Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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From the series: Classica Monacensia #51
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Es gibt noch einen anderen ikonographischen Beleg zu diesem Thema. Er wird an dieser Stelle erwähnt, nicht weil er Informationen über die Tragödie von Sophokles geben kann, sondern weil er eine m.E. deutlichere Darstellung der Übergabe von Dionysos durch HermesHermes an Ino und Athamas liefert als auf der vorher analysierten Vase. Diese neue Darstellung scheint der Erzählung von Apollodor (III 4, 3ApollodorosApollod. III 4, 3)82 zu folgen, genau wie der Stamnos aus RomRom. Es geht um eine in AthenAthen erhaltene, rotfigurige Hydria aus der privaten Sammlung von Adonis Kyrou, die auf Hermonacte-Maler zurückgeführt wird. Leider ist sie nur fragmentarisch erhalten geblieben: Es fehlt der Fuß der Hydria, der Griff der linken Seite, fast der ganze Bestandteil und ein kleiner Teil über dem Griff der rechten Seite. Hier ein Bild der Vase:

Abb. 3:

HermesHermes übergibt Ino und Athamas Dionysos

Auf dieser Keramik lassen sich vier Figuren erkennen. Die auffälligste ist die von HermesHermes, mit seinem Chlamys, seinem breitkrempigen Hut (Petasos), seinen geflügelten Schuhen und seinem zaubermächtigen goldenen Stab in der linken Hand; seine rechte Hand wendet er nach oben. Zwischen seinem linken Arm und seiner Schulter befindet sich ein Kind, dessen Haupt in dieselbe Richtung wie Hermes weist. Ein Band mit Amuletten bedeckt seinen Körper. Diese zwei Figuren wenden ihr Angesicht einer Frau zu, die mit Chiton, Himation, einem Gürtel und einem Diadem bekleidet und zwischen zwei dorischen Säulen steht, vielleicht in einer Vorhalle. Neben ihr befindet sich ein dreifüßiger Tisch mit zwei Tonkrügen und einem Kuchen. An der linken Seite der Frau ist, leider sehr unklar, der Oberkörper eines sitzenden Mannes zu sehen, der das Himation trägt und eine Fiale in seiner rechten Hand hält. Oakley schreibt: „his left hand, most likely held the striped scepter preserved in part by his knee and by the left hand Doric capital“83.

Dieser Wissenschaftler erklärt, es bestehe eine Reihe von rotfigurigen Vasen, datierbar zwischen 480 und 440 v. Chr., auf denen dargestellt ist, wie Zeus, es könnte aber auch HermesHermes sein, das Kind Dionysos den Nymphen aus Nisa übergibt. Man nimmt an, dass alle diese Darstellungen durch das Satyrspiel Dionysiscus von Sophokles beeinflusst sein könnten. Kyrous Hydria beschreibt eine andere Variante dieser Geschichte: Hermes vertraut Ino und Athamas das Kind Dionysos an. Bis zur Veröffentlichung von Fuhrmanns Artikel 1950/1 gab es für diese Version der Kindheit von Dionysos keinen Beleg, weder in den Bemalungen der attischen Keramik noch in irgendeiner plastischen Darstellung.

Die rotfigurige Hydria ist dem von Fuhrmann kommentierten84 ‚Stamnos‘ aus der Villa Giulia sehr ähnlich; darum ist es durchaus möglich, Oakleys Deutung für diese Keramik anzunehmen: „The myth depicted, I believe, is HermesHermes bringing the infant Dionysos to King Athamas and Ino, one of the mythological versions of Dionysos’ childhood“85. Oakley erläutert auch Tonkrüge und Kuchen als Zeichen bzw. Attribute von Dionysos. Er sagt aber nichts über die fehlenden berühmten Merkmale dieses Gottes, wie z.B. die Efeukränze. Kunze-Götte bringt die Vase in Zusammenhang mit zwei in Athens Keramik gefundenen Pyxiden und glaubt, dass „wegen der von HeraHera drohenden Gefahr ein gewisses Inkognito des Kindes eine Rolle spielte“86. Deswegen hält der Mangel an Attributen, die üblicherweise vorhanden sind, den Leser nicht davon ab, Dionysos als Gott zu erkennen.

In Hinblick auf die Datierung der Vase schätzt Oakley, dass Kyrous Hydria gleichzeitig mit dem ersten Sophokles entstanden ist, nämlich ca. 460 v. Chr., wenn man dem Marmor Parium 56: IG2 2325 folgt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die obengenannte Tragödie von Sophokles auf diese Hydria Einfluss hatte. Wenn das so wäre, „the moment of the encounter between the messenger god, and the King and Ino could suggest that the latter was one of the major characters in the play, a fact which so far has not emerged so clearly from the other pictorial renderings and the extant fragments of the Athamas as it does now from the Kyrou hidria“87. Wegen dieser Datierung glaubt Lucas de Dios seinerseits, dass es viele Möglichkeiten gibt, einen Berührungspunkt mit Aischylos’ Tragödie zu finden88. Zum anderen stammt die Hydria aus Atalanti, einer Stadt in Locris, zwischen BöotienBöotien und ThessalienThessalien gelegen. Oakley lässt sich auf folgenden Vorschlag ein: „Since Athamas was a local hero in this area and since red-figure finds from Atalanti are rare, might we dare speculate that our vase was a special commission or purchase of a local passing through Athens, perhaps one who had seen the Athamas of Sophocles?“89.

II.2 Die PhrixosPhrixos betitelte Tragödie

Abgesehen von den zwei schon analysierten Tragödien verfasste Sophokles ein weiteres Schauspiel über den Phrixos-Mythos. Leider sind nur wenige Fragmente dieses Dramas erhalten.

Der Leser könnte sich fragen, warum in dem vorliegenden Buch ein Werk untersucht werden soll, das sich nicht auf die Figur von Athamas konzentriert bzw. den Namen des Aioliden nicht als Titel trägt, wie die oben erwähnten Stücke von Aischylos und Sophokles. Fuhrmann erklärt treffend den Grund: „Denn wenn auch Athamas die zentrale Gestalt der Sage ist, so sind er und sein Schicksal keineswegs immer der Mittelpunkt der sie behandelnden Dichtungen, sondern ebenso seine Gemahlinnen und Kinder, also einerseits Nephele mit ihren Kindern Phrixos und Helle und Ino mit ihren Söhnen Learchos und Melikertes und andererseits diese und Themisto mit ihren Zwillingen. … So gehören zum Kreis der Dichtungen, die den Athamasstoff behandeln, auch die Tragödien nicht allein mit dem Titel ‚Athamas‘, sondern auch die mit den Titeln wie ‚Phrixos‘ und ‚Ino‘“1. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Die Handlung des Phrixos von Sophokles wird üblicherweise mit der in Hyg. Astr. II 20HyginusAstr. II 20 beschriebenen Geschichte in Verbindung gebracht. Nauck selbst weist auf diese Idee hin: „mythum in Hygini Poet. Astr. 2, 20 p. 446 repperisse sibi uisus est Welcker“2. Lucas de Dios ist aber vorsichtiger: „Respecto al Frixo sofocleo, poco puede decirse a través de los fragmentos conservados. Hay, sin embargo, una serie de conjeturas, basadas en criterios externos a la obra“3.

Vier Vermutungen werden im Folgenden vorgeschlagen, um die Handlung dieser Tragödie zu rekonstruieren.

 1) Potiphars Motiv

Es geht um die verleumderische Anklage der Demodike, wenn ihr Neffe Phrixos sie zurückweist und es ablehnt, mit ihr zu schlafen4.

Der erste Gelehrte, der dieses Thema auf die Tragödie zurückführte, war Welcker: „Auf eine für die Tragödie gerade ganz geeignete Sage deutet Pindar, indem er (Pyth. IV, 162) sagt, daß Phrixos durch den Widder gerettet ward von der Stiefmutter bösen Geschoffen“5.

Pearson mutmaßt, dass die Handlung dieses Dramas „is referred to by Pind. Pyth. 4. 161“6, auch wenn die Aussage des Scholions zu Pindars Werk „does not in any way assist the conclusion that the Demodice-story was the central incident in the Phrixus“7. Gantz schenkt diesem Scholion auch keinen Glauben: „But possibly, too, the scholiast is confused“8. Diesem Forscher gemäß konnte die StiefmutterStiefmutter in Sophokles Tragödie nicht Nephele genannt werden.

In Bezug auf Welckers Vorschlag behauptet Pearson, „is thus little more than a guess“9, obwohl es möglich ist, dass Welcker Recht hatte, denn Phrixos musste die Hauptfigur der Tragödie sein und die Geschichte der Demodike beschreibt ihn auf diese Weise. Fontenrose ist in seiner Erklärung der Demodike als Tante, nicht als Stiefmutter, wahrscheinlich derselben Ansicht: „The nature of her plot is evident from a second (probably Sophoclean) version of the story, wherein Demodice or Biadice was not the stepmother of Phrixus but the wife of his uncle Cretheus10. Ganz anders ist die Ansicht von Lucas de Dios. Er meint nicht, dass Potiphars Motiv der Kern dieser Tragödie war, zumindest wenn man Euripides’ Tragödie im Sinne hat: „El tradicional paralelismo de contenido en correspondencia a la identidad de títulos11 hablaría igualmente en contra de aplicar al Frixo sofocleo el motivo de Putifar“12. Allerdings ist es nur eine Vermutung, dass Sophokles’ Phrixos einer der Tragödien des Euripides ähneln sollte.

 2) Das Motiv der StiefmutterStiefmutter

Dieser Mutmaßung gemäß handelt es sich bei Sophokles’ Phrixos um die übliche IntrigeIntrige der Ino ihren Stiefkindern gegenüber. Pearson meint, „Phrixus contained the earlier part of the story of Ino’s plot up to the time of the escape of the two children, whereas the Athamas, as has already been suggested (I p. 2), narrated the subsequent punishment of their father“13.

 3) Phrixos’ Rückkehr und seine endgültig erwiesene Unschuld

Pearson weist darauf hin, „Urlichs conjectured that the Phrixus related to the fortunes of the hero subsequent to his arrival in Colchis“14. So war es, denn Ulrichs beteuert, „Sophocles autem, quum in altero Athamante periculum, quod Phrixo eiusque sorori a patre instabat, descripsit, in Phrixo eius aduentum in Colchide uidetur repraesentasse“15. Welcker erwiderte ihm, es gäbe der Tradition nach kein solches AbenteuerAbenteuer, das die Handlung einer Tragödie darstellen konnte: „Allein von seiner That des Phrixos bey oder nach seiner Ankunft ist die geringste Spur in den Sagen“16.

 

 4) Mangelnde Grundlage für eine Aussage

Zuletzt meint Ribbeck, Demodikes Geschichte „ist der Hippolytosfabel unverkennbar nachgebildet, muss also jüngeren Ursprungs sein, so dass … [sie] … nur einem späteren Tragiker, gewiss nicht dem Sophokles zuzutrauen ist“17. Zudem ist er auch der Meinung, es sei nicht auszuschließen, dass Sophokles’ Phrixos ein Satyrspiel war.

Schmid selbst entschließt sich nicht für eine bestimmte Handlung18 und viele andere Wissenschaftler geben zu, dass es sehr schwer ist, den Inhalt der Tragödie anzudeuten – vorausgesetzt es handelt sich um eine solche. So stellt Radt fest: „de argumento non constat“19; Mette erkennt, „der Inhalt des ‘Phrixos’ (frg. 721–723, P.) bleibt unbekannt“20. Pearson weist darauf hin, „the internal evidence is insignificant, and general probability can alone decide the issue“21. Lloyd-Jones vertritt die Auffassung, „there is no positive evidence“22 für Phrixos’ Handlung; er vermutet aber, „Phrixus may have been identical with one of the two Athamas plays“23, was meiner Meinung nach sehr unwahrscheinlich ist.

Nach allem, was bis jetzt gesagt worden ist, kann man über die Handlung von Sophokles’ Athamas folgendene Schlußfolgerungen ziehen:

 1) Erster Athamas: Die I-L-M-Version mit der Übergabe des Kindes Dionysos durch HermesHermes an Athamas.

 2) Zweiter Athamas: Wahrscheinlich die I-P-H-Version, aber es lässt sich nicht sicher feststellen. Das Opfer eines bekränzten Athamas und die Rettung durch HermesHermes sollte in diesem Theaterstück dargestellt werden.

 3) Phrixos: Darüber herrscht Unsicherheit. Welckers Vorschlag (Potiphars Thema) ist ziemlich willkürlich, wenn er entweder nur auf den erhaltenen Fragmenten oder auf den sicheren Informationen über diese Tragödie aufbauen will.

Glaubwürdig sind m.E die Scholien zu Aristophanes für die Rekonstruktion des zweiten Athamas und die nach Fuhrmann erläuterten Fragmente des homerischen Bechers für die des ersten Athamas. Leider lässt sich nicht mehr sagen. Im nächsten Kapitel wird der mögliche Einweihungs- oder Reinigungsritus für Athamas analysiert, ein Thema, um das es sich in seinen Tragödien handeln konnte24.

III. Euripides

Von den drei berühmten Tragikern des 5. Jh. n. Chr. ist Euripides derjenige, von dem mehr Fragmente in indirekten Belegen überliefert worden sind. Er schrieb eine Ino betitelte und zwei PhrixosPhrixos betitelte TragödieTragödien; darüber hinaus wird InoIno auch in MedEuripidesMed. 1282–1289. 1282–1289 und LeukotheaLeukothea und PalaimonPalaimon in Iph. 270–274 erwähnt.

Bekannt ist, dass Euripides in seinen Werken Traditionstreue mit kreativer Erneuerung gepaart hat. Zwei Gründe aber erschweren die Festellung, inwiefern er den früheren Traditionen treu blieb oder inwieweit er mit ihnen brach: Zunächst sind nur geringe Fragmente dieser Traditionen erhalten; sodann sind Euripides’ Tragödien über den Mythos von Athamas auch nur sehr fragmentarisch überliefert. In der vorliegenden Arbeit versuche ich eine Rekonstruktion dieses Binoms.

Innerhalb dieses Spiels von Treue und Erneuerung durch Euripides ist der springende Punkt die Beziehung zu Aischylos. Wie Aélion1 bestätigt, ist die Gegenüberstellung von Sophokles und Euripides sehr viel schwieriger zu begründen. Nach Aristophanes’ Die Frösche wurden Aischylos und Euripides seit der Antike einander entgegengesetzt; dies führte zur Behauptung, dass Euripides Aischylos gewissermaßen ‚korrigierte‘. Wenn Euripides aber, der Aischylos’ Werke sehr gut kannte, eine Tragödie seines Vorgängers mit Änderungen sogar nachbildete, will das heißen, dass er sich in gewissem Sinne im Einklang mit ihm fühlte. Aélion behauptet ausdrücklich, „Euripide n’est ni celui qui s’oppose à Eschyle et le critique ou le corrige, ni celui qui recommence Eschyle (instaurator, selon le terme de O. Krausse)“2. Wenn Euripides eine Darstellung umarbeitete, geschah das in der Absicht, sich dem Zeitgeschmack anzupassen. Meiner Meinung nach gilt er also als ein treuer Neuerer.

Interessant ist Aélions Überlegung zu der Frage, ob Euripides die mythische Tradition verfälschte oder sich von ihr trennte: „Quand un poète tragique choissait de porter au théâtre un récit mythique et d’en faire le sujet d’une tragédie, il n’était pas complètement libre: … [Il y avait] une tradition commune à tous les Grecs, qui représentait sans doute pour eux l’histoire de leur passé“3. Oft hat man den Eindruck, dass Euripides seine poetischen Ausarbeitungen von Grund auf neu begonnen hat, als ob er keine Grundlage gehabt hätte oder nichts aus der vorhergehenden literarischen Überlieferung und Volkstradition übernehmen wollte. Es stimmt, dass die libertas poetae besteht, und dass er im Rahmen der Tradition zweifellos eine bedeutende Variante einrichten konnte; die Abweichungen wurden aber m.E. immer motiviert und waren mehrmals auf eine entweder wenig bekannte oder lokale Tradition zurückzuführen; es wäre auch möglich, dass sich seine Variante mit diesen kleinen, sekundären Überlieferungen verbinden ließ. Einige Angaben sind ganz sicher bloße Erfindungen von Euripides, aber diese Tatsache konnte m.W. nicht den Kern des Mythos berühren.

Aélion teilt Euripides’ Werke thematisch ein, wie viele andere4 es früher auch versucht haben; es ist diesbezüglich interessant, was sie über die Verbreitung des Mythos von Athamas schreibt: „Nous plaçons parmi ces légendes thessaliennes le mythe d’Athamas, InoIno et Phrixos, parce qu’Athamas est petit-fils d’Hellen et fils d’Eole, qui régnèrent en Thessalie, et parce que certaines versions le placent lui-même en Thessalie“5. Sie erkennt jedoch, dass diese Wahl große Schwierigkeiten mit sich bringt: Athamas herrschte auch in OrchomenosOrchomenos, so dass er ebenso in der böotischen Tradition begriffen werden kann; durch InoIno wiederum kann er auch mit den mit ThebenTheben verbundenen dionysischen Mythen in Zusammenhang gebracht werden. Schwach ist m.E. der Grund für die Ausschließung dieser zwei Optionen: „Si nous avons, non sans hésitation, opté pour la « solution thessalienne », c’est que ce mythe forme un tout en lui-même et que ses liens avec Thèbes ou la Béotie et même avec DionysosDionysos sont lâches“6. Wichtiger ist meiner Meinung nach die Gliederung der drei unserem Mythos gewidmeten Werke entsprechend der Zeit ihrer Verfassung. Beide Phrixos gehören zu dem zweiten Zeitraum, zu dem der ‚semi-strengen‘ Metrik (427–417? n. Chr.); Ino aber zum dritten Zeitraum, zu dem der ‚freien‘ Metrik (416?-409 n. Chr.).

In diesem Buch werden nur die Passagen der erhaltenen Tragödien und eine allgemeine Analyse der drei fragmentarisch überlieferten Werke präsentiert, ohne eine ausführliche Untersuchung jedes Fragments.

III.1 Medea

In der berühmten Tragödie Medea (1283–1289) deutet Euripides Inos SprungSprung von den Klippe an. Diese Version unterscheidet sich grundlegend von der, welche von der Mehrheit der Quellen über dieses Ereignis präsentiert werden. Wilamowitz merkt an, was der Grund dieser Darstellung sein könnte: „Euripides Med. 1284; dabei springt sie mit beiden Kindern in das MeerMeer, wohl nur, weil Medea zwei Kinder morden wird“1. Euripides bringt Ino ins Spiel, weil er sie als Muster seiner Medea verwendet: KadmosKadmos’ Tochter tötet ebenso ihre Nachkommen, wie Ino einst ihre zwei Kinder umgebracht hat; dieses Thema aber wird etwas später analysiert. Wilamowitz’ Begründung klingt m.E. sehr vernünftig.

Der Kontext ist folgender: Der Chor der Frauen aus KorinthKorinth fleht Erde und Sonne an, dass Medea ihre verbrecherische Absicht nicht durchführe; das Schreien der Kinder verrät das tragische Geschehen; nun suchen die Frauen einen Präzendenzfall für eine solche Missetat. Wie Newton beteuert, „tragic choruses frequently allude to exempla when acts of violence occur, or are about to occur, in a play“2. Das Ziel dieser exempla ist, den dramatischen Ton der Szene zu mildern und den Zuhörern eine Verbindung zwischen der Gegenwart und dem, was früher einmal zwischen Menschen geschehen ist, zu ziehen. Mit einem Wort: Man versucht das Grauen des Erlebnisses abzuschwächen, indem die vorherigen exempla angerufen werden3. Der Text wird auf den folgenden Seiten analysiert, aber nur unter dem Gesichtspunkt, der zum Verständnis des Mythos von Athamas beiträgt.

Ino tritt in einem definitiv früheren Zeitraum als Medea auf, nämlich in einer ‚mythischen‘ Epoche4. Es ist der einzige Fall – zweimal wird μίαν emphatisch wiederholt –, den der Chor erwähnt, wenn er eine Figur andeuten will, die jemals ein solches Verbrechen gewagt hat. Diese einzige Erwähnung von Ino als unum exemplum ruft aber zweifachen Widerspruch hervor. Zunächst muss man Euripides erwidern, dass es mehrere Beispiele gibt, mit denen man Medeas Gräueltat hätte vergleichen können, wie z.B. Althaiea, Agave oder Prokne selbst, die vielleicht die Geeignetste5 für diesen Fall gewesen wäre. Man könnte dagegenhalten, dass keine dieser drei Frauen zwei Kinder getötet hat; darauf lässt sich aber antworten, dass sich der Kern des Beispiels nur auf die gottlose Tat einer mörderischen Mutter beschränken wollte. Auffällig ist auch, dass Euripides nur auf eine Frau hinweist, während die Autoren sonst zwei oder drei mythologische Figuren anzuführen pflegen, wenn sie ein exemplum setzen wollen. Newton sagt, „the suggestion therefore presents itself that the poet is suppressing other examples“6.

Wenig überzeugend sind m.E. die Gründe, die Newton als Argumente ins Feld führt, um die exklusive Erwähnung von Ino zu rechtfertigen. Es ist wenig glaubwürdig, dass Ino nach ihrem bekannten Sprung ins Meer, in Anspielung auf ihre DivinisierungDivnisierung, als dea-ex-machina vorausgeschickt wurde, um Medea im Sonnenwagen zu parodieren. Auf keinen Fall ist der KultKult der Kinder beider Heldinnen zu vergleichen, denn nur MelikertesMelikertes wird als Gott geehrt, die zwei Kinder von Medea aber in Heras Tempel in Akrea. Es ist meiner Meinung nach zweifelhaft, ob Medea ihre Kinder umbringt, um sie vor den Feinden zu beschützen; Medeas letzter Grund besteht in der Rache an JasonJason, ein Motiv, das im Fall von Ino nie erscheint, wenigstens nicht in allen uns bekannten Überlieferungen7. Ein anderer Unterschied liegt darin, dass Ino stirbt, indem sie tötet, Medea aber nicht ums Leben kommt, sondern feige der Begegnung mit Jason flieht.

Der Anlass für Inos Erwähnung durch Euripides befindet sich am Ende des exempli (Vers 1289): δυοῖν τε παίδοιν ξυνθανοῦσ’ ἀπόλλυται. Jouan / Van Looy8 glauben, „le parallélisme parfait9 avec le double infanticide de Médée“ sei eine von Euripides für diesen Fall erfundene Begründung. Im Gegensatz zu dieser Behauptung erklärt jedoch Page: „Eur.’s innovation here is so slight, and our ignorance so great, that no theory of interpolation here can be seriously entertained for a moment“10.

Mit den Worten μανεῖσαν ἐκ θεῶν wird zum ersten Mal auf Inos verwirrten Zustand hingewiesen. Diese erste allgemeine Bezeichnung11 wird sofort erklärt: HeraHera hat ihr den WahnsinnWahnsinn geschickt. Euripides benutzt ‚physische‘ Metaphern, um den Zustand des Irrsinns indirekt anzuführen: Das Haus kann ihr Herz darstellen, wo ihr Verständnis beherbergt wird12, sie selbst die Vernunft, die umherschweifenden Wege, die krummen Spuren, die nicht den üblichen Gedankengängen entsprechen. So versteht es auch Page: „ἄλῃ: metaph.‘distraction’,‘wandering of mind’, L. & S.9“13, und vor allem Padel, wenn sie über das Herumirren spricht: „Inside is sane. Being «out» of home and all it stands for (mind, right place) is mad. Mad is outside, other, foreign“14. Zweifellos wird ein physisches Herumirren15 nicht ausgeschlossen: Euripides kann sich auf beide Begriffe beziehen. Dieser Text konnte Nonnos (D. IX 242–279Nonnos von PanopolisD. IX 242–279) seine wunderschöne Beschreibung eingeben, wie Ino auf der Suche nach DionysosDionysos als eine Wahnsinnige durch die Berge irrt und den Parnass erreicht, wo ApollonApollon sie in einen erholsamen Schlaf wiegt.

In der Tat ist dieser Zug von WahnsinnWahnsinn derjenige, den Prof. Hose als Hauptunterschied zwischen dem exemplum (Inos Mord) und der damit verglichenen Wirklichkeit (Medeas Mord) sieht: Medea tötet ihre Kinder nicht in einem Anfall von Wahnsinn, wie Ino es machte16: „Das ParadigmaParadigma greift also nicht, sondern dient statt als Parallele – und damit als Relativierung – des Kindermordes als Kontrast. Die Unerhörtheit und das Entsetzliche der Mordtat tritt damit noch stärker hervor“17. Dieser Unterschied zwischen Medea und Ino wird auch von McHardy betont: „Here, however, an important distinction is apparent. Whereas Ino is described as driven mad by the gods … Euripides’ Medea is sane and knows what she is doing“18. Das heißt, dass die Verschiedenheit beider Heldinnen im WahnsinnWahnsinn und der Leidenschaft besteht, die Übereinstimmung aber im Mord an ihren beiden Kindern19.

 

McHardy sieht eine andere Verbindung zwischen Kindesmord und Wahnsinn; er schlägt deshalb vor, „that through the influence of ideas relating to Dionysiac cult (especially maenadism) the portrayal of mothers killing their own children was deemed particularly suitable for tragic performances“20; viele Versionen von Kindern, die von ihren Müttern absichtlich getötet wurden, gehören tatsächlich in diesen Zeitraum, weil die vorherigen Traditionen entweder den Mord aus der Hand der Mutter nicht erwähnen oder auf eine unabsichtliche Tötung durch die Mutter hinweisen. Ino stirbt, indem sie nicht nur den trübsinnigen Melikertes, sondern auch ihre beiden von Athamas empfangenen Kinder umbringt. Dieses Verbrechen wird von Euripides als δυσσεβής betrachtet.

Interessant ist auch die Frage, warum dieser Tragiker auf die I-L-M-Version des Mythos von Athamas hindeutet. Gantz glaubt – genau wie Wilamowitz –, dass Euripides’ Version in seiner Medea leicht die Tradition des Mythos von Athamas „for the sake of a better parallel with Medea“21 ändert. Euripides aber ‚betrügt‘ feinsinnig. Medea ist auf die neue Frau von Jason und auf die zukünftige Nachkommenschaft sehr einfersüchtig, aber dieser Fall entspricht der I-L-M-Version überhaupt nicht, sondern berührt nur tangential die I-P-H-Version. Medea tötet ja ihre Kinder, aber sie bestraft auch die neue Frau von JasonJason; Ino bestraft jedoch niemanden in der I-L-M-Version: Auf jeden Fall wird sie mit dem Wahnsinn bestraft. Euripides wechselt von einer Figur (Medea), die mit der neuen Frau ihres Mannes Probleme hat, zu einer Figur (Ino), die irrsinnig wird und ihre Kinder in diesem Zustand tötet. Die Ähnlichkeit zwischen Medea und Ino ist tatsächlich minimal. Wenn Hyg. Fab. IVHyginusFab. IV die Handlung Euripides’ Ino spiegelt – wie es m.E. zutrifft – und diese Tragödie älter ist als seine Medea, konnte das Publikum den Vergleich von Med.EuripidesMed. 1282–1289 1282–1289 überhaupt nicht verstehen. Medeas Kindermord – und dasselbe kann man von Inos Kindermord sagen – wurde Halm-Tisserant22 zufolge in Euripides’ Medea verdammt.

In diesen Versen gibt es keine textlichen Probleme, es tauchen aber Schwierigkeiten bei der Interpretation auf. Zum Beispiel: Wie sollte φόνωι … δυσσεβεῖ verstanden werden? Page zufolge ist es „causal dative,‘because of the murder’“23 und er schlägt folgende Belege als Muster vor: Io. 940; Hel. 79; Ba. 1120; Supp. 1042, ElEuripidesIo. 940EuripidesHel. 79EuripidesBa. 1120EuripidesSupp. 1042EuripidesEl. 149. 149, usw. Dieser Meinung ist auch Farnell: „According to Euripides, the mother slew both her children, but the manner of their slaying he does not specify“24. Diese Deutungen aber weisen darauf hin, dass Ino sich ins Meer stürzt, nachdem sie ihre Kinder getötet hat; sie springt also aus Verzweiflung, um ihren Schmerz zu lindern. Valgiglio stimmt auch dieser Sichtweise zu, die Inos Tod als eine Befreiung von einem unerträglichen Übel sieht: „Fra i mali che fanno desiderare la morte c’è la sventura che consiste nella perdita di una persona cara, colla quale si vorrebbe συνθανεῖν incontrando un ἥδιστος θάνατος (Suppl. 1006) che ci libera dal dolore di una sciagura insopportabile, conservando ininterrotto il vincolo che ci lega allo scomparso“25. Nach diesem Gelehrten hat sich Ino mit den Leichen ihrer beiden Kinder ins Meer gestürzt. Diese Idee findet sich auch bei einem antiken Autor: bei Nymphodoros.

Aélion denkt jedoch ganz anders und bezieht sich auf die Worte des Chors: „Une autre femme dans le passé, dit-on, Ino, a tué ses enfants, se jetant avec eux dans la mer, par-delà la falaise marine“26. Diese Wissenschaftlerin interpretiert die Begriffe κλύω und πάρος als ein über den Tod der Kinder Inos entstandenes Gerücht, das den erschütternden Hilferuf der Kinder von Medea übertönt und im Hintergrund lässt. McHardy behauptet aber, „Ino is said to have killed her two children (in an unspecified way) and to have committed suicide by throwing herself into the sea after being driven mad by HeraHera“27. Dieser Kasus φόνωι … δυσσεβεῖ ist auch als ein gleichzeitiger Dativ zu verstehen: Beide Ereignisse geschehen zeitgleich. Der Ausdruck kann m.W. ‚mit dem gottlosen Mord’ treffend übersetzt werden, wobei er die Zweideutigkeit zulässt, die Euripides wahrscheinlich auch beabsichtigte.

Zwei spätere Textestellen können nun hilfreich sein, um MedEuripidesMed. 1282–1289. 1282–1289 besser zu verstehen. In FGrHist. 572 F. 18 von NymphodorosNymphodorosFGrHist. 572 F 1828 – einem von Natale Conti (VIII 4)Natale ContiNatale Conti VIII 4 überlieferter Text – wird Athamas freigesprochen und Ino des Mordes ihrer Kinder beschuldigt. Wahrscheinlich gab es eine Überlieferung – man kann aber nicht ausschließen, dass Euripides es erfunden hat –, in der Ino ihre Kinder umbringt. Newton29 bemerkt, das Schol. in E. Med. 1284 SchwartzScholia zu EuripidesSchol. in E. Med. 1284 Schwartz stellt den Ausdruck ‚einige‘ dem Namen ‚Euripides‘ gegenüber. Er sagt, dass die Möglichkeit, Euripides habe diese Tradition erfunden, zur Wahrscheinlichkeit wird, wenn der Kontext der Andeutung, nämlich die ganze Tragödie, ausführlich analysiert wird: „Euripides is the first to present Medea as the deliberate murderess of her sons“30. Es ist möglich31, obwohl man m.E. auf viele Schwierigkeiten stößt. Falsch ist aber meiner Meinung nach, dass Euripides Inos Fall als „an event which never occurred“32 vorschlägt, denn nur so wird Medeas Grausamkeit deutlich. In der TragödieTragödie wäre diese Verwendung eines exempli ein Sonderfall33.

Es ist auch möglich, dass Euripides diese Version nicht erfunden hat, sondern dass sie nur eine parallele Version mit gerigem Bekanntheitsgrad war und auch nach diesem Tragiker weithin unbekannt blieb. Page meint dazu, diese Version „must have been current before Eur.’s allusion to it here: the poet cannot have introduced even so slight an innovation in a passing reference intended as a parallel“34. Sogar Newton weist auf diese Idee hin, obwohl er sie vorsichtiger darstellt: „It is possible, of course, that they are referring to a version which, though now lost to us, the ancient audience would have recognized“35.

In der Tat wird in Medeae Argumentum Schwartz36 gesagt, dass Euripides nur eine Bearbeitung eines früheren Werkes von Neophron37AthenNeophronMedea:Frg. 3 war; Del Rincón Sánchez zufolge „ambos argumentos debieron ser muy similares, pero Eurípides introdujo un desenlace diferente, que pudo motivar que la tragedia, paradójicamente, fracasara ante Euforión“38. In dem auf Neophrons Medea zurückgeführten Frg. 2, 11–12NeophronMedea:Frg. 2, 11–12 sollte Medea nach Snell wahnsinnig geworden sein. Sie wäre nicht die einzige: Senecas Medea39 hat auch den Verstand verloren, denn sie wird in dieser Tragödie als rasende Mänade dargestellt (Verse 123–124, 382–386SenecaMed. V 382–386SenecaMed. V 806–807SenecaMed. V 849–852SenecaMed. V 123–124, 806–807, 849–852). Diese Grausamkeit von Ino verknüpft sich mit ihrer Erbamunglosigkeit in der I-P-H-Version. Es ist auch möglich, dass Euripides und Nymphodoros dieser ersten Tradition über Athamas’ Frau in ihren Werken folgten: Ino tötet zunächst ihre zwei Kinder und wirft sich danach in einer Verzweiflungstat ins Meer. Das gilt m.E. nicht für Euripides’ Ino in seiner Medea, wenn auch diese Idee sicher nicht ausgeschlossen werden kann.

In der zweiten Textstelle (Plu. Mor.PlutarchMor. 267d-e 267d-e) wird gesagt, dass Ino, eifersüchtig auf die SklavinSklavin ihres Mannes, ihren ZornZorn gegen den Sohn richtet. Der Kontext dieser Passage will eine Antwort auf Leukotheas KultKult geben. Das Problem ist hier die Deutung von τὸν υἱὸν: Ist er Inos Sohn, nämlich LearchosLearchos bzw. Melikertes, oder ist er Athamas’ Sohn – das ist das Wahrscheinlichste –, und zwar Phrixos? Wenn man die erste Möglichkeit annimmt, ist Plutarchs Textstelle mutatis mutandis nach Euripides’ Medea zu verstehen, denn sie tötet auch Jasons Kinder, damit ihr untreuer Mann große Schmerzen leidet. Deshalb kann man sagen, dass diese Version des Mythos von Athamas, in der Ino ihre beiden Kinder umbringt, von Eifersucht geprägt war. Darüber hinaus agieren Euripides’ wie auch Plutarchs Ino im Zustand des Wahnsinns. Es kann eingewendet werden, dass Medea ihre beiden Kinder tötet, Ino aber nur eins. Man könnte erwidern, dass Ino immer eine Griechin bleibt, und dass sie nie so grausam wie die barbarische Medea sein wird; genau diese Angabe wurde in der Tradition von Euripides modifiziert.