blutender Mond

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„Was für ein hübsches Mädchen, Master Ormerod!“, rief er. „Mit blauen Augen wie die Seen in Irland! Ja, sie hat mich sofort an meine Heimat erinnert. An meine Heimat, die ich nie wiedersehen werde.“

„Warum denn nicht?“

„Sie sagen, ich käme unter die Seeräuber.“

„Du schwätzt dir da ein dummes Zeug zusammen!“, erwiderte ich barsch.

„Unsinn?“, rief er. „Für mich wär’s das Schönste, Master Robert! Legen Sie bei Ihrem alten Herrn ein gutes Wort für mich ein, bitte!“

„Also gut“, versprach ich, damit er den Schnabel hielt.

Er sprang in die Luft wie ein Füllen, das soeben seinen ersten Hafer bekommen hat, und sprudelte hervor:

„Sie sind ja bis über beide Ohren in die Kleine verknallt! Ja, die hat’s in sich! Wegen der würde ich sogar darauf verzichten, ein Seeräuber zu werden.“

„Die sehen wir nie wieder, Darby“, meinte ich. „Morgen in ein paar Wochen segelt sie schon jenseits der Karibischen Inseln – und wir schuften uns hier mit unserem Kram ab.“

Er warf mir einen verschmitzten Blick zu. „Wer weiß, Master Robert, was morgen ist… Und erst danach! Lassen wir uns lieber überraschen!“

Ein nächtlicher Besuch

An diesem Abend saßen wir lange beim Essen, denn mein Vater bestand darauf, alles ganz ausführlich zu hören, was ich am Tag erlebt hatte. Dabei verriet er eine seltsame Unruhe, die an ihm ungewöhnlich war. Peter Corlaer dagegen aß mit gemächlicher Feierlichkeit weiter. Nur hin und wieder flackerten seine Äuglein, die zwischen ihren Fettwülsten mühsam hervorblinzelten.

„Ich habe schon von diesem Oberst O’Donnell gehört“, begann mein Vater, sobald ich meinen Bericht beendet hatte. „Er war seinerzeit mit Prinz Karl in Schottland. In England steht bestimmt ein Preis auf seinen Kopf. Zweifellos hat er hier eine Besprechung gehabt – mit ein paar jakobitisch angehauchten New Yorkern.“

„Glaubst du wirklich, Vater?“, fragte ich.

„Wie Master Colden mir erzählte“, fuhr er fort, „hat der Kapitän der Fregatte heute Morgen den Gouverneur besucht und ihm ein Ammenmärchen aufgetischt. Er habe sich bei der Kursberechnung geirrt und sei nordwärts abgetrieben worden. Ich wittere dahinter eine jakobitische Verschwörung!“

„Miss O’Donnell hat gesagt, sie segelten nach Florida“, wandte ich ein. „Dann sind sie also nicht mehr weit vom Kurs abgewichen.“

„Das kleine Mädchen ist bestimmt nicht in die Pläne ihres Vaters eingeweiht. Die Jakobiten sind eine gefährliche Bande.“

„Dabei hast du früher einmal selbst zu ihnen gehört.“

„Das ist wahr, aber ich habe aus der Erfahrung gelernt. Das solltest du mir anrechnen, Robert. Großbritannien ist größer als irgendein König oder irgendeine Familie. Es geht hier um das Land – nicht um den Mann. Und Großbritannien geht es besser unter dem Hannoveraner Georg als je zuvor unter einem Karl oder Jakob Stuart.“

Mit dieser Bemerkung spielte mein Vater auf den englisch-schottischen Thronstreit an, der bereits seit Jahrzehnten schwelte.

Ab 1603 hatte eine Personalunion zwischen England und Schottland bestanden: Der schottische König aus dem Hause der Stuarts herrschte gleichzeitig auch über die englischen Gebiete. Im Jahr 1685 war auf Karl II. sein Bruder Jakob II. gefolgt, dessen absolutistisches Willkürregiment keineswegs auf Gegenliebe stieß und ihn sogar den Tories entfremdete, der aristokratischen, konservativ gesinnten Partei. Erschwerend kam hinzu, dass Jakob II. bereits 1670 Katholik geworden war.

Als dann schließlich die Geburt eines Sohnes die katholische Dynastie zu sichern schien, berief die Opposition den Gemahl seiner ältesten Tochter Maria, den protestantischen Erbstatthalter der Niederlande, Wilhelm III. von Oranien. Dieser landete am 5. November 1688 in England, und da sich ihm alle zuwandten, blieb Jakob II. nur die Flucht nach Frankreich übrig wo er 1701 starb.

Interessant wurde der Thronfolgestreit wieder einige Jahre später. Weil der katholische Mannesstamm des abgesetzten Jakob II. durch den Act of Settlement von der Nachfolge auf den Thron ausgeschlossen war, wurden die Welfen in Hannover Thronanwärter. Mit den Welfen bestand deshalb eine verwandtschaftliche Bindung, weil sie Nachkommen der an Friedrich V. von der Pfalz verheirateten Elisabeth waren, einer Tochter Jakobs I.

Der Regierungsantritt des Kurfürsten Georg Ludwig von Hannover als König Georg I. von Großbritannien vollzog sich 1714 ohne Schwierigkeiten. 1727 folgte ihm Georg II., der nochmals einen Versuch der Stuarts abwehren musste, die Krone wieder zu erringen. 1746 siegten die Engländer über die Schotten bei Culloden Moor, einer Heide nordöstlich von Inverness in Schottland.

Das war die letzte Erhebung der Jakobiten gewesen – wie man die Anhänger des vertriebenen Jakob II. und seiner Nachkommen nannte. Naturgemäß waren die Jakobiten besonders in Schottland selbst vertreten, wo der größte Teil des Adels zu ihnen gehörte.

All diese geschichtlichen Ereignisse standen hinter den Worten meines Vaters. Aber es wollte mir durchaus nicht einleuchten, warum er die ganze Zeit über an eine neue jakobitische Verschwörung glaubte. Seine Erklärungen hatten mich noch immer nicht überzeugt. Deshalb sagte ich:

„Ich finde nichts Merkwürdiges dabei, dass die Spanier einen technischen Offizier herüberschicken, um ihre Befestigungen am Atlantik überprüfen zu lassen.“

„Ein technischer Offizier aus Irland…?“, betonte mein Vater lächelnd. „Wundert dich das auch nicht? Aber gut! Solche Machenschaften sind immer schwer durchschaubar. Doch was mich am meisten ärgert, ist die Nachricht von dem einbeinigen Seemann.“

„Silver?“

„Ja, ich höre nicht gern, dass die Piraten vor unserem Hafen kreuzen. Ein wirklich starkes Stück! Wenn Murray…“

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür hinter mir, und ich sah, wie der Unterkiefer meines Vaters schlaff herabfiel. Peter rechts neben mir zwinkerte scheel mit den Augenlidern und fuhr dann gelassen fort, mit seinen Riesenpranken Nüsse zu knacken.

„Haben Sie mich gerufen, Ormerod?“

Von der Schwelle hallte eine Stimme wie das Geläute einer Glocke, in einem frostigen und gleichförmigen Tonfall.

„Mir war so, als hörte ich meinen Namen. Stimmt’s?“

Ich hatte mich in meinem Stuhl herumgeworfen.

Auf der Schwelle stand die merkwürdigste Gestalt, die ich je gesehen hatte. Ein großer Mann, straff wie ein Pfeil trotz der Jahre, die dichte Runzeln unter seinen Augen eingegraben hatten. Der Schnitt des schwarzen Samtrocks betonte seine breiten, eckigen Schultern. Seine Kniehose war aus feinem gelben Damast und seine Strümpfe aus dazu passender Seide. Diamanten glitzerten an den Schnallen seiner Schuhe, an der Uhrkette, an den Fingern und am Knauf seines Galadegens. Ein großer Rubin glühte in den Mechelner Spitzen seiner Brustkrause, die in Falten von seinem Hals herabfiel. Über seinem Arm hing ein Mantel, und unter den Ellbogen klemmte er einen Hut, der nach der letzten Mode gekrempt war.

Doch unauslöschlich haftet mir noch heute sein Gesicht im Gedächtnis. Die Züge waren groß und scharf geschnitten. Die Nase glich einem Schnabel über einem schmallippigen Mund und einem brutalen viereckigen Kinn. Die lebhaften schwarzen Augen waren wie mit gelblichen Funken gesprenkelt. Er hatte sein silbrig-weißes Haar straff zurückgekämmt und mit einem schwarzen Band geknotet und gebunden. Ein Netz von Falten durchfurchte Wangen und Stirn, doch das Fleisch schien so fest und kräftig wie meines. Vorbildliche Erziehung, Vornehmheit und Reichtum – das alles strahlte er aus. Aber daneben spürte man noch nackte Gewalt, den Willen eines Raubtiers und eine unbarmherzige Ichsucht, die keine anderen Interessen außer den eigenen gelten lässt.

Er beantwortete meinen langen, starrenden Blick, indem er sich leicht verbeugte, voll freundlichen Spottes.

„Ihr Sohn, Ormerod?“, fuhr er fort. „Mein Großneffe? Robert heißt er doch, nicht wahr? Jedenfalls haben Sie ihn damals so nach dem gestrengen Master Juggins von London getauft. Nach jenem Herrn, der Ihnen damals geholfen hat, ein neues Leben zu beginnen, nachdem vorher Ihre Laufbahn als Jakobit gescheitert war.“

Langsam richtete sich mein Vater auf.

„Ja, Murray, er ist mein Sohn. Und es ist weder seine Schuld noch meine, dass er auch Ihr Großneffe ist. Und wenn Sie schon auf meine Vergangenheit anspielen und hoffen, dadurch meinen Sohn gegen mich aufzuhetzen – dann muss ich Sie enttäuschen. Er weiß, dass ich mich dazu habe verleiten lassen, den Stuarts zu dienen. Er weiß aber auch, was ich daraus gelernt habe: nämlich dass das Land wichtiger ist als der König.“

Der Mann auf der Schwelle nickte mit dem Kopf.

„Ein ganz interessantes Thema für Sie, nicht wahr? Ich meine, nachdem die Jakobiten Sie aus Frankreich vertrieben hatten und die Hannoveraner aus England. Aber Hut ab, wenn ein Mann dem Pech trotzt – wenigstens philosophisch!“

Er ließ die Tür ins Schloss fallen und schritt hinter mir auf die linke Seite des Tisches zu, wo ein leerer Stuhl stand.

„Ich möchte nicht unhöflich sein“, bemerkte er sanft und gelassen. „Ich sehe nämlich noch einen anderen alten Freund – oder besser gesagt: einen alten Feind. Sie haben sich gut gehalten, Corlaer – genauso gut wie ich, wirklich!“

Peter zerquetschte eine Walnuss zwischen Zeigefinger und Daumen und richtete einen leeren Blick auf Murrays Gesicht.

„Jo“, sagte er.

„Um es gleich vorwegzunehmen“, fuhr Murray fort. „Lassen Sie sich nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen. Ich habe bereits alle Vorkehrungen zu meiner Sicherheit getroffen. Ich weiß nur zu gut, wie gefährlich und schlagfertig Peter ist – trotz seines gutmütigen Mondgesichts. Es wäre doch schade, wenn er sich selbst das Genick bräche – oder…?“

 

„Jo, jammerschade!“, kicherte der Holländer.

„Ich bluffe nicht“, behauptete Murray. „Aber hoffentlich können wir heute Abend alles friedlich erledigen, ohne dass sich jemand den Schädel einrennt.“

Er warf Mantel und Hut auf einen Stuhl neben dem Feuer und legte seine Hand auf den leeren Sessel zwischen mir und meinem Vater.

„Gestatten Sie?“

Mein Vater, der immer noch aufrecht stand, sprach kein Wort. Dieses Schweigen legte Murray mit einem Achselzucken als Zustimmung aus. Anmutig ließ er sich auf den Sessel nieder und zog aus der Tasche eine goldene mit Brillanten verzierte Schnupftabakdose.

„Sie haben doch nichts dagegen?“, fragte er und ließ den Deckel aufspringen.

Im Kreise herum bot er uns die Dose an. Ein würziger Geruch von Schnupftabak kitzelte meine Nase.

„Ausgezeichnetes Zeug!“, bemerkte er. „Reifer Rappee. Wie bitte…? Ach so… Niemand? Na, dann!“

Er stäubte sich eine Prise in die Nasenlöcher, schnupfte und benutzte dann geziert ein spitzenumrandetes Taschentuch.

Mein Vater lehnte sich über den Tisch. Sein Gesicht war hasserfüllt.

„Es ist also wahr?“

Murray betrachtete ihn einigermaßen überrascht.

„Wahr? Aber, mein teurer Sir, es ist bestimmt Rappee!“

Mein Vater wandte sich Peter und mir zu. „Bisher hatte ich immer noch gehofft, dass ich mich in diesem Mann geirrt und ihm unrecht getan hätte. Aber nun hat er sich durch seine eigenen Worte verraten.“

Behutsam stellte Murray die Schnupftabakdose vor sich auf den Tisch.

„So, so“ murmelte er, „ich verstehe! Sie haben auf meinen Vornamen angespielt – oder vielmehr auf meinen Kriegsnamen.“

Mein Vater lachte bitter. „Kriegsnamen…! Der Name eines Piraten! Aber lassen Sie uns offen und ehrlich miteinander reden, Andrew Murray. Sind Sie Kapitän Rappee?“

„Ja, ich bin der Mann, der auf hoher See als Kapitän Rappee bekannt ist. Und Sie waren es, Ormerod, der mich zu diesem Gewerbe getrieben hat, das Sie Seeraub nennen.“

„Dieser Ton passt haargenau zu Ihnen“, sagte mein Vater. „Früher haben Sie Ihre Raubzüge zu Lande ausgeführt. Aber das Handwerk habe ich Ihnen damals gelegt. Heute verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt wieder auf ähnliche Weise, Murray. Sie waren ein Bandit – und Sie sind ein Bandit!“

„Sie wollen mich einfach nicht verstehen“, seufzte Murray. „Ich hatte als Edelmann stets Höheres im Sinn, als nur Geld zusammenzuraffen wie Sie und Ihresgleichen.“

„Was ich hier besitze, das habe ich mir durch eigene harte Arbeit erworben“, entgegnete mein Vater. „Und das ist für mich mehr wert als der große Herrensitz in England, den ich durch jugendliche Torheit verloren habe. Aber wie kommt eigentlich ein Pirat dazu, über die Vorzüge seiner adligen Herkunft zu reden?“

Die Zornesröte flammte in Murrays Gesicht auf.

„Niemand kann mir meine Herkunft vorwerden“, rief er. „Ich führe meinen Stammbaum auf Jakob V. zurück.“

„Das habe ich schon mal gehört“, bemerkte mein Vater trocken.

Murray holte tief Atem. Offensichtlich rang er nach Selbstbeherrschung.

„Lassen wir’s gut sein!“, rief er mit einer schauspielerischen Geste. „Ich bin, was ich bin, Sir – und der Tag kommt bestimmt, an dem ich so hoch stehen werde wie die Höchsten unseres Landes.“

Er richtete sich kerzengerade in seinem Sessel auf. Doch mein Vater antwortete mit derselben trockenen Verachtung:

„Auch das habe ich schon mal gehört. Wollten Sie nicht einmal Herzog werden, wie? Nein, nicht durch eigenes Verdienst. Sie wollten vielmehr geschickt die schmutzigen Vorteile ausnützen, die die Jakobiten Ihnen zuschacherten. Ja, Sie hätten Ihr Land ins Verderben gestürzt und leichten Herzens an die Franzosen verkauft – nur für ein Herzogtum! Und heute würden Sie es genauso machen.“

Murray stopfte sich eine Prise Schnupftabak in die Nase.

„Sie urteilen ungerecht, Sir“, sagte Murray mit einem hoheitsvollen Stolz, den er früher nicht gezeigt hatte. „Wenn alles erwartungsgemäß verläuft, kann ich schon bald beweisen, dass ich für eine gute Sache kämpfe. Ich bereite ein Bündnis vor, das…“

Er unterbrach sich und drehte sich plötzlich zu mir herum.

„Beinahe hätte ich ja die Hauptsache vergessen!“, rief er. „Steh auf, mein Großneffe, und lass dich mal ansehn!“

Ich hätte nicht auf seine Worte geachtet, doch mein Vater forderte mich rasch auf:

„Tu, was er verlangt, Robert. Er soll nicht denken, dass du krumme Beine hast.“

Also stand ich auf.

„Ein hübscher Bengel!“, bemerkte er und fragte dann meinen Vater:

„Doch sagen Sie mir: Haben Sie den Jungen gegen mich aufgehetzt?“

„Aufgehetzt…?“, wiederholte mein Vater. „Erst gestern habe ich ihm erzählt, wer und was Sie sind. Den Anlass dazu haben Sie selbst gegeben, weil Sie sogar in unseren Gewässern Ihre Raubzüge ausführen. Bis dahin hat der Junge nicht einmal gewusst, dass Sie überhaupt existieren – als sein Verwandter.“

Mein Großonkel – als solchen betrachtete ich ihn allmählich – sann über diese Mitteilung nach.

„Ich verstehe, ja, ich verstehe“, murmelte er. „Hm, ich fürchte, er hat viele falsche Ansichten. Aber ich war schon darauf gefasst.“

„Worauf?“, forschte mein Vater.

Unvermittelt beugte sich Murray weit über den Tisch vor.

„Ich will offen mit Ihnen sprechen, Ormerod – und mit meinem Neffen Robert. Ich befinde mich in einer etwas unangenehmen Lage.“

„Wenn es sich um Geld handelt…“, begann mein Vater.

Doch eine Geste meines Großonkels ließ ihn sogleich wieder verstummen.

„Ich befinde mich nicht in finanziellen Schwierigkeiten – wenigstens jetzt nicht. In Kürze dagegen werde ich wahrscheinlich bis zum Hals in Schwierigkeiten stecken – auch in finanziellen. Kurz und gut, Sir: Ich hole bald zum großen Schlag meines Lebens aus. Zu einem Schlag mit aufsehenerregenden Folgen! Es hat allerdings keinen Sinn, jetzt näher darauf einzugehen“, fuhr er in gemäßigterem Ton fort. „Aber ich will Ihnen noch eines verraten: Ich komme mir vor wie ein Mann, der ein Rudel wilder Tiere zum Teil gezähmt hat. Auf mein eigenes Schiff kann ich mich bis zu einem gewissen Grad verlassen. Aber ich stehe in Verbindung mit…“

„Mit Flint – stimmt’s?“, warf mein Vater ein.

„Ja, als ich mich entschloss, zur See zu gehen, brauchte ich einen fähigen Seemann. Da kam mir Flint äußerst gelegen. Als ich mich dann später unabhängig machen konnte, gab ich ihm ein eigenes Schiff. Seitdem arbeiten wir zusammen. Ich verrate kein Berufsgeheimnis, wenn ich hinzufüge, dass er seine Fehler hat. Die Macht seiner Persönlichkeit ist unbestritten. Aber gelegentlich fehlt ihm einfach der klare Verstand. Dann will er glatt mit dem Kopf durch die Wand. Deshalb ist er manchmal schwer zu behandeln. Wahrscheinlich werde ich bald Unannehmlichkeiten mit ihm haben - besonders bei jenem Streich, den ich vorhin andeutete.“

„Glauben Sie vielleicht“, fragte mein Vater in beißendem Spott, „dass wir für Sie diesem Mann den Hals umdrehen?“

Völlig gelassen schüttelte Murray den Kopf.

„Ich drehe keinem Menschen den Hals herum, den ich brauchen kann“, antwortete er. „Nein, ich suche einen jungen Mann, der mir zur Seite steht. Er soll mir helfen, die Mannschaft in Zucht zu halten. Einem solchen Burschen verspreche ich eine glänzende Zukunft.“

„Als Kapitän eines eigenen Piratenschiffes, was?“, bemerkte mein Vater.

„Das wäre nicht das schlechteste Angebot für einen ganzen Kerl!“, behauptete mein Großonkel. „Ich nehme den Reichen nur weg, was sie selbst nicht ehrlich erworben haben. Sie spüren den Verlust kaum. Und einen großen Teil meiner Beute verwende ich für die Sache, für die auch Sie damals Ihren ersten Treueschwur geleistet haben.“

„Eine seltsame Auffassung von Recht und Unrecht“, wandte mein Vater ein.

„Vor ein paar Minuten haben Sie mich einen Banditen genannt. Ja, ich bin ein gesetzloser Bandit, weil ich nach eigener Methode meinen gesetzmäßigen Herrscher wieder auf seinen Thron setzen möchte. Früher haben auch Sie diesem König im Exil gedient, ehe Sie sich gegen ihn wandten. Damit haben Sie mich ebenfalls zugrunde gerichtet und einen Banditen aus mir gemacht.“

„Kommen wir zur Sache!“, unterbrach ihn mein Vater. „Was wollen Sie? Soll ich Robert zu Ihnen in die Lehre geben, damit Sie ihn zum Seeräuber ausbilden?“

„Ganz richtig.“

Mein Vater lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

„Das ist absurd. Ich denke nicht daran!“, sagte er.

Murray schnupfte erneut eine Prise. „Was sagt denn unser junger Mann selbst dazu?“

„Dasselbe wie mein Vater: nein!“, antwortete ich kurz.

„Himmel und Hölle!“, fluchte er. „Ich will einen Mann aus dir machen – in kurzer Zeit! Ich biete dir ein freies Leben voller Abenteuer an! Ich biete dir die Gelegenheit, den Ruf deiner Familie wiederherzustellen! Und ich biete dir die Möglichkeit, dir selbst Rang, Titel und Ehre zu erobern!“

„An Deck eines Piratenschiffes?“, fragte ich ironisch.

„Vom Achterdeck eines Piratenschiffes aus“, verbesserte er mich ernst. „Ich befinde mich auf meiner letzten Kreuzfahrt. Mein Schiff, die `König Jakob´, soll seinen Namen rechtfertigen. Ja, in den kommenden Jahren wird man in ihm ein Sinnbild der Treue und opfervollen Hingabe verehren! Und auf diesem Schiff mit Andrew Murray gesegelt zu sein, wird man als höchste Auszeichnung betrachten.“

„Das ist ja Irrsinn“, sagte mein Vater müde. „Sie haben den Verstand verloren.“

„Im Gegenteil!“, widersprach mein Großonkel. „In meinem Beruf stehe ich an der Spitze. Sie würden mir wohl kaum glauben, wenn ich Ihnen meine Einnahmen verriete.“

„Diebesgut!“, donnerte mein Vater. “An Ihrem Geld klebt Blut!“

„Schon wieder Ihre verbohrten Ansichten“, widersprach Murray. „Ich sage Ihnen nochmals, Ormerod: Sie stehen dem Jungen im Weg!“

„Er ist kein Junge, sondern ein Mann“, entgegnete mein Vater barsch. „Er kann selbst entscheiden, was er will.“

„Ich nehme Sie beim Wort.“

Noch einmal wandte sich mein Großonkel an mich. „Du hast es selbst gehört, Robert: Die Entscheidung soll zwischen uns beiden fallen. Ich möchte offen mit dir reden. Mein Entschluss steht fest: Ich brauche dich unbedingt – und deshalb kommst du mit mir -, wenn nicht freiwillig, dann mit Gewalt!“

Mit einem Knacken zersprang eine Paranuss zwischen Peters Fingern. Murray winkte ihm mit hochmütiger Geste zu.

„Ich kenne Ihre Bärenkräfte, Corlaer“, bemerkte er. “Aber leisten Sie keinen Widerstand. Ich habe im Haus genügend Leute verteilt, die mit Ihnen schnell fertig werden. Im Notfall würde ich Sie oder Ormerod sogar töten lassen. Von euch dreien ist der Junge der Einzige, dessen Leben für mich einigen Wert besitzt.“

„Er meint es ernst, Peter“, bestätigte mein Vater. „Lassen Sie die Fäuste unten.“

„Jo“, quäkte Peter.

„Sie sind stets ein kluger Mann gewesen, Ormerod“, fuhr mein Großonkel fort. „Doch nun zu dir, mein Neffe! Mitkommen musst du – aber ich möchte lieber, dass du freiwillig gehst. Vielleicht findest du es verlockend genug, wenn ich dir Folgendes verrate: Erstens segeln wir zu einem Abenteuer aus, das mit Staatsgeschäften zu tun hat, wenn es auch dem Gesetz nach unter Seeraub fällt. Zweitens droht dir keine Gefahr. Drittens wird der Lohn für unser Unternehmen außerordentlich hoch ausfallen. Viertens werde ich meine eigenen Vorteile nur zu deinen Gunsten ausnützen – denn du, Robert, bist mein Erbe. Ich brauche dich zwar, um meinen Streich auszuführen, aber ich werde dich für alles, was du mir zuliebe tust, hundertfach entschädigen – materiell und auch anders.“

Das alles klang so, als böte er mir mindestens den Gouverneursposten einer Provinz an.

„Ich gehe nicht freiwillig mit“, erklärte ich. „Selbst wenn mich Ihre Versprechungen verlockten – ich würde trotzdem nein sagen, weil Sie mich zwingen wollen.“

„Die Antwort gefällt mir!“, rief er anerkennend. „Tatsächlich, du hast Charakter, mein Junge. Du bist genau der richtige Kerl, wie ich ihn brauche.“

Das war ein starkes Stück! Ich sprang auf, wütend über seine Unverschämtheit.

„Sie brauchen mich, aber Sie kriegen mich nicht!“, beteuerte ich. „Rufen Sie Ihre Banditen nur herein – ich werde ihnen schon den Schädel einschlagen!“

„Immer mit der Ruhe!“, mahnte er. „Meine sogenannten Banditen schlagen lieber anderen die Schädel ein. Wenn dir das Leben deines Vaters lieb ist, dann bleib stehen, wo du bist!“

 

Aus seiner Westentasche zog er eine Silberpfeife und führte sie an die Lippen. Ein dünner Pfiff – und ein Dutzend bärtiger Halsabschneider kamen aus Flur und Küche wie Ratten hereingestürzt.

Ein Klopfen an den beiden Fenstern verkündete, dass andere auf der Straße Wache hielten.

Mit einem einzigen Blick überflogen Peter Corlaers Augen die Eindringlinge, aber keine Sekunde lang unterbrach er sein gleichmäßiges Nüsseknacken und Kauen.

Im Gesicht meines Vaters mischte sich Wut mit Furcht – nicht Furcht um sich selbst, sondern Furcht um mich. Er starrte auf die Spießgesellen, auf die blanken Entermesser und die gespannten Pistolen, als zweifle er an ihrer Echtheit.

In diesem gutbürgerlichen Haus wirkte das alles besonders gespenstisch. Doch der ganze Auftritt wurde für mich noch unwirklicher, als ich neben der Flurtür ein finsteres, mahagonibraunes Gesicht erspähte – und einen Henkerblick unter einer schwarzen Haarlocke. Hinter den beiden tauchte ein vertrauter fuchsroter Schädel auf.

„Heda, Darby!“, rief ich aus. „Was hast du mit denen da zu schaffen? Hast du gewusst, dass diese Leute Seeräuber sind, als du mit ihnen im `Walfisch´ getrunken hast?“

„Na klar!“, antwortete er frech. „Sie haben mich doch in ihre Mannschaft aufgenommen.“

„Bist du wirklich ein Pirat geworden, Darby?“, fragte mein Vater, der ihn jetzt erblickte.

„Mit Leib und Seele!“, prahlte Darby. „Und ich schlag alles kurz und klein, was mir in die Quere kommt.“

„Du hast uns also verraten und sie ins Haus gelassen“, sagte mein Vater traurig. „Das hätte ich nicht von dir erwartet, Darby. Sind wir nicht gut zu dir gewesen?“

Darby wand sich verlegen.

„Ja, schon, meistenteils, Master Ormerod“, gestand er. „Aber sie wären auch ohne mich reingekommen – so oder so. Es ist wirklich ’ne tolle Bande – mit allen Wassern gewaschen! Und ich bin nun mal zum Seeräuber geboren!“

Murray lachte belustigt.

„Ein braver Junge!“, lobte er. „Der wird’s noch weit bringen. Er hat wirklich recht: Wir wären tatsächlich auch ohne ihn eingedrungen.“

Mit einer leichten Neigung seines Kopfes wandte er sich zurück und forschte:

„Wo ist Silver, Master Bones?“

Der Mann mit dem mahagonibraunen Gesicht griff an den Hut.

„John schaut nach, ob die Dienerschaft auch sicher versorgt ist, Sir“, entgegnete er spöttisch. „Da kommt er gerade.“

Durch die Banditengruppe an der Küchentür drängte sich der Einbeinige, dem ich an der Wasserkante begegnet war. Er stapfte an seiner langen Krücke herein, so strahlend heiter wie ein ehrsamer Hausvater.

„Schon hier, Kapitän!“, rief er. „Eben habe ich da hinten Schluss gemacht – alle geknebelt und gebunden, nach bewährter Methode. Unschädlich für einen Tag, Sir.“

Und zu mir gewandt, fuhr er fort: „Meine Hochachtung, Master Ormerod! Hoffentlich lernen wir uns bald noch besser kennen.“

„Ich fürchte, wir brauchen einen Karren, John“, sagte mein Großonkel.

„Er will also nicht, wie?“, fragte Silver mit einem Blinzeln. „Nun, es ist alles bereit. Das geteerte Segel liegt gleich drüben im Garten unter den Apfelbäumen. Bis zu den Booten ist es nur ein Schritt – nicht mehr.“

Mein Vater wurde leichenblass. „Sie – Sie – nein, Murray, Sie können doch den Jungen nicht einfach entführen! In Fort George liegen Truppen, vergessen Sie das nicht! Wenn erst einmal Alarm geschlagen ist…“

„Aber es wird kein Alarm geschlagen“, erwiderte Murray ruhig. „Leider müssen wir Sie und Peter fesseln, damit Sie keine Dummheiten machen können. Wenn Sie Glück haben, kommt Sie vielleicht morgen ein guter Freund besuchen. Inzwischen sind wir auf hoher See.“

„Sie haben den Verstand verloren!“, rief mein Vater. „Sämtliche Fregatten werden Sie verfolgen.“

Mein Großonkel lächelte nachsichtig. „Das bin ich schon gewohnt. Ich kenne alle Fregatten seit mehr als zwanzig Jahren.“

Ich packte den Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, und schwang ihn über seinem Kopf.

„Jagen Sie diese Halunken sofort hinaus – oder ich schlage Ihnen den Schädel ein!“, knurrte ich.

„John“, befahl er, ohne sich um mich zu kümmern, „Sie werden so freundlich sein, den älteren Master Ormerod niederzuschießen, wenn sein Sohn auch nur einen Schlag nach mir führt.“

„Mach ich, Sir“, antwortete Silver und zielte mit einer Pistole auf meinen Vater.

Ohne mich umzusehen, wusste ich, dass Peter und ich von ein paar anderen Männern aufs Korn genommen wurden. Es war Peter, der zuerst sprach.

„Stellen Sie den Stuhl wieder hin, Bob!“, befahl er ruhig

Der Mann, den sie den Schwarzen Hund nannten, warf die Schleife eines Taus über Peters Kopf und schnürte dessen Arme eng an die Hüften.

„Nee, nee, so nicht“, wandte Peter ein und zerriss das Hanfseil ohne besondere Anstrengung.

Das ganze Zimmer schnappte nach Luft. In Peters Nähe entstand ein allgemeiner hastiger Rückzug.

„Schießt den Mann nieder, wenn’s sein muss“, rief Murray. „Aber gebraucht möglichst eure Entermesser.“

„Nee“, sagte Peter von neuem. „Wir wollen nicht kämpfen.“

„Ehe wir zusehen, wie sie Bob fortschleppen, sollen sie uns lieber gleich totschlagen“, sagte mein Vater mit gebrochener Stimme.

„Nee“, brummte Peter zum dritten Mal. „Rühren Sie sich lieber nicht. Vielleicht kneift der Junge ihnen irgendwann mal aus. Besser bei Murray als tot!“

„Sehr klug und logisch!“, bemerkte Murray. „Du solltest auch so denken, mein lieber Neffe.“

Peters Äuglein blinzelten zu meinem Großonkel hinüber.

„Ich gehe mit Bob“, sagte er.

„Nein, nein“, widersprach Murray rasch. „Sie, Peter, habe ich nicht eingeladen.“

„Wenn ich nicht mitgehe, geht auch Robert nicht mit“, entgegnete Peter. „Und auch Sie nicht, Mr. Murray! Vielleicht gelingt es zwar nicht, Sie umzubringen, aber wenn’s eine Schießerei gibt, kommen Sie nicht aus der Stadt raus. Klar?“

Murray sann über diese Worte nach.

„Sie bestehen also darauf, meinen Neffen in sein neues Schicksal zu begleiten – oder Sie wollen uns alle, ihn und Sie selbst nicht ausgeschlossen, todsicher ins Jenseits befördern. Stimmt das?“

„Jo“, antwortete Peter.

„Gut, Sie kommen mit!“, entschied mein Großonkel. „Ihre Bärenkraft kann uns vielleicht einmal nützlich sein. John, ich glaube, für diesen Gefangenen brauchen wir dreifache Fesseln.“

„Machen wir, Sir! Wir haben genug Seile aus Manilahanf“, erklärte Silver und wandte sich an die neben ihm stehenden Galgenvögel Einer von euch läuft zurück und holt die Taurollen neben dem Ofen.“

Noch ehe sich einer der Matrosen rührte, stürzte Darby schon davon.

„So ist’s richtig, Darby!“, lobte Silver ihn. „Immer willig. Du wirst bestimmt noch ein verdammt brauchbarer Matrose!“

Silver lachte kurz auf und wandte sich wieder an meinen Großonkel.

„Und wie steht’s mit diesem Gentleman hier, der zurückbleiben soll? Braucht er noch ein paar Fesseln, oder ist er inzwischen vernünftig geworden?“

Murray blickte zu meinem Vater hinüber und dann von ihm zu mir.

„Wollen Sie sich in Ihr Schicksal fügen?“, fragte er liebenswürdig.

Stöhnend sank mein Vater im Stuhl zusammen.

„Wenn Sie dafür sorgen, dass dem Jungen nichts geschieht!“

„Mein Ehrenwort!“, erwiderte mein Großonkel ernst. „Sein Wohlergehen ist mir wichtiger als meine eigenen Ziele, Ormerod. Denn er soll einmal die Triumphe erringen, die das Schicksal mir versagt hat. Ich hoffe jedoch, diese Triumphe schon recht bald noch selbst genießen zu können. Aber“, und zum ersten Mal überzog ein Schatten sein Gesicht, „ich bin immerhin schon vierundsechzig. Viel Zeit bleibt mir wahrscheinlich nicht mehr.“

Mein Vater betrachtete ihn verblüfft.

„Sie sind ein seltsamer Mensch, Murray. Wenn ich Sie nur verstehen könnte!“

„Das eben können Sie nicht! Nun, die Zeit verrinnt. Wir müssen fort. Unterwerfen Sie sich?“

Mein Vater neigte den Kopf.

„Ja, um seinetwillen“, sagte er, und als er bemerkte, wie ich die Fäuste ballte und losschlagen wollte, befahl er mir: „Keine Gewalt, Robert! Wir stecken in einer Falle, der wir jetzt nicht entrinnen können. Aber ich versichere dir: Ich werde alles, was in meiner Macht steht, tun, um dich zu befreien!“