Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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From the series: Classica Monacensia #51
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Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur
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Manuel Caballero González

Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0004-5


Inhalt

  Carissimae matri meae

  (Ecl. 12, 12b)

  Vorwort

 EinleitungZiele, Methodologie und GliederungÜber den Mythos von Athamas. Fachsprachliche Präzisierung und Vorschlag einer Gesamtdeutung

 Erstes Kapitel Literarische Darstellung von Athamas’ MythosKlassische Griechische EpocheI. AischylosII. SophoklesIII. EuripidesKlassische Lateinische EpocheI. Ovid

 Zweites Kapitel Ausführliche Analyse der wichtigsten Themen jeder VersionEinleitungGründe für die Nennung von Athamas und für seine SageI. Ino-Phrixos-Helle-VersionII. Ino-Learchos-Melikertes-VersionIII. Ino-Themisto-Version und ZwischenstadiumIno-Phrixos-Helle-Version Teil 1I. PhrixosIno-Phrixos-Helle-Version Teil 2I.3 Die MenschenopferI.4 Die Abenteuer von Phrixos in KolchisIno-Phrixos-Helle-Version Teil 3II. Der WidderIno-Phrixos-Helle-Version Teil 4III. HelleIno-Learchos-Melikertes-Version Teil 1I. Präsentation des Konflikts in der I-L-M-VersionII. Die Entwicklung der Aktion in der I-L-M-Version Teil 1Ino-Learchos-Melikertes-Version Teil 2II. Die Entwicklung der Aktion in der I-L-M-Version Teil 2II. Die Entwicklung der Aktion in der I-L-M-Version Teil 3III. Lösung der I-L-M-VersionIno-Themisto-Version

 Drittes Kapitel Literarische Analyse der Figur des AthamasEinleitungAnalyse der die Figur des Athamas enthaltenden TexteI. Griechische LiteraturII. Lateinische LiteraturTexte mit der angedeuteten Figur des AthamasBedeutsame Abwesenheit der Figur des Athamas bei einigen repräsentativen Autoren und Texten

 Allgemeine Schlussfolgerungen über den Mythos von AthamasDer Mythos von Athamas: seine VersionenAthamas und sein Bild in der Griechischen und Lateinischen LiteraturI. Griechische SchriftenII. Lateinische SchriftenAllgemeine Schlussfolgerungen der Versionen des Mythos von AthamasI. Die I-P-H-VersionII. Die I-L-M-VersionIII. Die I-T-VersionIV. Zwischenstadium der I-L-M- und der I-T-Version

  Literatur

  Personen- und Sachregister

  Zitate

Carissimae matri meae

(Ecl. 12, 12b) [bad img format]

Es nimmt kein Ende mit dem vielen Bücherschreiben,

und viel Studieren ermüdet den Leib.

(Bibel - Einheitsübersetzung)

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Juli 2011 an der Universidad Complutense de Madrid mit dem Titel „El personaje mítico Atamante en las literaturas griega y latina“ von Herrn Prof. Dr. García Romero angenommen wurde. Ihm bin ich zu besonderem Dank verpflichtet, weil er mir große Freiheit bei meiner Arbeit gelassen, mit enormer Hingabe alle Seiten der Dissertation (mehr als 1600!) gelesen und mit seinen Anmerkungen und Hinweisen mein Verständnis des Athamas-Mythos erweitert hat.

Zu danken habe ich Prof. Rossi (R.I.P.) und Prof. Nicolai von der Università della Sapienza in RomRom und Prof. Hose von der Ludwig-Maximilians-Universität in München für ihre unendliche Geduld, ihre großzügige und uneigennützige Hilfe und ihre bedingungslose Unterstützung in den schwierigen Phasen während all dieser Jahre. Besonderen Dank schulde ich Herrn Prof. Dr. Hose, der mit großem Einsatz und Hingabe die Fassung dieses Buches betreut und es in die Reihe Classica Monacensia aufgenommen hat. Mein Dank gilt auch dem Verlag Narr und ganz besonders Frau Burger und Herrn Bub für ihre professionelle Leistung. An dieser Stelle will ich auch die Professoren Dr. Cristóbal López, Dr. Lucas de Dios und Dr. López Salvá nennen, die zur Prüfungskommission gehörten und deren Hinweise tiefe Eindrücke in mir hinterlassen haben. Lang ist die Liste von Professoren, Dozenten, Kollegen und Kommilitonen, die mich unterstützt und mir mit ihren Kommentaren und Aufmunterungen sehr geholfen haben: Ihnen allen, besonders Prof. Dr. Floristán Imicoz, Prof. Dr. Hernández Muñoz und Dr. Marzillo sei Dank!

Für die Hilfe beim Korrekturlesen dieser Seiten bedanke ich mich bei Frau Helga Förtsch, Herrn Stefan Müller und Herrn Hubertus Hess.

Ohne den uneingeschränken Rückhalt durch meine Schwester, meine Eltern, vor allem aber durch meine Mutter hätte ich diese Arbeit nie vollenden können. Ihr möchte ich deshalb dieses Buch widmen: ¡Muchas gracias, madre!

Ich bedanke mich bei dem dreieinigen Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, für die Kraft und die Gnade, dieses Werk in Gesundheit zu Ende zu bringen. Ihm sei Ehre und Ruhm in Ewigkeit. Amen!

Einleitung
Ziele, Methodologie und Gliederung

Die vorliegende Arbeit, begonnen im Jahre 2005, will zur Untersuchung der Figur des AthamasAthamas innerhalb der Klassischen Philologie beitragen; dafür war eine ausführliche Untersuchung der Charaktere und der Texte, die sich in der Welt des Athamas bewegen, notwendig.

Bisher ist nur eine Monographie zum Thema erschienen, La figure de Athamas dans la litérature grécolatine. Sie ist das Ergebnis einer von Anne-Claire Soussan an der Universität in Paris X Nanterre geschriebenen Dissertation und gilt als eine grundlegende Arbeit für die Erforschung des MythosMythos von Athamas. Das Buch hat eine deutlich anthropAnthropologieologische Orientierung. Deshalb betont die Verfasserin einige Aspekte wie die Opferriten in der von uns so bezeichneten I-P-H Version oder die Entstehung der dionysischen Zeremonien der Auferstehung in der I-L-M Version. Solche Elemente werden auch in der vorliegenden Arbeit ausführlich besprochen; diese unterscheidet sich jedoch von Soussans Buch im Folgenden: Hier wird versucht, den Mythos des Athamas anhand der Texte zu rekonstruieren, die ihn überliefern. Mein Ziel ist daher eher ein philologisches und will alle Belege des Mythos dia- und synchronisch analysieren.

Zunächst muss festgehalten werden, dass die Figur des Athamas im wissenschaftlichen Kosmos der klassischen Philologie innerhalb der komplexen Welt der mythischen Erzählung nie groß beachtet wurde, obwohl seine Sage die Aufmerksamkeit des Ecksteins der griechischen Literatur, nämlich Homers, und der großen Poeten der Klassischen Epoche, wie des berühmten Pindar, auf sich gezogen hatte; man darf auch die drei großen griechischen Tragödiendichter, Aischylos, Sophokles und Euripides nicht außen vorlassen, die Stücke schrieben, die im Titel den Namen unseres Helden, seiner Frau (InoIno) oder eines seiner Kinder (PhrixosPhrixos) enthalten und Ansichten und verschiedene Bearbeitungen des Mythos dokumentieren. Athamas war auch der Protagonist von Komödien, und sein Charakter sowie seine Sage erscheinen in den vielseitigen Gattungen und Epochen der griechischen und lateinischen Literaturen, von Homer bis zum fünfzehnten Jahrhundert n. Chr. in griechischen Schriften, und vom dritten Jahrhundert v. Chr. bis zur Renaissance in lateinischen Schriften (spätere Autoren werden in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt). Leider existieren von vielen Werken – griechischen wie lateinischen –, in denen der mythologische Charakter von Athamas und seiner Sage eine außerordentliche Rolle spielte, ausschließlich einige wenige Fragmente und kurze Nachrichten (oft nur die bloße Erwähnung eines Titels). Jedenfalls zeigt uns die Vielfalt der Gattungen (Epik, Lyrik und Elegie, TragödieTragödie, Komödie, Rhetorik, wissenschaftliche und gelehrte Prosa, grammatikalische Werke usw.), in denen die Figur des Athamas behandelt worden ist, welch tiefe Kenntnis die Alten von Athamas hatten, wenn nur eine kurze und einfache Andeutung reichte, um alle AbenteuerAbenteuer unseres Helden ins Gedächtnis zu rufen. Ohne Zweifel hat die Tragödie – mehr als jede andere Gattung – dazu beigetragen, Athamas berühmt zu machen. Vielleicht waren einige tragische Szenen so beliebt, dass sie die Schriftsteller, die später über verschiedene Themen, wie das OpferOpfer, das Goldene VliesGoldenes Vlies, den WahnsinnWahnsinn, Inos SprungSprung oder den tödlichen Fehler Themistos schrieben, stark beeinflussten.

 

Ziel meiner Arbeit ist es, eine vollständige Studie nicht nur zu Athamas, sondern auch zu seiner SageSage zu erstellen. Denn Athamas’ Mythos dreht sich nicht einzig und allein um Athamas selbst, sondern oft übernehmen andere Figuren in seinen Abenteuern eine besondere Rolle – manchmal sogar noch wichtigere – z.B. seine Frauen NepheleNephele, InoIno und ThemistoThemisto, seine Kinder Phrixos und HelleHelle, LearchosLearchos und MelikertesMelikertes, LeukonLeukon, ErythriosErythrios, SchoineusSchoineus, PtoosPtoos und PorphirionPorphirion oder selbst der WidderWidder. Aus diesem Grund wird diesen Figuren ein großes Kapitel gewidmet.

Zunächst werden die literarischen Quellen analysiert, die von unserer Hauptfigur1 sprechen. Sie wurden aufmerksam gelesen und mit Hilfe der Kommentare und der Fachliteratur interpretiert. In diesem Sinne stimmen meine Ansichten ganz und gar mit denen von Antonio Ruiz de Elvira überein, der sagt: „Lo único que a nuestro juicio tiene rango científico en las investigaciones mitológicas es el estudio directo de los materiales o datos concretos sobre los mitos, estudio que debe hacerse exhaustivamente, pero poniendo sumo cuidado en marcar la diferencia entre lo que dicen esos datos y lo que se suple con la fantasía“2. Gemäß dieser These wird sich meine Arbeit meist auf die Quellen beschränken, in denen Athamas und seine Familie vorkommen. Ruiz de Elvira weist auch darauf hin, wie wichtig eine komparative Untersuchung des Mythos ist. Eine solche wird auch hier angewendet3, wenngleich auf eine meiner Arbeit gemäße und reduzierte Art und Weise.

Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen gegliedert: Im ersten Kapitel wird eine Untersuchung der literarischen Darstellung von Athamas angestrebt, zunächst in der griechischen, dann in der lateinischen Literatur. Vier Verfasser4 können als Hauptautoren für die Entwicklung des Mythos von Athamas betrachtet werden, nämlich die drei griechischen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides und der große lateinische Dichter Ovid, der als Meilenstein in der Fassung, dem Verständnis und der Überlieferung des Mythos von Athamas gilt. Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit wird eine ausführliche Analyse der erhaltenen Fragmente der TragödieTragödien Athamas, Phrixos und Ino der griechischen Tragiker unterlassen: Nur die theoretische Untersuchung des Mythos bei diesen Autoren wird vorgenommen. Alle Erwähnungen der Sage des AiolidAioliden bei Ovid werden aber vollständig untersucht. Mit dieser unverkürzten Erforschung wird jede einzelne Textstelle im Detail analysiert: welche Rolle der Mythos spielt, wie er zum allgemeinen Ton des jeweiligen Werkes passt und welches Bild von Athamas dargeboten wird. Wo es möglich ist, wird zugleich versucht, eine Begründung für die dargestellten Varianten des Mythos zu finden. Ich werde mich in dieser Untersuchung der finnischen Schule und vor allem der Werke von Propp bedienen, soweit sie die Analysis der Motive von VolksmärchenMärchen5 betreffen, die aus dem Mythos von Athamas gelesen werden können.

Das folgende Kapitel behandelt die wichtigen Themen jeder Version. Dabei werden die großen konzeptuellen Bildrahmen, nämlich die Version Ino-Phrixos-Helle (I-P-H), die Version Ino-Learchos-Melikertes (I-L-M) und die Version Ino-Themisto (I-T)6 analysiert.

Innerhalb der Version I-P-H werden die drei Hauptfiguren dieser Handlung beleuchtet. An erster Stelle steht Phrixos, dessen Geschichte in drei Teile geteilt wird: 1) das Thema der StiefmutterStiefmutter (hier wird auf die Art der IntrigeIntrigen genauer eingegangen); 2) das Thema des MenschenopferMenschenopfers (das spielt in dieser Version des Mythos eine bedeutsame Rolle im Hinblick auf alle Arten von TodesstrafeTodesstrafe, nämlich als VersöhnungVersöhnung, als echte StrafeStrafe, als Katharsis, als ParadigmaParadigma, als EinweihungEinweihung, als Beispiel von UnfrömmigkeitUnfrömmigkeit); 3) das Thema von Phrixos in KolchisKolchis, das OpferOpfer des Widders und das Aushängen seines Vlieses an einem heiligen Ort (dabei spielen auch die GastfreundschaftGastfreundschaft des Königs Aietes sowie die Gründung einer Familie in jenen fernen Ländern eine Rolle). An zweiter Stelle wird die Figur des Widders analysiert, dessen Handlungsfeld mit der geographischen Lokalisierung zu tun hat: HellasHellas, wo der WidderWidder als RetterRetter vorgestellt wird; seine Fahrt, entweder in der LuftLuft oder auf dem MeerMeer; Kolchis, wo er, nach den meisten Quellen, geopfert wurde – sein Fell war der Grund für den FeldzugFeldzug der ArgonautenArgonauten. An dritter Stelle beschäftige ich mich mit Helle, die im Mythos von Athamas lange Zeit als sekundär galt und nur wegen ihres SturzSturzes ins Meer, das von ihr seinen Namen bekam, eine Bedeutung hatte. In dieser Version werde ich von der RationalisierungRationalisierung des Mythos sprechen, da sich alle rationalistischen Deutungen der Erzählung von Athamas auf die Figur des Phrixos, des Widders oder der Helle konzentrieren.

In der I-L-M-Version werden drei wesentliche Momente unterschieden, die der Entwicklung eines Theaterstückes entsprechen. Erstens: Der Streit und alle daraus entstandenen Übel. Die Ungnade hat einen Namen: DionysosDionysos. Diese Figur und die Beziehung, die sie mit Ino als AmmeAmme hat (die eine besondere Rolle im Mythos von Athamas spielen wird), werden oberflächlich untersucht. Zweitens: Die Entwicklung der Handlung. Sie hat zwei Hauptpunkte: einerseits den Wahnsinn von Athamas, Ausgangspunkt meiner Dissertation; hier wird der Begriff des Wahnsinns (Herkunft, Ursache, Verursacher, Befreiung) analysiert und ich werde zeigen, in welcher Art Athamas als Prototyp des Wahnsinns gelten kann; andererseits den Sprung von Ino mit Melikertes; hier werde ich sowohl über diese zwei Figuren als auch über die verschiedenen Riten, die auf ein Unsterblich-Werden zielten (der Tod im TopfTopf und der Tod im Meer) sprechen. Drittens: Die endgültige Auflösung; hier werde ich von der DivinisierungDivnisierung der Ino und des Melikertes sprechen, sowie von den verschiedenen KultKulten, die beide bekommen haben, entweder unter dem Namen von LeukotheaLeukothea und PalaimonPalaimon für die griechische Welt oder als Mutter MatutaMatuta und PortunusPortunus für die römische Welt, mit allen Problemen, die die Identifizierung dieser zwei Paare von griechischen und lateinischen Göttern impliziert.

Anschließend werden die Schlussfolgerungen der Dissertation dargestellt, indem meine Gedanken über die Figur des Athamas’ zusammengefasst werden: Welches Bild hatte man von ihm? Wie hat es sich entwickelt? Inwiefern kann er, wie zum Beispiel Cicero sagt, als Prototyp des WahnsinnWahnsinns gelten? Wie viele „Athamas“ kann man im Mythos unterscheiden, obwohl – das muss klar sein – unser Held eine einzige Person ist?

Als Abkürzungen der Zeitschriften werden die von der Année Philologique benutzt; als Abkürzungen der klassischen Autoren und ihrer Werke werden die vom Diccionario Griego-Español (DGE) verwendet.

Über den Mythos von Athamas. Fachsprachliche Präzisierung und Vorschlag einer Gesamtdeutung

Bis jetzt wurde nur vom MythosMythos des AthamasAthamas gesprochen. Nun ist es die Aufgabe zu präzisieren, wie die Begriffe ,Mythos‘, ‚LegendeLegende‘ und ‚populäres MärchenMärchen‘ verstanden werden sollten. Dabei werden die expliziten Unterscheidungen, die Ruiz de Elvira in seiner Mitología Clásica macht, dargestellt; dieses Werk ist ein maßgebliches Buch für den Bereich, der hier analysiert werden soll.

Tatsächlich definiert Ruiz de Elvira den Mythos mit den Worten „el relato acerca de dioses o de fenómenos de la naturaleza más o menos divinizados“1; die Legende aber mit der Beschreibung „el relato acerca de héroes y heroínas o personajes similares, caracterizados siempre como seres humanos … de notable relieve individual dentro de la colectividad a que pertenecen, y claramente encuadrados en una familia y en una época determinadas, con nombres propios que distinguen a cada uno de esos elementos individuales y colectivos“2; und schließlich das Volksmärchen in Abgrenzung zum Kunstmärchen: „el relato acerca de personajes humanos indeterminados en cuanto a familia, época y colectividad, carentes a veces hasta de nombre individual, si bien también de notable relieve por sus hazañas o cualidades“3. Selbstverständlich entsprechen diese Unterschiede nur rein praktischen Forschungskriterien, da die Grenzen in literarischen Werken nicht so klar sind und die Kriterien zu einem Amalgam vermischt werden.

Der aus der deutschen Sprache hergeleitetete Begriff ‚Saga‘ wird für die altnordischen4 Mythen- und Heldenerzählungen verwendet, das heißt, ihr Ursprung liegt in der skandinavischen Mythologie, obwohl sich die allgemeine Anwendung dieses Begriffs auf die Erzählung von Schicksalsschlägen einer Familie in zwei oder mehr Geschlechtern5 ausgeweitet hat.

In der vorliegenden Arbeit wird die Terminologie dadurch erleichtert, dass nur eine konkrete Figur aus der Mythologie und deren AbenteuerAbenteuer untersucht werden. Deshalb können hier ‚Mythos‘ und ,Legende‘ problemlos identifiziert werden. ‚SageSage‘ wird benutzt, wenn ich mich auf Athamas und andere Charaktere des Mythos beziehe. Unter ‚Version‘ wird dagegen ein Teil dieses Mythos verstanden, der eine Einheit in sich bildet und ganz ohne die anderen Teile des Mythos zu begreifen ist6.

Der wichtigste Punkt dieser Arbeit beruht auf der Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Versionen des Mythos von Athamas. Die Figur des AiolidAioliden wird in der Regel im Ganzen global betrachtet, ohne Rücksicht auf die verschiedenen Kontexte. Jedoch ist der Athamas, der in der Geschichte von PhrixosPhrixos und HelleHelle vorkommt, ein ganz anderer Athamas im Vergleich zu dem, der im WahnsinnWahnsinn Learchus umbringt, und zu dem, der ThemistoThemisto heiratet. Die Rolle, die unser Protagonist jeweils in diesen von uns genannten Versionen spielt, ist völlig unterschiedlich: vom Athamas, der ein OpferOpfer darstellt, aber gleichzeitig das Leben seines Sohnes zu retten versucht, über den wahnsinnigen Athamas, Ursache des grässlichen Todes des Erstgeborenen der Ino, bis zu Athamas von Themisto, der sich eher passiv verhält. Deswegen wird Athamas in den drei unterschiedlichen Versionen als homo sacrificanshomo sacrificans, homo furenshomo furens und homo ignauushomo ignauus bezeichnet.

Es ist wahr, dass Athamas in den drei Versionen seines Mythos erscheint; jedoch ist in all diesen Versionen InoIno die Schlüsselfigur, diejenige, die eine besondere Rolle hat. Die Tochter des KadmosKadmos erscheint nämlich nicht nur in den drei Versionen, sondern ihre Taten sind sogar entscheidend, einerseits weil sie das Opfer des Phrixos durch eine von ihr geplante IntrigeIntrige fördert, andererseits weil sie beim Aufnehmen des DionysosDionysos unter dem Wahnsinn ihres Mannes leidet – manchmal nimmt sie auch an Athamas’ Wahnsinn teil – und sich mit ihrem Sohn MelikertesMelikertes in die Kluft stürzt, und schließlich weil sie, von Themisto gedrängt, verursacht, dass die Tochter des HypseusHypseus ihre Kinder tötet.

Aus diesem Grund wird jede Version7 mit den Anfangsbuchstaben des Namens von InoIno und derjenigen Charaktere benannt, die die Schlüsselfiguren in der jeweiligen Version spielen. Demnach wird die erste Version als I-P-H bezeichnet, da, abgesehen von Ino, die meist als grausame StiefmutterStiefmutter der Kinder von NepheleNephele gilt, Phrixos und Helle die wichtigsten Achsen der Erzählung bilden, sowohl weil Phrixos’ OpferOpfer das Eintreten des rettenden WidderWidders bewirkt, sowie die Fahrt nach KolchisKolchis und das goldene VliesGoldenes Vlies, das diese SageSage mit dem Zyklus der ArgonautenArgonauten verbindet, als auch weil die FluchtFlucht der HelleHelle den SturzSturz in das MeerMeer verursacht, das in Zukunft ihren Namen tragen wird. Die zweite Version ist die I-L-M-Version, da, abgesehen von Ino (hier besorgte AmmeAmme des Sohnes ihrer Schwester SemeleSemele), LearchosLearchos und MelikertesMelikertes diejenigen sind, die eine wesentliche Rolle in der Erzählung spielen: Der erste wird zum OpferOpfer des wahnsinnigen Athamas; der zweite wird zusammen mit seiner Mutter auf der Flucht vor seinem Vater in einen TopfTopf geworfen, wie einige Autoren sagen, oder in die Tiefe des Meeres, wie die meisten behaupten. Die dritte Version wird I-T genannt, weil, abgesehen von Ino (hier SklavinSklavin), Themisto diejenige ist, die der Erzählung ein besonderes Gewicht verleiht, da zwei ihrer Kinder von der Hand ihrer eigenen Mutter sterben werden und diese sich schlieβlich das Leben nimmt, als sie, wie in den meisten unserer Quellen berichtet wird, diesen tragischen Fehler entdeckt.

 

Einige Autoren haben eine allgemeine rationalistiche Deutung des Mythos von Athamas vorgeschlagen, indem sie das archetypische8 Modell dieser Legende rekonstruieren.

Nach Escher „ist [Athamas] ein Eponym der AthamanenAthamanen, deren Namen die ,athamantischen Ebenen‘ in ThessalienThessalien und BöotienBöotien verraten“9. In historischer Zeit befinden sich die Athamanen sowohl in Epirus als auch in Heraklea neben dem Iti-Gebirge. Die böotischen eponymischen Lokalitäten der Kinder des thessalischen Paares Athamas-Themisto deuten auf die MigrationMigration von Völkern hin. Jedoch hat die Sage von Phrixos seine Urwurzel in einem athamantischen KultKult; daher wird Phrixos zum Sohn des Athamas und seine Mutter, die nicht von dieser Welt stammende Nephele, zur Frau des Aioliden. Viel später wird Ino in Böotien mit Athamas in Verbindung gebracht, dessen Sohn Phrixos war. Damit kam Athamas zum Kreise des Dionysos. „Diese boiotische Sage mit mannigfacher Sondergestaltung im einzelnen ist die herrschende geworden“10. Escher schlägt also eine Migration von Thessalien nach Böotien vor.

Auch Robert bietet seine eigene Meinung über den Mythos des Athamas. Seines Erachtens wird die Rolle des Widders in dieser SageSage der Lächerlicheit preisgegeben. Robert hält das Hilfsmittel, das Phrixos zur Rettung gegeben wird, für etwas Künstliches, das bei den Lesern analoge Episoden der Weltliteratur aufruft, wie das OpferOpfer der Iphigenia in der griechischen Welt oder das des Isaac in der Bibel. Deshalb schließt der deutsche Gelehrte: „…hier liegt deutlich eine spätere Entwicklung vor, die durch die Verbindung der Phrixossage mit der Fahrt der Argo bedingt ist“11. Der Grund des Opfers war eine hartnäckige DürreDürre mit einem entsprechenden Ernteausfall im Land des Athamas. Die Ursache ist also natürlicher Art und entspringt nicht der Intrige einer StiefmutterStiefmutter. Robert glaubt, der natürliche Ursprung des Unheils begründet, „daß Phrixos sich freiwillig zum Opfer anbietet“12. Die Einführung einer böswilligen Stiefmutter ist eine spätere Entwicklung; es ist sogar unmöglich, dass Ino ursprünglich die die Intrige planende Figur war; sie scheint diese Rolle erst seit Euripides übernommen zu haben. Helle hatte überhaupt keine Beziehung zu dem Opfer des Phrixos; ihr Leben schwebt erst bei späteren Überlieferungsträgern13 in Gefahr und ist als Eponym des HellespontHellesponts dargestellt. Robert zufolge „stehen die thessalische und die boiotische Athamas-Sage anfänglich völlig unabhängig voneinander da“14. In der thessalischen Sage geht es um das MenschenopferMenschenopfer in AlosAlos, in der anderen Fassung um den Hass der HeraHera gegen SemeleSemele und deren Familie.

Krappe beschränkt sich auf die I-P-H-Version und schlägt Folgendes vor: „Athamas répudie Néphélè et épouse une femme mortelle qui lui donne plusieurs enfants. Jalouse de sa rivale qu’elle hait, Néphélè provoque une famine, sachant que par ce moyen le fils de sa rivale sera inmolé à l’autel. Pour sauver son enfant d’une mort terrible, la pauvre mère se suicide et devient une divinité bienveillante“15. Dieser Vorschlag leuchtet mir nicht ein. Nirgendwo liest man, dass Ino um das Leben ihres Sohnes fürchtet, weil kein Text Learchos oder MelikertesMelikertes als versöhnende Opfer vorschlägt, die die DürreDürre beenden können. Auch ist nirgendwo zu lesen, dass Ino sich tötet, um ihren Sohn vor dem Tod auf dem Opferaltar zu retten.

Sehr interessant ist die holistische Deutung von Fontenrose (S. 149–150). Diesem Autor zufolge ist das, was hier als I-T bezeichnet wird, eine ganz böotische und keine thessalische Legende. Sie „was told in Orchomenus and all about the Lake CopaisCopais region“16. In der Tat bildete dieser von schottischen und französischen Ingenieuren im XX. Jh. entwässerte SeeSee ein Dreieck mit den Städten AkraiphiaAkraiphia nach Osten, HaliartosHaliartos nach Süden und OrchomenosOrchomenos nach Nordosten. Die I-P-H Version mit dem Motiv von PotipharPotiphar „belongs to Thessaly; for Nephele and Phrixus are certainly Thessalian figures“17. Fontenrose beruft sich auf das Werk von Müller, der, wenn er die Rolle der Frau von Kretheus erläutert, „offenbar einer Thessalischen und eigenthümlich Iolcischen Sage folgt18. Denn auch Phrixos heißt ein IolcierIolcier“19. Zwar stellt Fontenrose nicht fest, welche von diesen Versionen die älteste ist, aber er deutet an, dass jede Version, nachdem sie sich in ihrer Entstehungsregion etabliert hat, auf die andere trifft und sich die von mir genannte I-P-H Version ergibt. Den griechischen und lateinischen Autoren zufolge befindet sich diese Version in HalosHalos oder Orchomenos. In Bezug auf die Geschichte von Ino ist die Nachricht von Paus. I 42, 7PausaniasPaus. I 42, 7 über die Ankunft von Ino in MegaraMegara von Bedeutung: „if it was in the Megarid that a triangle tale was first told about Ino, the story passed thence to Thebes, Ino’s original home, and to other Boeotian cities, where it took several forms and also merged with the legends that had grown up around Athamas“20. Fontenrose behauptet, Ino wurde mit LeukotheaLeukothea wegen ihrer Rolle als Athamas’ Frau in den Geschichten, die von einem Mann mit zwei Frauen handelten, gleichgesetzt; diese Identifizierung wurde in KorinthKorinth und auf dem IsthmosIsthmos stärker vertreten. Der Grund dafür liegt vielleicht in den Kulten zu Ehren der Ino, die in dem nahe Korinth gelegenen Megara gefeiert wurden. In diesem Zusammenhang – so Fontenrose weiter – wurde Melikertes in dieser Stadt zum Sohn der Ino. In der Tat ist der Name ihres Sohnes jeweils anders: Melikertes in Korinth, PalaimonPalaimon in TenedosTenedos. Mit einem Wort: die Geschichte von Leukothea-Palaimon hatte im Hinblick auf die Isthmischen SpieleIsthmische Spiele eine aitiologische Funktion.

Auf diese drei Arten von Geschichten beruft sich Fontenrose21, um den mythischen Stamm der Legenden von Athamas – abgesehen von der Geschichte der Ino und der von Aedon-ProkneAedon-Prokne – zu rekonstruieren. Ihr Schema könnte das folgende sein:

 1) Ein Mann hat Kinder von seiner ersten Frau; er heiratet eine zweite Frau, die ihm auch Kinder schenkt. Die StiefmutterStiefmutter hasst ihre StiefkinderStiefkinder und intrigiert gegen sie. Am Ende aber tötet sie ihre eigenen Kinder und verliert selbst das Leben.

 2) Ein Mann hat einen erwachsenen Sohn von seiner ersten Frau; er heiratet noch einmal, und diese Frau verliebt sich in ihren Stiefsohn, der sie ablehnt. Sie beschuldigt ihn bei seinem Vater, der ihr glaubt. Der Sohn flieht. Der Vater entdeckt später die Wahrheit und bestraft seine Frau.

 3) Ein Mann hat eine heimliche Geliebte. Seine Frau entdeckt dies und ist eifersüchtig. Sie entwickelt Hass gegen ihren Mann und in dem Vorhaben, ihn zu bestrafen, bestraft sie den einzigen Sohn, den sie von ihm hat. Der Mann wiederum bestraft sie.

Die ersten beiden Modelle können unter einer einzigen Überschrift zusammengefasst werden; meiner Meinung nach ist der Kern beider Erzählungen die Figur der StiefmutterStiefmutter; der Unterschied liegt in dem Hass und der Intrige, die entweder gegen das Stiefkind aus Liebe oder gegen die StiefkinderStiefkinder aus NeidNeid gerichtet sind. Aus diesem Grund können m.E. beide Erzählungen als die ,von der neidischen Stiefmutter‘ oder die ‚von der verliebten Stiefmutter‘ bezeichnet werden.

Fontenrose fasst diese drei Arten in einem weitergehenden generischen Modell: „a husband takes a second wife or a concubine; jealousy or rivalry occurs between the women; as a result the husband loses his children“22. Er schließt nicht aus, dass die drei Arten der in seinem Artikel erwähnten Erzählungen ihren Ursprung in einer polygamen Gesellschaft des Morgenlandes haben; er wagt sogar Syrien oder den Nahen Osten vorzuschlagen. Nachdem der Kern des Mythos in dieser Art von Gesellschaft entstanden war, wurden die dort erzählten AbenteuerAbenteuer später in die hellenische monogamische Kultur übertragen und dementsprechend angepasst (die erste Frau stirbt oder der Mann lässt sich von ihr scheiden; das Thema der Geliebten passt ebenfalls dazu). Im Bezug auf die AitiologieAitiologie des Mythos von Athamas (und des Mythos von Prokne) ist Fontenrose der Meinung, dass diese drei Erzählvarianten wahrscheinlich ins Spiel gebracht wurden „as aitia to explain certain cults and rites that attracted attention: the worship of ZeusZeus Laphystius at HalosHalos and Mount Laphystium, the Agrionia of Orchomenus, other Dionysiac cults in Boeotia, the Isthmian festival, the sacrifices to Palaemon-Tennes on TenedosTenedos“23. Dieser Gelehrte argumentiert auch gegen viele englische Autoren, die denken, dass der Mythos aus dem Kultus entstanden24 ist, das heißt, dass sich der Plot eines Mythos aus der Gesamtheit der Gesten eines Ritus entwickelt hat. Die Geschichte von Athamas wurde dem allgemeinen Magma der hellenischen Folkloristik entnommen.