am Ende war sie weitergelaufen.

Über ein Feld aus struppigem Gras, fast so hoch wie er. Der Tote Rick sprang über eine umgefallene Vase und hoffte, ihr den Weg abzuschneiden. Das Risiko zahlte sich aus: Sie kam den Pfad herunter auf ihn zu. Erneutes Knurren trieb sie in die andere Richtung, und jetzt wusste er, wie das hier enden würde. Normalerweise setzte er sie an der Wand fest, aber mit ein wenig Treiben …

Sie stand kurz vor dem Ende ihrer Kräfte. Der Tote Rick erhöhte sein eigenes Tempo, bellte wie ein Wolf und sprang fast direkt an ihren Fersen ins Freie. Das Mädchen stürzte sich über den zerklüfteten Boden, die Treppe eines verfallenen Pavillons hinauf, und fiel längs über dessen Bodenbretter. Der Tote Rick sprang …

Ihr Schrei hallte durch die Luft, und dann verstummte er.

Die Pfoten des Toten Rick krachten auf ihre Brust hinab, und seine Kiefer schlossen sich knapp vor ihrer Nase. Das Mädchen unter ihm war vor Panik erstarrt, und ihr Mund stand weit offen und weitete sich immer wieder, als würde sie immer noch schreien, doch kein Geräusch kam heraus.

Für einen Augenblick war da das Sehnen. Seine Zähne in jene verwundbare Kehle zu graben, das Fleisch herauszureißen und das heiße Blut aufzulecken, wenn es heraussprudelte. Der Tod gehörte zur Natur eines Skrikers. Es wäre einfach, solange er sie nicht als Person betrachtete – nur Fleisch und Furcht und eine Stimme, die man stehlen konnte.

Aber das war Nadretts Art und die des Goblinmarkts. Der Tote Rick biss seine Schnauze zusammen, bis sie wehtat, und wich langsam zurück, wobei er vorsichtig auftrat, damit seine rauen Klauen das Mädchen nicht unter dem Kleid aufkratzten.

Nadrett lehnte an einer Säule des Pavillons und ließ einen kleinen Krug von Hand zu Hand fliegen. »Das ist eine gute«, sagte er mit einem zufriedenen Grinsen. »Hervorragendes Material. Das wird einen guten Preis bringen, ganz bestimmt. Vielleicht lasse ich dich sogar was vom Gewinn haben, hm?«

Wenn er irgendwelchen Stolz übrig gehabt hätte, hätte der Tote Rick das abgelehnt. Weil er das nicht tat, sprang er auf das Gras hinunter und lief ohne auch nur ein Knurren an Nadrett vorbei.

Sein Herr lachte, als er hinausging. »Guter Hund.«

Der Tote Rick schämte sich bei diesen Worten.

WHITECHAPEL, LONDON
4. März 1884

Als sich der Straßenname von Fenchurch zu Aldgate High Street zu Whitechapel Road änderte, zeigte sich eine lebhafte Verwandlung. Binnen weniger als einer Meile kam Eliza von einem London in ein anderes, von den großen Geschäftshäusern und respektablen Läden der Innenstadt zu den einfachen Ziegelgebäuden und schmalen Hinterhöfen, die sie bis vor wenigen Monaten ihr Heim genannt hatte.

Sie war sich den ganzen Vortag über mit sich selbst uneins gewesen, ob sie wirklich zurückkommen sollte. Eine Reihe guter Tage hatten ihr genug Geld für die Unterkunft der letzten und der kommenden Nacht gebracht, und es war noch genug übrig, um neue Waren zum Verkauf zu erwerben, doch ein Tag, den sie nicht mit Arbeit verbrachte, war ein Tag näher am Verhungern. Zu verkaufen, während sie unterwegs war, hätte jedoch dafür gesorgt, dass sie von den Straßenhändlern vertrieben würde, die in dieser Gegend arbeiteten, und außerdem wollte sie, dass nichts sie mit der Frau verband, die heiße Krapfen und andere Kleinigkeiten in der Innenstadt verkaufte. Deshalb blieb ihr Karren bei einer Frau in St. Giles untergestellt, bei der sie hoffentlich darauf vertrauen konnte, dass sie ihn nicht in dem Augenblick verkaufen würde, wenn Eliza ihr den Rücken zudrehte, und Eliza selbst hatte sich einen Tag freigenommen. Ein Risiko, ja – aber nicht mehr als die Rückkehr nach Whitechapel überhaupt.

»Du hast ja Nerven, Eliza O’Malley, dein Gesicht hier offen zu zeigen.«

Der Ruf kam aus der Tür eines Lumpenladens an der Ecke von George Yard. Eliza war drei Schritte weitergelaufen, ehe ihr bewusst wurde, dass sie stehen bleiben konnte: Es war nicht länger nötig oder nützlich, vorzugeben, sie sei Elizabeth Marsh, eine brave englische Straßenhändlerin. Jene, die ihr hier Schwierigkeiten machen wollten, wussten bereits, wer sie war.

Also blieb sie stehen, drehte sich um und sah, wie Fergus Boyle am Türrahmen lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt und einen Fuß auf der Kiste, die er offensichtlich getragen hatte. Er grinste, als sie sich zu ihm umdrehte. »Hab dich erschreckt, hm?«

Ihre Haut prickelte immer noch vom plötzlichen Schreck, als sie nach Monaten, in denen sie jemand anderen gespielt hatte, ihren Namen gehört hatte. Der gewohnte Akzent jedoch kam ihr ganz ohne Schwierigkeiten über die Lippen. »Hau ab, Fergus Boyle. Hast du nichts Besseres mit dir anzufangen, als mich zu ärgern?«

»So, wie du verschwunden bist? Nö.« Mit dem Fuß schob er die Kiste an die Wand, damit sie unbeschadet blieb. Eliza blieb stehen, als er näherkam. »Du solltest die Geschichten hören. Manche denken, du wurdest ins Gefängnis geworfen, wie dein alter Paps. Diejenigen, die denken, dass du vorsichtig bist, sagen, dass du nach Amerika gefahren bist, egal wie du die Reise bezahlen würdest. Ich habe gewettet, dass du dich bei den Feniern versteckst. Hatten deine Freunde und du irgendetwas mit diesem Dynamit an der Victoria Station vor ein paar Tagen zu tun?«

»Ich bin keine Fenierin«, sagte Eliza und warf einen misstrauischen Blick auf die Leute auf der Straße. Die Streifenpolizisten scherten sich kaum darum, die Ordnung in Whitechapel aufrechtzuerhalten, aber seit letztem Jahr achtete die neue Irische Sondereinheit sehr genau auf jegliches Flüstern über aufrührerische Aktivitäten.

 

»Sicher«, sagte Boyle und grinste auf eine Art, die ihr nicht gefiel. »Du hattest letzten Herbst nichts mit Charing Cross zu tun. Du hast die Bombe nur zufällig rechtzeitig gesehen, um sie hinten aus dem Zug zu werfen. Purer Zufall war das.«

Überhaupt kein Zufall – aber was konnte sie ihm erzählen? Dass die Bomben in Charing Cross und an der Praed Street nicht das Tun der Fenier gewesen waren, nicht vollständig? Dass sie Hilfe von Feen gehabt hatten? Boyle stammte von guten Leuten aus der Grafschaft Roscommon ab, der Sohn einer Bauerntochter und eines Kerls vom benachbarten Hof. Sie hatten ihre Geschichten mitgebracht, als sie während der großen Hungersnot nach London gekommen waren. Er glaubte an Feen, ganz klar. Aber sie waren Kreaturen, für die man Milch am Hintereingang ließ, um sie davon abzuhalten, die Kühe zu verhexen oder in der Nacht das Haar der Kinder zu verfilzen. Keine in der Großstadt lebenden Goblins, die Bahnstrecken sprengten.

Was das betraf: Ihm zu erzählen, warum sie einem Fae in die U-Bahn gefolgt war … Das hatte sie schon einmal versucht, vor beinahe sieben Jahren. Nicht bei Fergus Boyle, aber bei anderen Leuten. Und keiner von denen hatte zugehört.

»Ich kann nicht lange bleiben«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass er ihren Themenwechsel als Beweis dafür betrachten würde, dass er richtig lag. »Was genau willst du? Mir einfach nur erklären, dass ich Nerven habe?«

»Bleibst nicht lang, hm? Und zu was musst du zurückeilen?« Boyle trat noch näher, sodass er über ihr aufragte. »Oder ist es so, dass du Angst hast, dass die Jungs von der Sondereinheit dich erwischen?«

Eliza schubste ihn hart an der Schulter, was ihn ein Stück zurücktaumeln ließ. »Jedenfalls habe ich mit meiner Zeit Besseres zu tun, als sie damit zu verbringen, mit Kerlen wie dir zu plaudern.«

Fergus’ spöttisches Grinsen verflog ein wenig. »Ach, du willst nicht Mrs. Darragh ärgern, oder?«

»Nein.«

Sie war immer eine gute Lügnerin gewesen, aber Boyle sah sie trotzdem misstrauisch an. »Gut. Maggie war froh, als du weg warst – sagt, ihre alte Ma hat sich aufgeregt, wenn du in der Nähe warst.«

Nun war Eliza damit an der Reihe, misstrauisch dreinzublicken. »Wann seid Maggie Darragh und du euch so nahegekommen, dass du wissen solltest, was sie gerade denkt?«

Er grinste breiter, und Eliza seufzte. Sie wusste ganz genau, dass Maggie sie nicht in der Nähe haben wollte, und war darauf vorbereitet. Wenn sie aber Fergus Boyle ausweichen musste, dann würde das hier noch schwieriger. Doch sie weigerte sich, Mrs. Darragh zu verlassen – nicht, wenn sie die einzige Hoffnung war, die die Frau noch übrig hatte.

Am besten, sie lenkte ihn mit einer glaubwürdigen Lüge ab. »Anders als manche Leute«, erklärte Eliza ihm, »kümmere ich mich um meine Seele. Ich bin auf dem Weg zur Beichte – das ist etwas, was wir in der Kirche tun, diese Beichte, weil ich mir sicher bin, dass du noch nie davon gehört hast.« Und darüber zu lügen, ist der geringste Grund, aus dem ich zur Hölle fahre.

Boyle wirkte zweiflerisch. Zum Glück sah Eliza ein spindeldürres Mädchen, das sich über die Kiste hinter ihm duckte. »Du solltest vielleicht darauf aufpassen«, sagte Eliza sanft mit einem Kopfnicken. Dann schlich sie davon, während Boyle damit beschäftigt war, dem Mädchen eine Ohrfeige zu verpassen.

Ihr Herz schlug zu schnell, als sie die Whitechapel Road hinuntereilte und sich zwischen den Karren und durch den schmutzigen Nebel schlängelte. Vier Monate und noch mehr, seit sie hier gewesen war, und das war nicht lange genug. Boyle hatte recht: Was, wenn irgendein Kerl von der Irischen Sondereinheit sich an ihr Gesicht erinnerte? Sie war nicht dumm genug gewesen, denen zu erzählen, dass sie diejenige war, die die Bombe aus dem Zug in Charing Cross geschleudert hatte. Die würden nie glauben, dass sie es getan hatte, um die Menschen im Dritte-Klasse-Waggon zu retten. Mehr als siebzig Menschen waren am selben Abend verletzt worden, als die andere Bombe in einem Zug explodiert war, der gerade Praed Street verlassen hatte. Aber Eliza war Irin. Nur, dass sie dort gewesen war, reichte beinahe, um sie zu hängen, und die Bombe zu berühren, würde mehr als reichen.

Genau deshalb hatte sie ihr Bestes getan, um zu verschwinden, und sich hinter dem Talent für Nachahmung und Schauspiel versteckt, das Owen immer so sehr amüsiert hatte. Weil die verdammte Irische Republikanische Bruderschaft und ihre Freunde in Amerika ständig Ärger machten, war es im Moment nicht sicher, in London Irin zu sein. Und sogar noch weniger sicher, Eliza O’Malley zu sein.

Boyle hatte recht: Es wäre vernünftiger, irgendwie genug Geld zusammenzukratzen, um anderswohin zu ziehen. Nach Amerika oder Irland oder wenigstens in eine andere Stadt. Vielleicht Liverpool. Aber selbst wenn sie ihre Suche hätte aufgeben können, Eliza war in London geboren. Sie hatte nie eine andere Heimat gekannt. Gott helfe ihr, sie vermisste sogar das dreckige, beengte Elendsviertel von Whitechapel, das ihr so viel vertrauter war als die stickigen Geschäfte in der Innenstadt.

Nicht, dass sie irgendwelche romantischen Illusionen über die Gegend hegte. Sie war ein Moloch aus Laster und Verbrechen, gefüllt mit den vertriebenen Armen jeder Rasse, wo Huren ihre Kunden in dunklen Gassen für zwei Penny pro Akt bedienten und Banden mit Drohungen oder Gewalt das wenige Geld nahmen, das andere Leute zu verdienen geschafft hatten. Aber als sie an den schmalen Gassen und Hinterhöfen vorbeikam, hörte Eliza vertraute Dialekte und manchmal sogar die irische Sprache selbst, in fröhlichen und freundlichen Gesprächen. Sie zog ihr Schultertuch dichter um ihr Gesicht und hastete mit gesenktem Kopf weiter, um zu vermeiden, dass sie von noch jemandem gesehen wurde, den sie kannte – oder diesen selbst sähe. Das hätte es nur umso härter gemacht, wieder fortzugehen.

Mrs. Darragh und ihre Tochter wohnten in einem einzelnen Zimmer an einem Hinterhof neben der Old Montague Street. Ein Stück Plane war über das Fenster genietet, wo das Glas herausgebrochen war. Zumindest hatten sie dort gewohnt, als Eliza das letzte Mal hier gewesen war. Was, wenn sie umgezogen waren? Boyle hätte es ihr nicht erzählt. Falls Maggie und er irgendeine Art Übereinkunft hatten, hatte er ihnen vielleicht sogar zu einer besseren Unterkunft verholfen.

Sie klopfte an die Tür und lehnte sich näher, um zu lauschen. Als Reaktion ertönten keine Schritte, was ihr zumindest verriet, dass Maggie nicht da war. Sie klopfte wieder. »Mrs. Darragh? Ich bin’s, Eliza O’Malley.«

Keine Antwort, aber die Tür war nicht versperrt, als sie die Klinke testete. »Ich komme rein«, rief Eliza und öffnete die Tür weit genug, um einen Blick hineinzuwerfen.

Wegen des Nebels und der verschmierten Fensterbespannungen war es drinnen düster wie in einem Grab. Langsam gewöhnten sich Elizas Augen daran, und dann konnte sie die Gestalt ausmachen, die auf dem einzigen Stuhl im Raum neben dem rauchenden offenen Kamin an der gegenüberliegenden Wand saß. Genau dort, wo ich sie vor vier Monaten zurückgelassen habe. »Mrs. Darragh, ich bin’s, Eliza«, wiederholte sie und trat ein.

Die Frau starrte abwesend auf den Boden, die Hände locker auf dem Schoß, als könne sie sich nicht dazu durchringen, irgendetwas mit ihnen zu machen. Das düstere Licht schmeichelte ihrem Gesicht und glättete einige der Falten, die sich dort hineingegraben hatten, doch ihre hoffnungslose Miene machte es Eliza weh ums Herz. Der Verlust von Owen hatte seine Mutter gebrochen, und sie war seither nie genesen.

Eliza ließ die Tür einen Spalt offen, damit Licht hereinkam, und ging vor Mrs. Darraghs Füßen in die Hocke. All das Geplauder, das sie geplant hatte, verblich in Anwesenheit der Frau: Es war einfach nicht möglich zu sagen: Oh, wie gut Sie heute aussehen, oder irgendetwas so Falsches und Fröhliches. Was würde es bringen? Nichts würde ihre Laune heben, außer einer Sache.

»Mrs. Darragh«, murmelte sie und nahm die schlaffen Hände der älteren Frau in ihre, »ich bin gekommen, um Ihnen gute Neuigkeiten zu erzählen, wirklich. Ich habe ihn beinahe erwischt. Den Fae.«

Keine Antwort. Eliza biss sich auf die Lippe, dann fuhr sie fort. »Ich habe Ihnen erzählt, dass ich ihn gesehen habe, letzten Oktober? Bin ihm zur Mansion House Station gefolgt und habe dort die anderen gesehen, die in einen Zug nach Charing Cross gestiegen sind. Er kam aber aus Newgate, und genau dort bin ich gewesen – hab dort gewartet und gehofft, ihn oder einen anderen wiederzusehen. Aber ich habe vor, etwas Besseres zu finden. Es gibt in Islington einen Verein. In einigen Tagen gehe ich dorthin, um herauszufinden, ob sie da irgendetwas wissen. Und dann werde ich die Bastarde verfolgen, die ihn entführt haben, und sie zwingen, ihn freizulassen, und dann bringe ich Ihnen Ihren Sohn zurück.«

Die Hände zitterten in ihrem Griff. Mrs. Darraghs Unterlippe zitterte auch, und sie hatte die verzweifelte Miene einer Frau, die nicht einmal die Energie zum Weinen aufbringen konnte.

»Das werde ich«, beharrte Eliza und griff fester zu. Nicht zu stark. Die Knochen fühlten sich in ihrer Hand wie die eines Vogels an, als würden sie jeden Moment zerbrechen. »Ich habe ihn nicht verlassen. Oder Sie. Ich …«

Dass es im Raum heller wurde und kalte Luft hereinblies, war ihre Vorwarnung. »Hast sie nicht verlassen?«, rief eine scharfe Stimme hinter ihr. »Hast eine seltsame Art, das zu zeigen, Eliza O’Malley, ohne auch nur ein Wort zu verschwinden.«

Sie stand nicht aus der Hocke auf oder ließ Mrs. Darraghs Hände los, sondern drehte nur den Kopf. Maggie Darragh stand am Eingang, ein Brotstück in einer Faust, die andere Hand flach auf die Tür gedrückt. Ihre mitgenommene Haube warf einen Schatten über ihr Gesicht, aber Eliza musste es nicht sehen, um sich ihren Gesichtsausdruck vorstellen zu können.

»Du hast deutlich gemacht, dass du mich nicht in der Nähe haben wolltest«, sagte Eliza.

Maggie machte ein angeekeltes Geräusch und stieß die Tür weg, sodass sie an der Wand abprallte und ein kleines Stück zurückschwang. »Nicht deutlich genug, schätze ich, denn da bist du wieder und flüsterst dein Gift in ihre Ohren.«

Die Hände rissen sich von Elizas eigenen los, als Mrs. Darragh sie unter ihre Ellbogen steckte und sich selbst umarmte. Im helleren Licht zeigte sich der bemitleidenswert zerlumpte Zustand ihres Kleids. »Gift?«, fragte Eliza. »Was ich bringe, ist Hoffnung, was mehr ist, als sich irgendjemand anderer bemüht, ihr zu geben.«

Maggies Gelächter klang wie das Krächzen einer Krähe. »Hoffnung nennst du das, was Ma zum Weinen bringt, und nie hast du einen Owen dafür vorzuweisen. Er ist tot, du dumme Närrin, tot oder weggelaufen. Oder bist du immer noch zu sehr in ihn verliebt, um das zuzugeben?«

Verachtung wog schwer auf dem Wort verliebt. Sie waren kaum in der Pubertät gewesen, Eliza und Owen, erst vierzehn Jahre alt. Zu jung, dass Vater Tooley sie verheiraten konnte, obwohl alle wussten, dass es damit enden würde. Doch es war keine Liebe, die Eliza sagen ließ: »Er ist nicht weggelaufen. Ich weiß, wer ihn entführt hat. Und ich werde ihn zurückbringen.«

»Du hattest sieben Jahre«, sagte Maggie grausam. »Worauf wartest du noch?«

Eliza zuckte zusammen. Im Flüsterton antwortete sie: »Nicht ganz sieben.« Erst im Oktober. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass dort, wo ihr Herz sein sollte, eine Uhr tickte und die Stunden und Tage und Jahre markierte. Ihr lief die Zeit davon. Wenn die sieben Jahre vergangen wären, würde Owen dann zu ihnen zurückkommen? Oder wäre er für immer verloren, über jegliche Hoffnung auf Rettung hinaus?

Nicht Letzteres. Das würde sie nie zulassen. Sie hatte die Jahre nur verstreichen lassen, weil sie keine Hinweise hatte, keine Spuren, denen sie folgen konnte. Es war so einfach gewesen, sich zu fragen, ob sie sich das alles eingebildet hatte, wie Maggie dachte. Aber sie fragte sich das nicht mehr. Sie wusste, dass sie real waren, und sie hatte ihre Witterung aufgenommen. Sie würde weiterjagen, bis sie einen erwischte, und ihn zwingen, ihr zu erzählen, was sie wissen wollte.

»Raus hier«, sagte Maggie, und Eliza konnte die Zornestränen in ihrer Stimme hören. »Wir haben genug Schwierigkeiten, ohne dass du noch mehr mitbringst. Lass Ma um ihren Sohn trauern, wie sie es sollte.«

Eliza stand auf und zuckte zusammen, als ihre Knie protestierten. »Ich will euch beiden keine Schwierigkeiten machen, Maggie. Das musst du mir glauben. Was auch immer Fergus über mich gesagt hat, ich bin keine Fenierin. Ich liebe Irland so sehr wie jede Frau, und Gott weiß, es wäre großartig, die englischen Stiefel aus unserem Nacken zu bekommen – aber es ist nicht meine Heimat. Die ist London. Ich würde dieser Stadt nie irgendetwas antun, nicht für ein Land, das ich nie gesehen habe, und nicht, wenn es bedeutet, unschuldige Menschen in die Luft zu sprengen, da kannst du sicher sein. Ich habe Whitechapel nicht verlassen, weil ich schuldig war. Ich habe es getan, weil ich dachte, ich könnte vielleicht Owen finden.«

 

Maggie stand einen Augenblick schweigend da und grub ihre Finger in das Brotstück. Als sie wieder sprach, war ihr Tonfall sanfter, wenn auch nicht freundlich. »Raus hier, Eliza. Wir können nicht in der Vergangenheit leben, und es gibt keine nennenswerte Zukunft. Hör auf, vor uns herzutänzeln, als würde es Ma oder mir irgendetwas nützen. Lass uns einfach in Ruhe.«

Und das tat schlimmer weh als alles andere – die Hoffnungslosigkeit, die resignierte Haltung von Maggies Schultern. Sie hatten solch strahlende Träume gehabt, als Owen und Eliza jung gewesen waren, und nun waren sie zu dieser Asche verbrannt. Das, ebenso sehr wie Owen selbst, hatten die Feen ihnen gestohlen.

Eliza fummelte blind in ihrer Tasche herum und packte alles, was sie darin fand. Ein wenig über einen Schilling in kleinen Münzen: alles, was sie gespart hatte, außer dem, was sie brauchte, um morgen ihren Karren zu füllen, und ihrem Übernachtungsgeld für heute Nacht. Das bewahrte sie immer in ihrem Schuh auf. Sie kippte es auf den Nachttisch neben den unangezündeten Stumpf einer Kerze. »Gott schütze euch, Maggie, Mrs. Darragh«, sagte Eliza und schlüpfte hinaus, ehe der Stolz so weit über die Not triumphieren konnte, dass ihre Freundin protestiert hätte.