blutender Mond

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Das Schatzschiff – Auf Kaperfahrt in der Karibischen See

Originaltitel: „Porto Bello Gold“

Howden Smith & Helmut Höfling

Übersetzt und bearbeitet von Helmut Höfling

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2015 Helmut Höfling

ISBN 978-3-7375-1858-1

Inhalt

Das Geheimnis meines Vaters

Der Einbeinige und das irische Mädchen

Ein nächtlicher Besuch

Wetterleuchten

An Bord der Brigg

Stolze Schiffe – wüste Menschen

Murrays Plan

Der Traum eines alten Halunken

Die Insel

Geiseln

Peter würfelt mit dem Schicksal

Die `Santissima Trinidad´

Schleichende Sorgen

Der Totenschragen

Verdacht

Verrat

Sturm

Pech

Der Angriff auf die Palisaden

Gefangene

Flints Methode

„Hol Rum nach achtern, Darby McGraw!“

Käpt’n Bill Bones

Die letzte Reise

VORWORT

Wer hat nicht schon Stevensons weltberühmten Abenteuerroman „Die Schatzinsel“ gelesen?

Wer kennt nicht Käpt’n Bill Bones, der mit der Schatzkarte geflohen war und den seine Kumpane um die halbe Welt verfolgten? Oder wer hat noch nichts von jenem unheimlichen blinden Pew gehört?

Vor allem jedoch wird er sich an einen einbeinigen Seemann erinnern: John Silver. Dieser Erzhalunke war klüger und listiger, verschlagener und rücksichtsloser als alle zusammen.

Das sind nur einige der Piraten, denen wir in diesem Abenteuerroman wieder begegnen.

Im „Schatzschiff“ lernen wir auch jenen sagenhaft-berüchtigten Seeräuberkapitän Flint kennen, von dem die Piraten in der „Schatzinsel“ immer wieder mit leuchtenden Augen erzählen.

Im „Schatzschiff“ erfahren wir ferner genau, wie es dazu kam, dass auf einer einsamen Insel in der Karibischen See – eben jener Schatzinsel – Gold, Silber und Edelsteine vergraben wurden.

Mit anderen Worten:

„Das Schatzschiff“ ist die nicht weniger abenteuerreiche und spannende Vorgeschichte der Piraten aus Stevensons Roman „Die Schatzinsel“.

Man könnte auch sagen: „Das Schatzschiff“ ist der erste Band – „Die Schatzinsel“ der zweite.

Das Geheimnis meines Vaters

Ich stand im Kontor und schwatzte mit Peter Corlaer, dem Wortführer unserer Pelzhändler. Er war erst heute flussabwärts aus dem Jagdgebiet der Irokesen-Indianer zurückgekehrt.

Mitten hinein in unser Gespräch platzte Darby, der Laufbursche. Er kam von der Straße hereingestürmt und rief:

„Das Postschiff von Bristol ist da, Master Robert! Und die Bootsführer sagen, vor dem Hook segelt ein Piratenschiff!“

Über die Mischung von Furcht und Entzücken in seiner Miene musste ich lachen. Er war ein durchtriebener Grünschnabel, ein richtiger Schlingel, der erst mit dem letzten Einwandererschíff von Irland zu uns nach Amerika gekommen war.

„Dass jetzt das Postschiff anlegt, glaube ich dir gern, Darby“, antwortete ich. „Aber den Piraten musst du mir erst einmal zeigen.“

Peter Corlaer ließ sein übliches Kichern hören, wobei sein ungeheurer Bauch unter dem hirschledernen Jagdhemd wie ein Riesenpudding wackelte.

„Jo, zeig uns den Piraten“, spöttelte er.

Darbys irisches Temperament brach aus ihm heraus wie Aschenregen aus einem Vulkan. Es war, als flösse die rote Farbe seiner Haare übers ganze Gesicht.

„Schade, dass ich kein Pirat bin und Sie nicht mein Gefangener!“

„Wieso, Kleiner?“, grunzte Peter.

„Dann würde ich Sie über die Planke schicken, Sie Fettwanst! Das schwöre ich Ihnen!“

Peter kicherte.

„Nicht so hitzig, Darby“, sagte ich, „bis dahin hat’s noch reichlich Zeit. Hast du die Aufträge meines Vaters erledigt?“

„Ja, alle“, erwiderte er.

„Gut. Dann scher dich ins Lagerhaus und sortiere die Häute, die Peter gebracht hat. Selbst ein Seeräuber muss arbeiten.“

Mit mürrischem Gesicht zog er ab, während ich mich wieder an Peter wandte.

„Mein Vater möchte bestimmt gern hören, dass das Postschiff da ist“, erklärte ich. „Wollen Sie mit mir zum Gouverneur gehen? Die Ratssitzung muss jeden Augenblick zu Ende sein. Die Herren tagen nämlich schon seit heute Mittag.“

Peter richtete seinen gewaltigen Körper auf. Wie immer, wenn ich ihn längere Zeit nicht gesehen hatte, staunte ich über seine hünenhafte Gestalt. Ein Klumpen fetter Glieder, eine Pökeltonne von Rumpf, eine schlabbrige Schwarte von Gesicht mit nichtssagenden, winzigen Zügen, die zu seinem sonstigen Umfang in groteskem Widerspruch standen: Das war Peter.

Doch unter seinen Speckschichten lagen stahlharte Muskeln verborgen, und er konnte flink sein wie ein Wiesel. Weit und breit gab es keinen Mann, der Peter waffenlos die Stirn geboten hätte und heil davongekommen wäre.

„Meinetwegen“, sagte er. „Gehn wir also zum Gouverneur.“

Wir traten auf die Pearl Street hinaus und gingen westwärts zum Hannover Square. Dort, am anderen Ende des Platzes, erspähte ich meinen Vater mit Gouverneur Clinton und Vizegouverneur Colden.

Ich war stolz und glücklich, als ich bemerkte, wie diese beiden und mehrere andere angesehene Herren an seinen Lippen hingen. Während des Aufstands von 1745 hatte ihn mancher verleumdet, denn man wusste, dass mein Vater in seiner Jugend ein Jakobit gewesen war. Aber seine Freunde erwiesen sich mächtiger als seine Feinde. Er war einer der einflussreichsten Führer, die König Georgs Rechte und Machtbefugnisse in New York wahrten. Und das zu einer Zeit, als viele mit dem englischen Thronerben gemeinsame Sache machen wollten.

Mein Vater sah Peter und mich näher kommen und winkte uns zu sich. Doch im gleichen Augenblick gab es einen kleinen Auflauf am Ostrand des Platzes. Eine zweite Gruppe tauchte auf: ein paar Männer, um einen grauhaarigen, rotwangigen alten Kerl geschart, dessen blauer Rock mit den Salzflecken ebenso den Seemann verriet wie sein schlingernder Gang.

Über den Platz herüber grölte er mit heiserer Stimme:

„Der Teufel hol mich, wenn’s nicht so war! Und wie ich in den Hafen komme, was seh ich da? Kein einziges Kriegsschiff vor Anker!“

„Was ist denn, Kapitän Farraday?“, rief mein Vater ihm zu.

Kapitän Farraday fertigte seine Zuhörer ab, die ihn bisher begleitet hatten, und stapfte über den Platz. Dabei brüllte er seine Antwort mit einer Stimme heraus, dass es die Krämer vor ihre Ladentüren und die Frauen an die Fenster lockte.

„Ich bin gejagt worden, Master Ormerod, jawohl, gejagt von so ‘nem verdammten Piraten! Der Satan selbst könnte unsere königliche Majestät nicht schlimmer verhöhnen.“

Da bemerkte er, wer meinen Vater begleitete. Sein Hut flog vom Kopf, und Kapitän Farraday machte eine linkische Verbeugung.

„Ihr Diener, Euer Exzellenz! Meine Hochachtung, Master Colden! Verzeihen Sie mir, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe. Aber was ich gesagt habe, bereue ich nicht. Ja, ich möchte sogar noch mehr dazu sagen! Noch viel mehr! Wir müssen schon verdammt weit runtergekommen sein, wenn sich diese Halunken nordwärts bis zu unseren Häfen wagen!“

Peter Corlaer und ich schlossen uns der kleinen Gruppe von Kaufleuten an, die beim Gouverneur standen. Die anderen Neugierigen lungerten respektvoll in der Nähe umher.

„Ich kann’s nicht glauben, Kapitän“, sagte Gouverneur Clinton ziemlich heiter. „Piraten? In diesen Breiten? Erzählen Sie uns doch von Ihrem Erlebnis. Haben Sie das Schiff, das Sie verfolgte, auch deutlich gesehen?“

„Deutlich gesehen? Das will ich meinen, Sir! Verdammt deutlich sogar! Vor zwei Tagen kam es von Südosten heran. Zuerst hielt ich’s für ’ne Fregatte. Nach den Toppwimpeln, die es führte.“

„Eine Fregatte?“, bezweifelte Master Colden. „So groß?“

 

„Ja, Sir! Und ich will keine Flasche Rum mehr anrühren, wenn’s nicht die `König Jakob´ gewesen ist. Schon einmal war die Fregatte hinter mir her. Drei Tage lang. Damals, als ich vor Jahren von Westindien heimwärts segelte.“

„Das könnte das Fahrzeug des Burschen sein, der als Kapitän Rappee bekannt ist“, sagte mein Vater.

In seiner Stimme lag ein merkwürdiger Klang, der mich veranlasste, ihn schärfer zu betrachten. Es war unverkennbar, dass er mit einer starken Erregung kämpfte. Aber seine Gesichtszüge strafften sich nur leicht. Keiner außer mir bemerkte es. Ich staunte umso mehr, als mein Vater eiserne Nerven besaß. Viele außergewöhnliche Abenteuer hatte er in jüngeren Jahren erlebt – jedoch nie zur See.

„Ja, Rappee…“, wiederholte Kapitän Farraday die letzten Worte meines Vaters. „Da können Sie recht haben, Master Ormerod. Seit Henry Morgan in der Hölle schmort, hat’s keinen hartgesotteneren Schurken mehr gegeben. Vor zehn Jahren hat er einen Maat von mir erwischt. Vor Jamaika. Der hat ihn leibhaftig gesehen. Ausgezeichnete Manieren soll der Kerl haben und piekfeine Kleider wie ’n Londoner Stutzer. Aber ein Halunke ist er trotzdem. Und ein Erzjakobit dazu wie kein zweiter. Das beweist schon der Name seines Schiffes.“

„Gewöhnlich soll er nicht allein segeln“, bemerkte mein Vater. „Stimmt das?“

„Ja, er arbeitet mit John Flint zusammen. Genauso ein Halunke, nur etwas ungehobelter. Flint segelt auf der `Walross´, einem Schiff, wie unsereiner es sich sein Lebtag vergeblich wünscht. Es war damals auf Kurs von Plymouth nach Smyrna, als es ihm in die Hände fiel. Tja, Flint und Rappee – die zwei geben ein feines Gaunerpaar ab!“

Mein Vater nickte. „Man hört so allerlei…“

„Neulich haben sie erst vor Madeira das portugiesische Linienschiff in den Grund gebohrt“, brachte Kapitän Farraday zwischen den Zähnen hervor. „Aus reiner Zerstörungswut! Ja, wirklich! Sie haben genug Kanonen an Bord, um es mit ein paar königlichen Kriegsschiffen aufzunehmen. Aber sie lassen lieber die Finger davon. Portugiesen, Franzosen, Spanier oder arabische Seeräuber – ja, die überfallen sie. Aber mit den Matrosen Seiner Majestät von England wollen sie keine Kugeln wechseln.“

„Warum eigentlich nicht?“, unterbrach ihn Master Colden verwundert.

Fragend hob Kapitän Farraday die Schultern.

„Ich weiß auch nicht, warum. Feigheit ist’s bestimmt nicht. Vielleicht denken sie, wenn sie’s täten, dann würden die Mylords der britischen Admiralität doch aus ihrem Schlaf erwachen und ’ne Flotte strammer Fregatten gegen sie vom Stapel lassen. Wir armen Kauffahrer könnten dann endlich mal wieder aufatmen.“

Kapitän Farraday hielt inne, um Atem zu schöpfen. Diese Gelegenheit ergriff Gouverneur Clinton, um ihn lächelnd zu fragen:

„Kapitän Rappee haben Sie Ihren Verfolger genannt… Was ist das für ein Name?“

Der Handelskapitän zuckte die Achseln. „Das weiß niemand, Sir. Ein Spitzname, aber sein einziger Name überhaupt. Vor gut zwanzig Jahren soll Rappee ein Postboot aus Chesapeake angehalten haben. Als er an Bord kam, fragte er als Erstes, ob `Rappee´ unter der Ladung sei. Anscheinend hatte er ’ne merkwürdige Vorliebe für diese Schnupftabakmischung. Deshalb sollen ihm seine eigenen Leute den Spitznamen Rappee gegeben haben, denn sogar sie selbst wissen nicht einmal genau, mit welchem Namen er auf die Welt gekommen ist.“

„Der Mann erscheint mir immer seltsamer“, meinte der Gouverneur.

„Er soll früher ein Gentleman gewesen sein, der für seine politischen Überzeugungen leiden musste“, fuhr Kapitän Farraday fort. „Aber alles, was ich weiß, ist, dass er mich am Hook vorbei zur Küste gejagt hat. Was blieb uns da schon andres übrig, als Fersengeld zu geben! Wir legten uns dabei so mächtig ins Zeug, dass bei Sonnenaufgang kein Toppsegel von Rappee mehr zu sehen war. Und als ich hier in den Hafen einlief, was musste ich da entdecken? Kein einziges Kriegsschiff lag vor Anker, das man dem Burschen hätte nachschicken können!“

„Ja“, nickte der Gouverneur, „vor einer Woche segelte die Fregatte `Thetis´ mit Depeschen nach unserer englischen Heimat ab. Aber ich schicke sofort eine Eilnachricht nach Boston, wo Kommodore Burrage liegt. Solche Schurken wie Rappee und Flint dürfen nicht mehr länger die Regierung Seiner Majestät verhöhnen und herausfordern. Unser tüchtiger Kommodore wird dafür sorgen, dass die Piraten diesen Tag bereuen. Davon können Sie überzeugt sein!“

„Leider bin ich es nicht, Exzellenz“, widersprach Kapitän Farraday freimütig. „Eine Eilnachricht nach Boston sagen Sie? Hm… das dauert zwei oder drei Tage. Dann rechne ich noch einen weiteren Tag hinzu, bis der Kommodore in See sticht. Und noch zwei der drei Tage mehr, um nach Süden zu kreuzen. Das macht zusammen eine ganze Woche, meine Herren! In der Zeit haben Rappee und Flint jeden teuflischen Plan durchgeführt und schon wieder das Weite gesucht.“

„Schon möglich… ja, schon möglich“, gab der Gouverneur leicht ungeduldig zu. „Aber mehr kann ich nicht tun.“

Damit wandte er sich ab und ging mit Vizegouverneur Colden und den übrigen weiter. Nur mein Vater blieb noch stehen.

„Sie haben Briefe für mich, Kapitän Farraday?“, fragte er.

„Ja, Sir, von Master Allen, Ihrem Londoner Agenten. Ich war gerade auf dem Weg zu Ihnen. Und ich hab auch noch ’ne tüchtige Ladung für Ihre Rechnung dabei: Decken, Äxte, Messer, Glasperlen, Werkzeug, Feuersteine und andere Tauschwaren.“

„Die Briefe können Sie mir gleich mitgeben, Kapitän“, sagte mein Vater. „Mein Sohn Robert wird Sie im Laufe des Morgens an Bord aufsuchen und die nötigen Maßregeln treffen, um Ihre Ladung zu löschen.“

„Einverstanden“, entgegnete Kapitän Farraday und fischte aus der Tasche seines Rockschoßes ein in Seide gehülltes Paket hervor. „Hier, Master Ormerod! Ich verzieh mich jetzt in die Georgs-Taverne. Wenn man so lange auf See gewesen ist, will man mal wieder so richtig essen und trinken wie ’ne Landratte.“

Einen Augenblick lang drehte mein Vater nervös das Paket zwischen den Fingern.

„Sind Sie sicher, dass Kapitän Rappee Jagd auf Sie gemacht hat?“, wollte er dann wissen.

„Darauf leg ich ’nen Eid ab, Sir!“, antwortete Farraday überzeugt. „Erst hatte ich’s ja für ’n königliches Kriegsschiff gehalten und beigedreht. Aber als es keine Flagge hisste, wurde ich argwöhnisch. Deshalb hisste ich die Flagge. Doch immer noch blieb sein Mast leer. Da gab ich ’nen Warnschuss ab. In diesem Augenblick warf er das Ruder rum, so als wollte er sich selbst richtig in Schussposition bringen. Da ergriff ich die Flucht. Jeden Fetzen Leinwand hab ich dabei setzen lassen, bis die Rahen ächzten. Denn wie gesagt: Ich hab gewusst, dass er nichts Gutes im Schilde führt.“

„Und es war wirklich Rappee?“

„Aber ja, Sir, ich schwör’s Ihnen! Vor Jahren hat er mich schon mal gejagt, wie ich Ihnen vorhin sagte. Und vor Jamaika hatte er früher mal Jenkins mit der `Cynthia´ gekapert. Flint wollte die ganze Mannschaft ersäufen wie die Ratten. Aber Rappee sagte in seiner kühlen Art, es hätte keinen Sinn, Leute ohne jeden Zweck umzubringen. Er ließ sie in die Pinasse einsteigen und gab sie frei.“

„Ist es nicht trotzdem möglich, dass Sie diesmal Rappees Schiff mit dem Schiff von Flint verwechselt haben?“

„Flints `Walross´ ist ein prächtiges Schiff und schwer bewaffnet. Aber es ist nicht so getakelt wie Rappees `König Jakob´. Jenkins sagt, es sei ein französisches Schiff. Es hat tatsächlich die fein gezogenen Linien, wie die Franzosen sie bauen. Nein, Sir, es war Rappee! Kein anderer Pirat segelt auf einem so großen Schiff, dass man glatt für ’ne königliche Fregatte halten könnte.“

Mein Vater hatte es schwer, gegen diesen Redestrom aufzukommen, und freute sich jedes Mal, wenn es ihm gelang.

„Ich habe immer geglaubt“, sagte er, „dass Kapitän Rappee während des letzten Krieges aus Westindien verschwunden ist.“

Kapitän Farraday zuckte die Achseln. „Möglich. In jenen Gewässern waren ihm bestimmt zu viele Kreuzer beider Parteien unterwegs. Aber jetzt weiß er, dass wir wieder flaue Friedenszeiten haben. Und wenn die Nationen in Frieden leben, dann halten die Piraten ihre Ernte.“

Kapitän Farraday stampfte zur Georgs-Taverne hinüber, gefolgt von einem Schwarm Neugieriger. Ich grinste in mich hinein, als ich an all die Flaschen und Gläser dachte, die sie ihm zum Dank für sein Seemannsgarn anbieten würden. Er hatte nicht die geringste Aussicht, innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden nüchtern zu sein.

Zerstreut nickte mein Vater zu Peter hinüber, der während des ganzen Gesprächs ruhig dagestanden hatte, das platte Gesicht schläfrig und unerschütterlich.

„Das Ganze gefällt mir nicht“, murmelte mein Vater.

Peter warf ihm einen scharfen Blick zu, sagte jedoch kein Wort.

Wir entfernten uns über das schneebedeckte Pflaster. Die Leute, an denen wir vorüberkamen, verbeugten sich vor meinem Vater oder zogen die Hüte. Er war ein großer Herr in New York: so groß wie nur irgendeiner nach dem Gouverneur. Aber er schritt nun mit gesenktem Blick dahin, tief in Gedanken versunken. Und als wir in die Pearl Street einbogen, murmelte er von neuem:

„Nein, es gefällt mir nicht… Es gefällt mir nicht…“

Darby McGraw begegnete uns an der Tür. Seine wilden Blicke verrieten mir, dass er eigentlich erwartet hatte, die Piraten dicht auf unseren Fersen auftauchen zu sehen.

„Hast du deine Arbeit erledigt, Darby?“, fragte ihn mein Vater, als sich der Bursche rückwärts ins Kontor zurückzog.

„Ja, Master.“

„Dann scher dich fort! Ich wünsche nicht gestört zu werden!“

„Vielleicht kannst du ein paar neue Nachrichten über die Piraten auftreiben, Darby“, fügte ich hinzu, als er an mir vorbeischlüpfte.

Er antwortete mir mit einem komischen, mürrischen Blick, ohne jedoch ein Wort zu sagen.

Dafür drehte sich mein Vater rasch auf dem Absatz nach mir um. „Was meinst du damit, Robert?“

Ich war verwirrt und stammelte: „Nun, weiter nichts, Vater… Darby ist versessen auf Piraten… Er…“

Peter Corlaer schloss hinter dem irischen Jungen die Zimmertür und kam auf uns zu, mit dem flinken, verstohlenen Gang, der eine seiner erstaunlichsten Eigenschaften war.

„Jo, er weiß es nicht“, fiel er mir ins Wort.

„Was?“, forderte ihn mein Vater heraus

„Wat Sie und ich wissen“, erwiderte der Holländer gelassen.

„Dann wissen Sie es also auch, Peter?“

„Jo.“

„Was ist das für ein Geheimnis?“, forschte ich.

Mein Vater zögerte und sah zu dem Holländer hinüber.

„Peter, dürfen wir es dem Jungen sagen?“

„Er is keine Junge mehr“, erklärte Peter. „Er is jetzt eine Mann.“

Ich bedankte mich bei dem fetten Holländer durch ein flüchtiges Lächeln, aber er beachtete es gar nicht.

Mein Vater schien mich zu vergessen. Er schritt im Kontor auf und ab, die Hände unter den Rockschößen und den Kopf sinnend gebeugt. Einzelne Gedanken murmelte er vor sich hin in kurzen, abgehackten Sätzen, als spräche er zu sich selbst.

„Ich habe ihn bisher für tot gehalten… Seltsam, wenn er wieder auftauchte… Aber vielleicht übertreibe ich… Nein, es kann keine Bedeutung für uns haben… Es muss ein Zufall sein… Ganz bestimmt!“

„Nein, er hat wat vor“, unterbrach ihn Peter.

Dicht vor Peter blieb mein Vater stehen. Er stand neben dem Kamin, in dem ein Stoß Buchenscheite loderte.

„Ja, Peter, Sie haben recht: Robert ist kein Junge mehr. Wenn uns von Rappee Gefahr droht, muss er erfahren, wer Rappee ist.“

„Es is Murray“, erklärte Peter Corlaer mit seiner quäkenden Stimme, die in lächerlichem Gegensatz zu seinem ungeheuren Leibesumfang stand.

„Ja, Andrew Murray“, bestätigte mein Vater nachdenklich. „Ich habe es all die Jahre geahnt – und manchmal sogar für sicher gehalten.“

„Ganz gleich, wer er ist: Vor diesem Seeräuber brauchen wir uns in New York nicht zu fürchten“, behauptete ich zuversichtlich.

„Sei lieber auf der Hut, Robert!“, mahnte mein Vater. „Zufälligerweise ist er nämlich dein Großonkel.“

Er langte auf das Gestell überm Kamin hinauf und suchte sich eine lange Tonpfeife aus, die er mit Tabak stopfte.

Nur mühsam erholte ich mich von meinem Erstaunen.

„Dein Onkel…?“, stieß ich schließlich hervor.

„Nein, Andrew Murray ist nicht mein Onkel, sondern der Onkel deiner Mutter.“

„Aber das war ja der große Händler, der den Schleichhandel mit Kanada organisiert hat!“, rief ich. „Ich habe von ihm gehört. Er hatte den Todespfad angelegt, um die französischen Pelzhändler mit Waren versorgen zu können und die Indianer von uns abtrünnig zu machen! Du selbst hast mir von ihm erzählt – und auch Master Colden. Ihr habt mit ihm gekämpft – du und Peter und die Irokesen -, als euch der Durchbruch durch die Schanzen des Todespfades gelungen war. Dadurch konnten unsere Leute endlich wieder mit Pelzen handeln.“

 

Mein Vater nickte, und ich fuhr lebhaft fort:

„Dann war es also damals, dass du Mutter – ich meine…“

Ich stockte. Die tiefen Gefühle, die mein Vater immer noch für meine längst verstorbene Mutter hegte, kannte ich gut. Deshalb scheute ich mich, seine Erinnerungen wachzurufen.

Doch er fuhr selbst fort:

„Ja, damals habe ich mich in deine Mutter verliebt. Sie – sie sah nicht so aus, als könnte sie mit einem so großen Schurken verwandt sein. Aber sie war seine Nichte. Daran bestand leider kein Zweifel, Robert. Sie war eine geborene Kerr von Jernieside – und ihre Mutter eine Schwester Murrays. Kerr und Murray rückten 1715 zusammen ins Feld. Kerr fiel bei Sheriffmuir. Da seine Witwe kurz darauf starb, nahm Murray die arme verwaiste Marjory zu sich. Er hat sie gut behandelt – das kann man ihm nicht abstreiten. Aber er handelte nicht aus reiner Nächstenliebe. Vielleicht wollte er sie dazu benutzen, seine eigenen Pläne zu fördern. Er blickte klar und berechnend in die Zukunft und dachte dabei an nichts anderes als an seinen eigenen Vorteil. Nun, Robert, du weißt ja, wie Peter Corlaer, der Seneka-Häuptling Tawannears und ich die ungeheure Streitmacht aufgerieben haben, die Murray an der Grenze zusammengetrommelt hatte.“

„Ja, ihr habt ihn restlos geschlagen“, pflichtete ich meinem Vater bei.

„Nicht nur das“, fiel mein Vater lebhaft ein. „Wir haben auch dafür gesorgt, dass sein schlechter Ruf überall bekannt wurde. Dadurch zwangen wir ihn, aus der Provinz zu fliehen. Sogar seine Freunde, die Franzosen, wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben – wenigstens nicht offen. Aber ich habe nie daran gezweifelt, dass er ihren Zielen noch immer irgendwie dient. Denn im Grunde ist er ein äußerst fanatischer Jakobit und sogar sehr aufrichtig. Bestimmt ist er fest davon überzeugt, dass alles, was er tut, hohen Staatszwecken dient.“

„Nur ein Irrsinniger kann behaupten, als Seeräuber dem Staat zu dienen“, rief ich zornig.

„Du urteilst allzu vorschnell“, wies mich mein Vater zurecht. „Heute lebt noch mancher, der sich an die Zeiten erinnern kann, als Morgan, Davis, Dampier und andere tapfere Burschen vom gleichen Schlag Seeräuber waren und doch gleichzeitig dem König dienten. Ein paar von ihnen wurden schließlich am Galgen aufgeknüpft. Aber Morgan starb als Ritter. Ja, mein Junge, es lässt sich also schon machen: Seeräuber und Staatsdiener zugleich zu sein.“

„Aber wie?“

„Denk einmal nach, Robert! Murray – dein Großonkel, wohlverstanden! – ist Jakobit. Für unser gegenwärtiges Regime hat er nur Hass und Verachtung übrig. Deshalb ist ihm jedes Mittel recht, dieses Regime zu untergraben, um es schließlich zu stürzen. Das beweist nicht zuletzt der Name seines Schiffes: `König Jakob´. Dieser Name ist ein politisches Bekenntnis!“

„Wenn er wirklich der Mann ist, für den du ihn hältst!“, wandte ich ein, nicht gerade erfreut über den Gedanken, einen Seeräuber zum Großonkel zu haben.

„Ich kenne deine Gefühle, mein lieber Junge. Genauso hat deine Mutter gesprochen. Gott segne sie!“ Mein Vater machte eine kurze Pause und fuhr dann nachdenklich fort: „Als sie gestorben war, kam ein Bote zu mir und brachte einen Brief. Dein Großonkel sprach mir sein Beileid aus zu dem Verlust der unvergesslichen Frau, die wir beide über alles verehrt hatten! In diesem Augenblick hätte ich ihn am liebsten erwürgt – das gebe ich offen zu. Wären ihm nämlich seine Pläne geglückt, so hätte er sie mit einem Franzosen, einem richtigen Satansbraten, verheiratet. Doch auf seine Weise sorgte er sich um sie und nahm großen Anteil an allem, was sie tat. Wenn ihn seine Irrfahrten auch noch so weit in die Ferne führten – er hatte immer Nachrichten von uns.“

„Wieso?“

„Der Teufel weiß wie! Er wusste zum Beispiel, wann du geboren wurdest. Er wusste, wann sie starb. Und nun, da du zum Mann herangewachsen bist, zeigt er sein Segel vor Sandy Hook. Ich weiß zwar nicht, was das bedeutet, Robert, aber es gefällt mir nicht. Nein, es gefällt mir ganz und gar nicht!“

„Jo, richtig“, stimmte Peter zu. „Wenn Murray hier is, plant er nichts Gutes. Keine Seeräuber kommt bei diesem kalten Wetter bloß für die Spaß nach Norden. Nee, nee… Hier is es zu brenzlig für dieses Pack. Hier kann man nirgendwo verschwinden und sich verstecken.”

“Ein kluger Feind wägt alles ab, bevor er sich auf ein Wagnis einlässt”, erklärte mein Vater. „Hoffentlich lässt uns das Glück nicht im Stich! Ganz gleich, was Murray auch im Sinn hat – er wird es fuchsschlau durchführen, um uns zu überraschen.“