Kirche und Krisen

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Kirche und Krisen
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Lukas Ohly

Kirche und Krisen

Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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Cover: Vetvector / iStock, Stock-Illustration-ID: 1218557964

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

Print-ISBN 978-3-89308-460-9

ePub-ISBN 978-3-89308-005-2

Inhalt

  Für Emilia

  Einleitung

 1 Der Formalismus in der Theologie: Präzisierungen zu einem aktuellen Denktyp1.1 Mit Denkformen Inhalten aus dem Weg gehen1.2 Die interdisziplinäre Herleitung des Formalismus1.3 Der schöpfungstheologische Hintergrund des Formalismus1.4 Debatten über Inhalte führen

  2 Die Flüchtlingskrise und der Formalismus in der Protestantischen Ethik 2.1 Ist die universalistische Gesinnung der Inhalt, die begrenzte Verantwortung die Form? 2.2 Warum der Inhalt nicht an die Form gebunden ist 2.3 Der inhaltsoffene Formalismus der Semiotik 2.4 Kann sich ethischer Universalismus aus dem Korsett der begrenzenden Form befreien? 2.5 Folgerungen

 3 Digitalisierung und Corona-Krise. Wozu die Kirchen jetzt da sind3.1 Da sein oder im Netz sein?3.2 Die Form des Gottesdienstes – offline oder online, digital oder analog3.3 Kirche in der digitalen Welt: Form oder Inhalt?3.4 Die „Form“ im Digitalen3.5 Welche Gemeinschaft will und kann die Kirche sein?3.6 Christlicher Glaube und formale Ambiguität

  Literaturverzeichnis

  Anmerkungen

Für Emilia

Einleitung

Ein Jahr vor dem 500. Reformationsjubiläum saß ich auf einem Podium, um über den Vortrag eines Theologen zu diskutieren, der Martin Luthers Anliegen auf das 21. Jahrhundert übertragen wollte. Dabei hob er Äußerlichkeiten hervor, die Luthers theologisches Interesse so gut wie nicht berücksichtigten: Luther habe den populären Liedern seiner Zeit christliche Texte unterlegt; also müsse die evangelische Kirche auch heute die Kirchenmusik popularisieren. Ebenso habe Luther die Bibel nicht einfach in die deutsche Sprache übersetzt, sondern in die Umgangssprache der damaligen Bevölkerung. Daher müsse auch heute nicht nur die Bibel, sondern auch die christliche Botschaft in die Kultur- und Sprachgewohnheiten der Menschen umgesetzt werden.

Ein Jahr später hatte ich bei einer öffentlichen Frankfurter Veranstaltung den Segensroboter BlessU2 kennengelernt, den die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau zur Reformationsausstellung in Wittenberg entworfen hatte. Es ging um die Frage: Können Roboter segnen? Dabei meldeten sich etliche theologische Vertreter, die argumentierten, dass der Segen generell nur über Medien zum Ausdruck komme. Daher mache es keinen prinzipiellen Unterschied, ob ein Pfarrerin ihre Hände hebe und dabei Segensworte spreche oder ein Roboter.

Was haben beide Beispiele miteinander zu tun? Sie reduzieren theologische Fragestellungen auf Formalfragen. Die Bedeutung des Segens wird auf seine mediale Ausdrucksform zurückgeführt. Ebenso wird das theologische Wahrheitsanliegen Martin Luthers auf seinen geschickten Einsatz von Medien reduziert. Dahinter liegt offenbar die Vermutung, Sachfragen ließen sich auf die begründete Entscheidung für geeignete Formen verkürzen. Diese Vermutung wird vor allem dann verstärkt, wenn behauptet wird, es gebe keine isolierte Sache, die ohne eine für sie passende Form überhaupt bedacht werden könne. Denn dann folgt, dass ungeeignete Formen die Inhalte verzerren oder verändern können. Also ist die Frage nach den Formen selbst eine Sachfrage. Die Grenzen zwischen Form und Inhalt verschwimmen, aber so, dass der methodische Gang doch signifikant die Formen in den Blick nimmt und nur vermittelt über sie auch die Inhalte. Es scheint dann so, als seien die Inhalte das Vermittelte, die Formen dagegen das Unmittelbare, das eigentliche Phänomen, das zu bedenken ist.

Ich halte diese Wahrnehmung für eine Formalismuskrise. Sie besteht nicht darin, dass gewohnte Formen in eine Krise geraten, was ja durchaus auch in den obigen Beispielen behauptet wird. Dort war ja suggeriert, die traditionellen Kirchenlieder entsprächen nicht mehr der Intention Luthers und würden sich somit gegen die Reformation stellen. Ebenso sollte der Segensroboter einen Denkanstoß bieten, über welche Formen die evangelische Kirche, die als Institution gegenwärtig einen Vertrauensverlust erfährt, wieder zu den Menschen findet. Das ist jedoch nur eine Formkrise, mit der sich die entsprechenden kirchenleitenden Personen und die Theologie beschäftigen. Eine Formalismuskrise jedoch besteht darin, dass Sachprobleme pauschal als Formkrisen bearbeitet werden. Die Benennung von Formkrisen ist also das Symptom der Formalismuskrise.

Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, auf den der Formalismus nicht übergesprungen ist. Die Dominanz der Form macht sich durch einen technokratischen Umbau der Gesellschaft auch im Denken breit. Nicht erst die Digitalisierung erzeugt den starken Suggestionsschub, dass sich das menschliche Denken auf formelle Muster reduzieren lasse. Sie vollendet vielmehr ein Denken, das sich auf seine Formen durchsichtig macht, als gäbe es nichts darüber hinaus.

In diesem Büchlein untersuche ich zwar den Formalismus stets in theologischen Kontexten. Allerdings zeigen die drei Beispiele, die ich hier diskutiere, den gesellschaftlichen Bezug des Formalismus. Er schlägt sich in politischen und strategischen Entscheidungen von Organisationen ebenso nieder wie im Gebrauch von Technik. Dass der Formalismus auch in der Theologie angekommen ist, dürfte eher markieren, dass er auf die Spitze getrieben wird. Denn der Theologie als Reflexion des christlichen Glaubens ist es nie nur um die bloße Einübung und Wiederholung von Ritualen gegangen, sondern vor allem um das verstehende Erfassen der Wirklichkeit Gottes. Wenn es in der Welt kein Bild für Gott gibt, gibt es auch keine Formen für ihn. Folglich muss er für die Menschen anders zugänglich sein als alle anderen Gegenstände der Welt, bei denen man noch am ehesten vermuten könnte, dass ihnen verlässliche Formen zugrunde liegen.

Die Dominanz der Form unterschlägt den Außenbezug des Denkens, als gäbe es keine Sache, die zu denken ist. Schon der Theologe Karl Barth hat die „Sache“ vor den formellen Rekonstruktionen in der Theologie retten wollen. Adolf von Harnack hatte ihm daraufhin vorgeworfen zu übersehen, dass uns Jesus Christus nur über seine kirchengeschichtlichen Reminiszenzen zugänglich ist.1 Die Frage, die sich an diese Einsicht anschließt, heißt aber, ob sich theologisches Denken in der Rekonstruktion dieser Reminiszenzen erschöpft oder ob es dahinter zu einer Sache vorstoßen kann, die sich von der Form befreit: „Bis zu dem Punkt muss ich als Verstehender vorstoßen, wo ich nahezu nur noch vor dem Rätsel der Sache, nahezu nicht mehr vor dem Rätsel der Urkunde als solcher stehe.“2 Man könnte auch fragen, ob es im Formalismus überhaupt noch eine Sache gibt, auf die sich die Formen beziehen, oder ob sich die Funktion der Sache darin erschöpft, dass sie in den Formen ausgedrückt ist. Ist also Immanuel Kants „Ding an sich“ nur eine leere Konstruktion der Erkenntnis, so dass den Geisteswissenschaften nichts anderes übrig bleibt, als in intertextuellen Querverweisen lediglich formellen Sinn zu generieren?

Es gibt eine Lösung für diese Krise. Die Hauptthese dieses Buches besteht darin, dass der Formalismus in der Theologie von innen her aufgebrochen wird. Ich erinnere also an solche Quellen in der Theologie, die zwar die Bindung von Inhalten an ihre Formen zunächst akzeptieren, dann allerdings Brechungen darin aufdecken, die feste Formen verflüssigen, um sie an theologische Inhalte anzupassen. Denn gerade weil Gott kein Gegenstand der Welt ist und es daher anderer Zugangsweisen für die Gotteserkenntnis bedarf, müssen Formen überstiegen werden, von denen man ursprünglich ausgegangen ist. Dieser Ansatz ist ein Angebot, die Formalismuskrise zu überwinden – nicht nur innerhalb der Theologie.

 

Dazu verweise ich auf Autoren, die interdisziplinär gearbeitet haben. Zu ihnen gehören der Semiotiker Charles S. Peirce, die Philosophen Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein, der Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich sowie Ethiker der Gegenwart, die bei der Bearbeitung eines spezialethischen Problems an die Grenzen des Formalismus stoßen.

Das Büchlein hat drei Teile. Im ersten Kapitel werde ich die theoretischen Grundlagen der Formalismuskrise beschreiben und die religionsphilosophischen Ressourcen rekonstruieren, die aus der Krise herausführen. Die beiden anderen Kapitel werden auf diese Ressourcen vertiefend eingehen, um die Formalismuskrise an konkreten politischen oder strategischen Themen aufzuzeigen.

Die politische Ethik in der protestantischen Theologie hat in den vergangenen Jahren das Problem des Formalismus offengelegt, nämlich am kontrovers diskutierten Thema der deutschen Flüchtlingspolitik. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2015 in einem deutschen Alleingang die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet und eine Euphorie der „Willkommenskultur“ in Gang gesetzt hatte, die eine ebenso massive Gegenbewegung mit der Stärkung rechtspopulistischer Bewegungen hervorrief, haben etliche protestantische Theologen den Versuch unternommen, Merkels Flüchtlingspolitik allein unter formalen Aspekten ethisch zu verurteilen. Dass dieser Formalismus bereits politisch zu unterkomplex gewesen ist, legte die Debatte in den Folgejahren offen. Ich möchte im zweiten Kapitel zeigen, dass die Lösung zum Problem über politisch-ethische Vorschläge hinaus in einer Überwindung des Formalismus zu suchen ist.

Das dritte Kapitel untersucht die gesellschaftliche Entwicklung, die derzeit unter dem Containerbegriff „Digitalisierung“ zu beobachten ist, nur an einem, aber vermutlich repräsentativen Beispiel. Zwar ist die Ursache für dieses Beispiel historisch beispiellos und liegt in der Corona-Krise des Jahres 2020. Etliche Staaten haben Ausgehsperren verhängt, um die Ausbreitung des Corona-Virus Covid 19 einzuschränken. Das führte auch zum Verbot, sich zu Gottesdiensten zu versammeln. In dieser Situation haben etliche Religionsgemeinschaften das Internet für sich entdeckt, um ihre Angebote in den virtuellen Raum zu verlegen. Die Corona-Krise hat jedoch die Digitalisierung von Sozialformen nicht verursacht, sondern nur beschleunigt. Mit der Digitalisierung hat sich schon vorher ein sozialer Trend entwickelt, Inhalte zu formalisieren. Die naive Euphorie, mit der Kirchengemeinden und Kirchenleitungen virtuelle Gottesdienstangebote ins Internet stellen, macht diesen Trend nur besonders sichtbar. Denn sie belegt die Anfälligkeit für die Formalismuskrise im Denken von Organisationen.

Wenn dieses Büchlein die Aufmerksamkeit ein wenig dafür schärfen kann, was mit der Formalismuskrise verlorenzugehen droht und was deshalb zu verteidigen ist, wäre sein Ziel erreicht. Es gilt nämlich die menschliche Fähigkeit zu schützen, Sachverhalte zu verstehen, ihnen auf den realen Grund zu gehen, Ziele zu setzen, weil uns etwas trifft, was uns den Sinn offenbart, diese Ziele zu setzen; die menschliche Fähigkeit also, geistig zu sein und dem Geistigen zu begegnen.

1 Der Formalismus in der Theologie: Präzisierungen zu einem aktuellen Denktyp
1.1 Mit Denkformen Inhalten aus dem Weg gehen

Kein Zweifel, dass Denkformen Formen sind. Aber bestimmt damit die Form den Inhalt? Könnte es also sein, dass Inhalte nur in bestimmten Formen dargestellt werden können, ansonsten verlieren sie sich? Oder können bestimmte Inhalte überhaupt erst ihre eigene Form hervorbringen? Aber wenn es so wäre, wären sie dann nicht auch unmittelbar an die Form gebunden?

Anselm von Canterbury hat im 11. Jahrhundert den ontologischen Gottesbeweis formuliert. Er besteht darin, dass man Gottes Existenz aus dem Gedachtsein ableitet. Wer Gott denkt, muss ihn so denken, dass Gott nicht nur gedacht sein kann. Dieser originelle Gedanke wurde seitdem seiner Form nach immer wieder verwendet, auch um damit die Existenz von anderem zu beweisen. Der ontologische Beweis wurde zu einer Form, die andere Inhalte aufnehmen konnte. Sartre etwa hat mit diesem Verfahren die Existenz einer Außenwelt außerhalb der Ideen nachgewiesen. Auch dass es neben mir noch anderes Bewusstsein gibt, ließ sich für Sartre mit dieser Form beweisen.1 Doch dazu musste Anselm seinen Gottesbeweis zunächst einmal inhaltlich durchdrungen haben.

Vermutlich hat Anselm dazu auf andere Formen zurückgegriffen, etwa auf die Gebetsform, in der er seinen Beweis entfaltet. Doch soll das heißen, dass Inhalte letztlich nie ohne eine ihr vorausliegende Form entwickelt werden können? Das würde heißen, dass die Form des ontologischen Gottesbeweises im Grunde schon in der Gebetsform angelegt gewesen war. Wirklich Neues ist dann nicht zu erwarten, sondern nur die Entwicklung der Potenziale alter Formen. Umgekehrt heißt das, dass Neuheiten nur unabgeleitet auftreten können. Neuheit ist Schöpfung aus dem Nichts, oder sie ist keine Neuheit. Ihre Unableitbarkeit liegt nicht darin, dass sie sich nicht über vorhandene Formen stülpt, sondern dass sie nicht als Form auftritt.

Wer über das Verhältnis von Form und Inhalt nachdenkt, muss dazu bereits selbst Inhalte denken und sie in eine Form bringen. Dennoch denkt er über etwas nach, was nicht selbst Form oder Inhalt ist. Das Verhältnis zwischen Form und Inhalt liegt vielmehr zwischen beiden. Das ist einerseits so originell nicht: Der Gedanke über einen Dinosaurier ist nicht selbst ein Dinosaurier. Andererseits handelt es sich beim Nachdenken über Form und Inhalt ja um eine Selbstanwendung von Form und Inhalt. Irgendwie wird der Gedanke doch zum Dinosaurier, wenn Form und Inhalt Dinosaurier sind. Aber selbst dann ist ihr Verhältnis keiner. Oder in der Sache gesprochen: Zwar hat der Gedanke zum Verhältnis von Inhalt und Form selbst einen Inhalt und eine Form. Aber wenn das Verhältnis zwischen ihnen liegt, wird hier etwas gedacht, was selbst über Inhalt und Form liegt.

In der Logik versucht man solche paradoxen Gedanken so zu lösen, dass man sie auf verschiedene Stufen stellt: Inhalte über Inhalte sind dann Inhalte zweiter Ordnung. Es könnte aber auch sein, dass das Verhältnis zwischen Form und Inhalt nicht einmal Inhalt oder Form höherer Ordnung ist, sondern nichts von beidem, sondern Neuheit: Ein Verhältnis, das nicht fest besteht, sondern sich frei bildet. Ich möchte in diesem Kapitel zeigen, dass es sich so mit Form und Inhalt verhält.

Die Reflexion über Neuheiten gehört theologisch in die Lehre von der Schöpfung. Auf die Theologie selbst angewandt, ist Schöpfungslehre kein festes Fundament, weder für die Rede von Gott noch von der Welt. Theologische Rede ist daher selbst kreativ. Sie kann sich nicht auf feste Formen verlassen. Vielmehr müssen theologische Denkformen sich selbst übersteigen können. Und sie müssen ihre Inhalte in andere Formen bringen können.

In der gegenwärtigen Theologie hört man oft davon, dass sich Form und Inhalt zu entsprechen hätten. Bisweilen wird sogar von einer „Kongruenz von Form und Inhalt“ gesprochen. Dahinter liegt eine Vorentscheidung über eine andere Verhältnisbestimmung von Form und Inhalt, als sie mir vorschwebt. Diese Vorentscheidung besteht darin, die Verhältnisbestimmung als Dominanz fester Formen vorzunehmen. Ich spreche deshalb von einer Vor-Entscheidung, weil dieser Formalismus, wie ich diese Dominanz der Form in diesem Büchlein nenne, seine Selbstanwendung nicht überprüft hat. Er hat nicht geklärt, ob neue Denkformen auf alten Denkformen beruhen. Und er hat keine Antwort auf die Frage gegeben, ob das Verhältnis zwischen Form und Inhalt selbst eine Form ist.

Holt man diese Selbstaufklärung nach, ergibt sich eine andere Theologie, als sie von den gegenwärtigen Protagonisten des Formalismus vertreten wird. In diesem Kapitel werde ich theologische Konzepte eines sich revidierenden Formalismus vorstellen, der Neuheiten mitdenken kann. Damit wird der Formalismus zu einer typisch theologischen Denkfigur. Der gegenwärtige Formalismus mag sich zwar auf außertheologische Einsichten anderer Geisteswissenschaften berufen. Sobald er aber auf sich selbst angewendet wird, treten grundsätzliche Erwägungen auf, die eine schöpfungstheologische Dimension eröffnen.

Dazu möchte ich in diesem Kapitel die „Kongruenzthese“ zwischen Form und Inhalt in Frage stellen. Ich stelle also meine Einwände gegen die These vor, dass zwischen Form und Inhalt eine Kongruenz besteht. Die These kann trivialer gemeint sein als sie klingt. Sie kann meinen, dass die Form immer dem Inhalt entspricht, der ausgedrückt wird, dass es also nie formlose Inhalte gibt. Es kann aber auch im nicht-trivialen Sinn gemeint sein, dass ein Inhalt ein anderer wird, wenn er in einer „unpassenden“ Form auftritt. Tatsächlich scheint diese nicht-triviale These hinter den Bemühungen insbesondere der Praktischen Theologie zu stehen, die angemessenen Formen theologischer Inhalte zu finden.

Zunächst möchte ich die Grenzen des Formalismus aufzeigen. In einem nächsten Schritt rekonstruiere ich die schöpfungstheologischen Quellen des Formalismus, aus dem sich ein flexibleres Verhältnis von Form und Inhalt ergibt.

1.2 Die interdisziplinäre Herleitung des Formalismus

Der Form-Inhalt-Zusammenhang wird interdisziplinär gestützt: Semiotisch gibt es keine Inhalte „an sich“, die erst sekundär an bestimmte Ausdrucksformen geknüpft würden. Vielmehr sind Inhalte immer schon an Ausdrucksformen gebunden. Zwar lasse sich Neues ausdrücken, aber nur, weil der dafür herangezogene Ausdruck selbst eine Form habe.1 Dieser Formalismus dürfte weitgehend der trivialen Variante entsprechen: Es gibt keine formlosen Inhalte. Insofern bestimmt die Form den Inhalt, was aber nicht heißt, dass derselbe Inhalt nicht auch in einer anderen Form ausgedrückt werden könnte.

Auch die Ästhetik „macht uns darauf aufmerksam, dass Inhalte immer nur in einer bestimmten Form für uns zugänglich sind. Das Was ist immer mit dem Wie verknüpft. Deshalb ist die Ästhetik falsch verstanden, wenn man sie – wie es nicht selten geschieht – auf Äußerlichkeiten, Stilfragen und formale Aspekte reduziert. Die Ästhetik ist vielmehr eine durch und durch inhaltsorientierte Wissenschaft.“2 In diesem Sinne wird dann sogar von einer „Kongruenz“3 von Form und Inhalt gesprochen. Hierbei handelt es sich um die eigentliche Kongruenzthese im nicht-trivialen Sinn: Wenn Inhalt und Form kongruent sind, folgt nämlich, dass eine Veränderung der Form unmittelbar zu einem anderen Inhalt führt. Ich werde im nächsten Schritt zeigen, dass diese These so konzipiert ist, dass sie sich nicht begründen lässt. Das kann man aber bereits an der geometrischen Metaphorik der Kongruenz erkennen: Das Verhältnis von Form und Inhalt liegt zwischen beiden und besteht dann – im Bild – in der Flächendimension, in der die beiden aufeinanderliegen. Die Kongruenz zeigt sich also in diesem Dritten. Solange aber nicht geklärt ist, was dieses Dritte ist, lässt sich die Kongruenzthese nicht begründen. Ist sie Inhalt2 oder Form2 oder eine Neuheit, wie ich das Verhältnis bestimmen möchte?

Was passiert aber, wenn der Formalismus keine solche dritte Dimension annimmt? Durch den Prozess reiner Selbstreferenz wird nämlich die Flächendimension eingespart. Dadurch wird die Form die „Fläche“ für den Inhalt und der Inhalt die „Fläche“ für die Form. Das führt dazu, dass Form und Inhalt äquivoke Begriffe werden: Sie sind zum einen die Flächendimension, in der das jeweils andere gelegt wird, als auch die Form, die mit der anderen übereinstimmt. Diese Äquivozität beruht auf der reinen Selbstreferenz der formalistischen Begründungsfigur: Wenn Form und Inhalt kongruent sind, weil sie füreinander als passende Dimension definiert werden, kann Beliebiges passend gemacht werden.

Die biblische Auslegung (Exegese) hat in ihren Methodenkanon im 20. Jahrhundert die Formgeschichte aufgenommen. Ihr liegt die Beobachtung zugrunde, dass in der Entstehungszeit biblischer Texte individuelle Einsichten durch die Formen der jeweiligen Gattungen stark begrenzt worden sind. Von „gattungsmäßiger Gebundenheit alt- und neutestamentlicher Texte“4 wird gesprochen. Das Ziel der Formgeschichte besteht zwar darin, den individuellen Anteil in einem Schriftwerk rekonstruieren zu können. Allerdings heißt das gerade nicht, dass sich der individuelle Anteil sozusagen „freischwebend“ auf die Gattungen legt. Mit der Disziplin der Formgeschichte wird der Inhalt nicht einem Individuum zugesprochen, während die Gattung die Form bildet. Vielmehr ist mit „gattungsmäßiger Gebundenheit“ auch eine Gebundenheit der Inhalte an die Form gemeint.

 

Aber auch wenn man Jesus als einen individuell ausgezeichneten Geschichtenerzähler stilisiert, hält man am Formalismus fest. Die neutestamentliche Gleichnisforschung behauptet dann, dass die Form des Gleichnisses nicht willkürlich bestimmt worden ist, sondern sich ihr Inhalt nur so entfalten kann. Die individuelle Gleichniserzählung (Parabel) hat eine typische Form, die sich nicht in einer Aussage zusammenfassen lässt. Form und Inhalt finden hier zu einem Verhältnis in einem Dritten, nämlich in „strukturellen Gegebenheiten“5.

Was für die Parabel im Besonderen gilt, gilt im Allgemeinen für die „Gleichnisstruktur“ der theologisch repräsentierten Wirklichkeit: Die „besondere Leistung des frühen Christentums besteht offensichtlich darin, diese Gleichnisstruktur gerade bezogen auf Jesu Tod und im Namen des Osterglaubens auf den Gesamtkomplex des Lebens Jesu übertragen zu haben.“6

Die Beobachtungen der Gleichnisforschung werden metapherntheoretisch verallgemeinert: Metaphern werden nicht als stilistische Verzierungen verwendet und stellen auch keine Behauptungen auf, die sich verifizieren ließen. Vielmehr bilden sie neue Sinnhorizonte, um den Realitätsbezug überhaupt erst erschließbar zu machen. Sie werden daher dazu verwendet, neue Entdeckungen auf der Ebene des Sinns zu erschließen. Theologisch ist die Metapher daher diejenige Sprachform, das eschatologisch Neue in der Sprache des alten Menschen auszudrücken.7 Form und Inhalt müssen sich aus theologischen Gründen entsprechen.

Diese unterschiedlichen Quellen führen nicht geradlinig zu dem einem Modell von Formalismus. Allerdings haben sie eine starke Suggestivkraft, Inhalte an ihren Formen zu bemessen. Anstatt den Inhalt an der Sache zu überprüfen, die er meint, wird er vielmehr an der Form überprüft. Dabei wird die Aufmerksamkeit von der Wahrheitsüberprüfung auf das kommunikative Gelingen einer inhaltlichen Botschaft verlagert. Denn wenn der Inhalt an die jeweilige Sprachform gebunden ist, wäre bereits die Wahrheitsüberprüfung des Inhalts an der gemeinten Sache eine formelle Überschreitung des Inhalts. Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn der Inhalt mit der Sache strukturell übereinstimmt, wenn es also eine Form höherer Ordnung gibt, die die Übereinstimmung sicherstellt.

Es ist zwar zuzugestehen, dass ein wahrheitsfähiger Satz in der Ausdrucksform von Aussagen behauptet werden muss. Daraus folgt aber nicht, dass die Wahrheitsbedingungen wechseln, wenn die Aussage in Form einer Predigt oder eines Referats in universitären Seminaren geäußert wird.

Man beachte, dass der Formbegriff mehrdeutig gebraucht wird. Er bezeichnet zum einen den Ausdruck als Dimension, in der ein bestimmter Inhalt repräsentiert werden kann, zum anderen aber auch die Ausdrucksweise in (Sprach-)Stilen innerhalb dieser Dimension. Werden beide Formbegriffe nicht unterschieden, stellen sich Missverständnisse ein, bis dahin dass der Stil die Inhalte determiniere oder ein bestimmter Inhalt eine bestimmte Form erfordert und ansonsten gar nicht gedacht werden könne.

Warum der Formalismus schon logisch scheitert

Ist also die Form selbst der Inhalt? Dann gibt es keinen Inhalt, den sie vermittelt. Das klingt nach einer bloßen und unbegründeten Setzung. Und das muss auch so sein, denn wie soll sich ein bestimmter Inhalt anders identifizieren lassen als über die Form? Nehmen wir an, ich möchte einer Frau meine Liebe bekennen. Dann kann ich ihr der Voraussetzung nach meine Liebe nicht mitteilen. Würde ich ihr nämlich meine Liebe bloß mitteilen, würde die emotionale Bindung gerade nicht mit zum Ausdruck gebracht, die meine Liebe prägt. Also würde ich dieser Frau etwas anderes aussagen, als wenn ich ihr meine Liebe bekenne.

Aber woher weiß ich dann, dass ich diese Frau liebe? Muss ich mir vorher bereits meine Liebe bekannt haben? Und besteht meine Liebe zu dieser Frau erst seit dem Zeitpunkt meines Selbstbekenntnisses? In diesem Fall wiederhole ich mein Bekenntnis gegenüber der Frau, das ich vorher mir selbst abgegeben habe. – An diesem Beispiel zeigt sich die zirkuläre Struktur formaler Selbstverweise: Die Bedeutung der Liebe wird dadurch gegeben, dass die Form eines Bekenntnisses die Form eines Bekenntnisses voraussetzt.

Dadurch wird ausgeschlossen, dass man ohne diese zirkuläre Voraussetzung nachprüfen kann, dass auch wirklich der Fall ist, dass ich diese Frau liebe. Wie sollte sie nämlich erkennen können, dass ich ihr denselben Inhalt übermittelt habe, wenn ich ihr meine Liebe in Form einer Information mitteile? Es lässt sich qua Voraussetzung nicht am Inhalt verstehen, dass ich diese Frau liebe. – Das könnte mein Argument gegen die Skepsis der Frau sein: „Du bist zwar Formalistin, die sich in logische Zirkelschlüsse verstrickt, aber ich liebe dich trotzdem.“

Nun könnte meine Geliebte aber einwenden, dass es für sie wirklich einen inhaltlichen Unterschied macht, ob ich ihr meine Liebe bekenne oder mitteile. Im ersten Fall ist meine Liebe heißblütig und engagiert, im zweiten Fall kühl und distanziert. Also bedeutet Liebe, so der Einwand meiner Geliebten, jeweils etwas anderes. Wie könnte ich zeigen, dass ich in beiden Formen dasselbe meine? Ich könnte, nachdem die Mitteilung von dieser Frau skeptisch aufgenommen worden ist, nachträglich vor ihr ein engagiertes Liebesbekenntnis abgeben. Aber würde sie dann nicht skeptisch bleiben, weil sie nicht wüsste, ob ich in beiden Aussagen wirklich dasselbe meine?

Selbst wenn sie meine Aussagen am Inhalt, also am Sachverhalt meiner Liebe direkt überprüfen will, hängt die Wahrheit von sprachlogischen Meta-Kriterien ab.8 Sei „p“ eine Aussage und p ein Sachverhalt. Dann ist „p“ wahr, wenn die Aussage mit dem Sachverhalt übereinstimmt. Um aber zu wissen, ob „p“ = p, muss vorher geklärt werden, wie das Gleichheitszeichen zu verstehen ist. Und das setzt eine sprachlogische Übereinkunft voraus. Die Übertragung der Form der Mitteilung in die Form des Liebesbekenntnisses setzt somit eine Meta-Form voraus, an der gemessen wird, wie gelungen die Übertragung ist. Diese Meta-Form würde sich entweder definitorisch oder zirkulär unantastbar machen, oder ihre Angemessenheit verdankt sich einer Überprüfung durch eine zweite Meta-Form, an der die Überprüfung der Übertragung mit der Meta-Form vorgenommen wird, die wiederum von einer dritten Meta-Form als Übereinstimmung bestimmt wird usw. bis ins Unendliche. Das wäre die unangenehme Antwort der Frau: „Ich bin zwar Formalistin, aber du verstrickst dich in einen logischen Regress. Und deshalb weiß ich nicht, was du mir eigentlich sagen willst.“

Ludwig Wittgenstein hat deshalb die Meta-Form als Grammatik bestimmt, die sich aus den Formen der Übertragung selbst ergibt. Man kann zwar nicht aussagen, dass die Grammatik richtig ist, aber sie zeigt sich in den Sprachformen.9 Könnte ich nicht mit Wittgenstein argumentieren, dass ich jeweils dasselbe meine, wenn ich dieser Frau meine Liebe bekenne oder sie mitteile? Zeigt sich nicht wenigstens in beiden Sprachformen meine Liebe? Doch nur dann, wenn die Grammatik ihre Richtigkeit selbst verbürgen muss. Ansonsten müsste es wieder eine Grammatik für die Grammatik geben usw. Um also einen logischen Regress zu vermeiden, muss die Grammatik als Meta-Form zirkulär begründet werden: Sie ist dann richtig, weil sie sich in den entsprechenden Sprachformen zeigt. Das setzt eine Überprüfungsinstanz voraus, an der belegt werden kann, dass sie sich darin zeigt.

Weder meine formalistische Geliebte noch ich können also für unsere jeweilige Position hinreichende Begründungen nennen. Weder kann ich ohne logische Fehler begründen, dass der Bekenntnisinhalt derselbe ist wie der Mitteilungsinhalt, noch kann diese wunderbare Frau ohne logische Fehler begründen, dass das nicht der Fall ist. Dieses Patt beruht darauf, dass wir beide von derselben Voraussetzung ausgehen, nämlich dass Inhalte überhaupt an die Form gebunden sind, nämlich entweder an die jeweilige Sprachform (Position der Frau) oder an die sprachlogische Meta-Form (meine Position). Denn was diese Gebundenheit bedeutet, führt dann in die erwähnten logischen Schwierigkeiten. Sie ist dann selbst eine Form. Anders gesagt: Das Begründungspatt rechnet nicht mit dem Verstehen.

Verstehen ist das Bilden von Zusammenhängen, das sich zwar an neuen Ausdrucksmitteln zeigt (Übersetzungen, aber auch anderen Transformationen wie Antworten oder Handeln), jedoch nicht darin besteht. Es bildet sich immer im Rücken des Verstandenen: Wer merkt, dass er versteht, hat schon vorher verstanden. Es ereignet sich also nicht in einer festen Form und ist nicht am responsorisch ausgedrückten Inhalt ablesbar. Wenn eine Schülerin einen Lexikonartikel abschreibt, muss sie ihn nicht schon verstanden haben und ebenso wenig, wenn sie ihn auswendig vortragen kann. Zudem kann sich Verstehen sowohl auf Inhalte als auch auf Formen richten. „Im Rücken“ der Inhalte und Formen ereignet sich Verstehen frei.10