Kirche und Krisen

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From the series: Dialoge
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Für den Soziologen Niklas Luhmann11 ist Verstehen eine „doppelte Kontingenz“, die das Verstehen auf eine Äußerung bezieht, die ihrerseits von der äußernden Instanz verstanden sein muss, aber auch ganz anders verstanden werden könnte. Deshalb liegt in der doppelten Kontingenz auch eine „immanente Zirkularität“. Verstehen setzt Verstehen voraus. Darin liegt die „leere, geschlossene, unbestimmbare Selbstreferenz“ der doppelten Kontingenz – und die des Verstehens. Und darin liegt die Unwahrscheinlichkeit des Verstehens.

Um Verstehen, Erreichbarkeit und Befolgung einer Äußerung wahrscheinlich zu machen, werden Medien verwendet. Medien nennt Luhmann evolutionäre „Errungenschaften, die an jenen Bruchstellen der Kommunikation ansetzen und funktionsgenau dazu dienen, Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches zu transformieren.“ Zu ihnen gehören symbolisch generalisierte Medien, die Selektion und Motivation als Zusammenhang darstellen, indem sie Generalisierungen verwenden (zum Beispiel Wahrheit, Liebe, Geld, Macht, religiöser Glaube). Luhmann blendet die Techniken des Verstehens nicht aus, die vielmehr die Kommunikation steuern und begrenzen. Mit der Beschreibung dieser Techniken jedoch wird die doppelte Kontingenz nicht aufgehoben und schon gar nicht ein bestimmter Inhalt an die Form gebunden.

Die symbolisch generalisierten Medien entsprechen der Form als Art, in der Inhalte ausgedrückt werden. Die unaufhebbare doppelte Kontingenz der Einzeläußerung wiederum markiert, dass das Verstehen im Rücken solcher Formen und Inhalte liegt. Dass Verstehen Verstehen voraussetzt, heißt damit, dass es nicht technisch zu lösen ist, was jedoch die prominente Medien-Metapher suggeriert, nach der Medien Transformationsinstrumente sind, die Verstandenes in Formen überführen, als ließe sich damit auch das Verstehen transformieren.

Was man den hermeneutischen Zirkel nennt, nämlich dass Verstehen Verstehen voraussetzt, soll kein logischer Fehler sein, sondern das Phänomen beschreiben, dass wir nie voraussetzungslos verstehen, denn um etwas zu verstehen, muss „immer ein Verhältnis der Interpreten zu der Sache“ vorausgesetzt sein.12 Doch wie kann man wissen, dass man die Sache schon verstanden hat, bevor man einen Text über diese Sache liest? Zumindest kann man es nicht dadurch wissen, dass man bereits einige Inhalte aus dem Text schon verstanden hat, bevor man sie liest. Nicht in den Gehalten liegt also das Vorverständnis. Offenbar gehört Verstehen einer anderen Kategorie zu als Verstandenes. Verstandenes sind Gehalte, Verstehen jedoch das Werden zusammenhängender Gehalte.

Der Philosoph Martin Heidegger, der den hermeneutischen Zirkel wohl als erster so genannt hat, hat ihn als kreisförmigen Kranz und als Gewinde13 beschrieben, als Rundes eines Ganzen, wofür die Logik keinen Maßstab hat.14 Mit solchen tastenden Sprachbildern unterstreicht Heidegger, dass Verstehen anfangslos ist. Wenn Verstehen einsetzt, findet es sich selbst schon vor. In seinem Entwerfen lässt das Verstehen zu Wort kommen, was es selbst ist.15 Entwerfen, dieser „Bezirk“ (der Zirkelbegriff deutet sich hier an), ist bereits Ereignetes. Darin berührt sich das Verstehen mit dem Ab-gründigen,16 weil es keinen Grund in vorausgesetzten Gehalten hat.

So betrachtet legt nicht etwa die Form den Inhalt fest, aber auch nicht der Inhalt die Form, sondern beide sind bereits Entwürfe des Verstehens, in dem noch etwas anderes erscheint als die Form ausdrückt oder der Inhalt meint, das Sein. Nur weil sich Verstehen auf sein Sein versteht, kann es überhaupt verstehen. Und deshalb setzt Verstehen Verstehen voraus, nämlich das Ereignis, in dem das Verstehen auf seine Voraussetzung durchsichtig wird, die es selbst ist. Oder anders: Der hermeneutische Bezirk meint die kategoriale Differenz zu allen Formen und Inhalten.

Wenn ich bemerke, dass ich einen Text, über den ich lange grüble, plötzlich verstehe, dann habe ich ihn bereits verstanden. Dennoch verstehe ich nicht zuerst den Text und bemerke anschließend, dass ich ihn verstehe. Denn solange ich nicht bemerke, dass ich ihn verstehe, habe ich ihn noch nicht verstanden. (Das ist ein Charakteristikum des hermeneutischen Zirkels, dass er erst rückwirkend auffällt.) Ein verstandener Text ändert aber weder seine Form noch seinen Inhalt. Weder sieht er anders aus, noch ist sein Inhalt ein anderer geworden. Denn sonst hätte ich nicht ihn verstanden, sondern etwas anderes. Verändert hat sich aber auch nicht nur mein subjektiver Eindruck von diesem Text, denn auch dann hätte ich nicht ihn verstanden, also denselben Text, den ich vorher noch nicht verstanden hatte. Im Nachhinein kann ich nun versuchen, seine Form zu verändern, etwa um ihn anderen zu erläutern und ihnen damit zu helfen, ihn zu verstehen. Und ich kann dabei Inhalte „erleichtern“ oder „elementarisieren“. Diese Transformation verändert Form und Inhalt, aber nicht das Verstehen dieses Textes. Übertragen auf mein Liebesbekenntnis gegenüber dieser Frau heißt das, dass sie an ihrem Vorverständnis überprüfen kann, was sie von meiner Aussage versteht. Damit wird aber sekundär, in welcher Form ich mich ausgedrückt habe.

Das heißt, dass der „Text“, dessen Form und Inhalt verändert werden kann, der aber selbst dann noch derselbe sein soll, das Verstehen des Textes ist. Das Verstehen ist das, was es selbst bleibt. Zwar verändert es sich, sonst wäre es ein Zustand und kein Verstehen, kein Ereignis und keine Neuheit. Aber es bleibt dabei derselbe Verstehensprozess, der darauf hört, was er zu verstehen gibt: Das „Voraus-setzen“ hat „den Charakter des verstehenden Entwerfens“, dass die Interpretation „das Auszulegende gerade erst selbst zu Wort kommen läßt, damit es von sich aus entscheide, ob es als dieses Seiende die Seinsverfassung hergibt, auf welche es im Entwurf formalanzeigend erschlossen wurde“17. Diese Zirkularität ist kein „fester Bezirk“18 und wird daher nicht durch die Identität der Gegenständlichkeit identifiziert: „Also stehen wir nicht dem Dichten und dem Denken so gegenüber, als seien diese zwei Gegenstände, die von einem Standort außerhalb ihrer betrachtet werden könnten.“19 Der Denker drängt nicht aufs Verstandene, sondern sucht das Zwiegespräch mit dem Eigenen, ohne sich dabei einem anderen anzugleichen.20 Für die Frage nach dem Form-Inhalt-Zusammenhang heißt das, dass im Verstehen weder Form noch Inhalt zu Kriterien desselben oder eines anderen Verstehens werden. Formen und Inhalte wären Verstandenes, feste Bezirke, die sich auch ohne Verstehen identifizieren lassen, wenn der Verstehensprozess beendet ist.

Der Formalismus widerlegt sich aus diesem Grunde selbst in einem sogenannten performativen Widerspruch: Indem man eine formalistische Meinung vertritt, nimmt man zugleich eine nicht-formalistische Haltung ein. Konkret: Wenn der Formalismus wahr ist, ist er an eine bestimmte Form gebunden. Damit muss die Formalistin eingestehen, dass in anderen Formen sich etwas anderes herausstellen würde. Das macht den Formalismus zu einer relativistischen Position. Er lässt sich also nur durch eine formalistische Selbstbeschränkung auf sich selbst anwenden.

Will man ihr entkommen, bleibt nur die Möglichkeit, die Behauptung des Formalismus aus dem behaupteten Bereich herauszunehmen, also vor einer Selbstanwendung zu schützen. Dann ist die Behauptung aus einer Vogelperspektive geäußert, für die er qua Voraussetzung nicht gilt und auch nicht gelten kann. Das ist aber nur möglich, wenn entweder die Behauptung vor Einwänden immunisiert werden soll oder wenn es neben Form und Inhalt noch ein Drittes gibt. Das würde auf das kategorial eigenständige Verstehen zutreffen. Und auch damit wäre die Geltung des Formalismus relativiert.

Paul Tillichs Weiterführung

Eine ganz andere Quelle des Form-Inhalt-Zusammenhangs ist die Metaphysik: Aristoteles und Thomas von Aquin haben die Form als das Wesen eines Gegenstandes bestimmt.21 Daran setzt der Theologe Paul Tillich an, um allerdings diesen metaphysischen Formalismus zu erweitern. „Die Form, die ein Ding zu dem macht, was es ist, ist sein Inhalt, seine essentia, seine bestimmte Seinsmächtigkeit.“22 Tillich wiederholt damit die metaphysische Begründung, indem er die Form mit dem Gehalt verbindet und beide der Substanz zuschreibt. Zugleich unterscheidet er diesen Formalismus von einer inhaltsleeren Formalität, in der Formen mathematische Zeichen eines logischen Systems sind, die ohne die Bedeutung von Worten ein „totes Gerippe“ bleiben.23

Für die Theologie sind weder der inhaltsleere noch der metaphysische Formbegriff hinreichend. Denn Inhalte über Gott werden nicht aus der Vernunft erzeugt. Vielmehr gilt: „Der Glaubensinhalt bricht ekstatisch in die Vernunft ein und gibt sich ihr, doch ohne ihre Struktur außer Kraft zu setzen.“24

Es lässt sich damit bei Tillich eine Aufnahme unterschiedlicher Formbegriffe beobachten:

1 Ein metaphysischer Formbegriff in Abgrenzung zu Stoff oder Materie (Form als Inhalt),

2 ein davon abgegrenzter Formbegriff im Sinne mathematisch-logischer Relationen, der für theologisch unzureichend erachtet wird (inhaltsleere Form),

3 Struktur, die trotz des vernunftekstatischen Glaubensinhaltes unangetastet bleibt.

Keiner der drei Formbegriffe fügt sich jedoch dem Formalismus. Die unangetastete Vernunftstruktur (3) unterstellt gerade, dass der Glaubensinhalt vernünftig dargestellt werden kann, obwohl er in einem Erlebnis der „Ekstase der Vernunft“25 auftritt. In diesem Sinn ist der Glaubensinhalt also nicht auf eine eigene Form festgelegt, um zum Inhalt zu werden. Ebenso wenig ist er auf die Form eines mathematisch-logischen Systems (2) festgelegt, auch wenn sie immerhin die Grundlage einer semantischen Rationalität bildet. In ihrer metaphysischen Bedeutung (1) wiederum ist die Form der Begriff.26 Sie ist zwar „die Gestaltung am sinnlich Wahrnehmbaren“27, aber damit auch die Bedeutung, die Art, das Nicht-Konkrete eines Gegenstandes, und nicht sein Bedeutungsträger oder Vehikel, was vielmehr sein Stoff wäre. Oder anders: Die Form ist selbst unsichtbar am sinnlich Wahrnehmbaren, sie ist „dasjenige, was in einem anderen wird, durch Kunst oder durch Natur oder durch das Vermögen des Hervorbringens.“28 Darum ist der Begriff die charakteristische Beschreibung der metaphysischen Formbestimmung.29 Dadurch entfällt die Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt, weil die Form der Inhalt ist. Aus metaphysischer Perspektive wäre der Formalismus in Wirklichkeit eine These über das Verhältnis von Stoff und Form. Sie würde nicht einfach besagen, dass eine bestimmte Form auf einen bestimmten Stoff angewiesen ist, sondern auch, dass das Abstrakte (der Begriff) auf ein individuell Konkretes angewiesen ist. Damit jedoch ist die Form gerade in verschiedene Stoffe übersetzbar. Wäre das nicht so, so würde das individuell Konkrete den Begriff dekonstruieren.

 

Bei Tillich30 nun wird der metaphysische Formbegriff theologisch erweitert und damit nicht einfach mit dem Inhalt identifiziert, sondern als eine Facette des Glaubensinhalts entdeckt. Glaubensinhalte verdanken sich einem Erlebnis, einem „Akt des Empfangens“. Dieser Akt nun soll kein „rein formaler Akt“ sein. Damit wehrt Tillich den logisch-mathematischen Formalismus ab. Vielmehr gilt: „Inhalt und Form, Geben und Empfangen stehen in stärkerer dialektischer Beziehung zueinander, als die Worte es auszudrücken scheinen.“ Im Geben ist also ein Empfangen enthalten und umgekehrt. Der Glaubensinhalt muss an sein Erlebnis, an den Akt des Empfangens, angebunden bleiben, sonst verliert er sich. Die „Form“, wie der Inhalt auftritt, gehört zu ihm. Dabei handelt es sich um ein Erschütterungsmoment der Ekstase der Vernunft. Die Vernunft wird vom Glaubensinhalt „überwältigt, überfallen, erschüttert, wenn er in sie einbricht.“ Dieses Erschütterungsmoment ist eine theologische Form, die jedoch in die Form der Vernunft integriert werden kann, aber so, dass die Vernunft dabei transzendiert wird. Vernünftige Rede von Gott hat also dieses Erschütterungsmoment zu berücksichtigen, sie muss in ihrem Inhalt diese Form einbinden. Der vernünftige Inhalt hat eine übervernünftige Form. Damit unterstreicht Tillich geradezu die Transformationsfähigkeit des Glaubensinhalts in die Form der Vernunft. Zugleich wird seine inhaltliche Transformation in der Sprache der Vernunft an die Form des Glaubens angebunden. Gehalte und Formen stehen sich hier über Kreuz gegenüber:

1 Der Glaubensinhalt wird in Form der Vernunft verhandelbar,

2 aber so, dass die übervernünftige Form, wie der Glaubensinhalt empfangen wird, in einem vernünftigen Inhalt dargestellt wird.

Diese metaphysisch-theologische Konzeption führt Tillich nun auch in seinem Kulturverständnis weiter. Im dritten Band seiner Systematischen Theologie, in dem Tillich das Verhältnis von Religion und Kultur beschreibt, legt er drei Elemente der Kultur zugrunde: „Gegenstand (Material), Form und Gehalt (Substanz).“31 Man beachte, dass der Form im Gegensatz zu den beiden anderen Elementen kein verwandter Begriff in einer Klammer folgt. Denn „Form ist einer jener Begriffe, die nicht definiert werden können, weil jede Definition ihn voraussetzt.“ In eine Kultur können nur solche Gegenstände eingehen, also „in sprachliche Formung“ übergehen, „die von Bedeutung sind“. Das heißt, dass nicht die Sprache Bedeutungen erzeugt. Vielmehr sind Bedeutungen von ursprünglichen außersprachlichen Bedeutungen abhängig. Erst über diese außersprachlichen Bedeutungen kann die Sprache die Überführung von Gegenständen in die Kultur leisten. Anscheinend gibt es also für Tillich Gehalte, die ursprünglich zumindest ohne sprachliche Form sind.

Zwar ist „die Form beabsichtigt“, aber sie ist es nicht, die die Bedeutung setzt, sondern der „Gehalt oder die Substanz“. „Die Substanz einer Sprache gibt ihr ihren spezifischen Charakter und ihre Ausdruckskraft.“ Hier sind Form und Gehalt nicht mehr identisch. Es ist aber auch nicht so wie im Formalismus, dass die Form den Gehalt bestimmt. Vielmehr legt der Gehalt die Form fest, jedoch so, dass bei einer Transformation der Gehalt in der neuen Form verlorengeht. „Das ist der Grund, warum Übersetzung aus einer Sprache in eine andere nur in solchen Gebieten befriedigend sein kann, in denen das Formale gegenüber dem Gehalt vorherrscht (z.B. in der Mathematik).“ Unterstellt wird also, dass ein Gehalt seine Form erzeugt, an die er dann gebunden ist, wenn er überhaupt in Form auftritt. Er kann aber auch formlos sein. Dann geht er zwar nicht in eine Kultur ein. Aber die Bedingung der Kultur, die Bedeutung, ist auch erfüllt, wenn er formlos bleibt. Deshalb legt nicht die Form den Gehalt fest. Vielmehr gilt: Wenn eine bestimmte Form, dann ein bestimmter Gehalt. Umgekehrt gilt: Wenn ein bestimmter Gehalt, dann ist er entweder formlos oder in einer nicht auswechselbaren Form.

Unter dieser Voraussetzung lässt sich nun Tillichs Satz über die „Zusammengehörigkeit von Religion und Kultur“ erläutern: „Religion ist die Substanz der Kultur, und Kultur ist die Form der Religion.“32 Diese Zusammengehörigkeit tritt dann nämlich nur innerhalb der Kultur auf. Nur innerhalb der Form kann der eindeutige Zusammenhang von Substanz und Form behauptet werden. Die Substanz kann, muss aber nicht in Form auftreten.

Versteht man nun Religion als das Phänomen, das ekstatisch in die Vernunft einbricht, so ist jegliche religiöse Form abhängig von ihrem Auftreten. Es gibt also keine ewigen religiösen Formen. Dass man so interpretieren kann, zeigen Stellen in Tillichs Systematischer Theologie, die das Verhältnis der Religion gegenüber der Kultur als Transzendierung gegenüber der Innerweltlichkeit beschreiben. Zwar ist Religion „Geschöpf der Offenbarung“33 und damit nicht selbst die Ekstase der Vernunft. Allerdings ist sie als „Substanz der Kultur“ auch nicht selbst Form, sondern deren Transzendierung. Insofern sie Transzendierung ist, ist sie „unzweideutig“: „Soweit die Religion auf Offenbarung beruht, ist sie unzweideutig, soweit sie Aufnahme der Offenbarung ist, ist sie zweideutig.“34 Die Substanz der Religion wird also zwar nur in der Form der Kultur selbst zum Gegenstand. Aber sie wird dabei durch die Form verzerrt, weil die Kultur eine der Substanz fremde Form ist. Das entspricht der obigen Beobachtung, dass sich Form und Gehalt über Kreuz gegenüberstehen. Religion kann nur in einer Form sein, die sie verzerrt. Unverzerrt bleibt sie nur, wenn die Substanz formlose Bedeutung hat.

Der Form-Inhalt-Zusammenhang bei Tillich rechnet also mit Varianzen, graduellen Abstufungen und Unpässlichkeiten. Über die Form wird die Substanz zum Kulturgegenstand und damit zu etwas, was sie nicht ist. Ohne die Substanz keine Kultur und keine Formen, aber die Eindeutigkeit von Substanz und Form kann substanziell nur bedeuten, uneindeutig zu werden. Die richtige Form der Substanz ist diejenige, die ihre Zweideutigkeit bezeugt. Dafür steht Tillichs „protestantisches Prinzip“, das in seiner Form die Formen umstößt, denn es ist „Ausdruck für die Überwindung der Religion durch den göttlichen Geist“35. In der Eindeutigkeit von Substanz und Form ist also gerade eine Öffnung aus der Profanisierung enthalten. „Protestantische Gestaltung … überschreitet jede Form, die sie gestaltet, aber sie überschreitet nicht die Wirklichkeit der Gnade, die sich in diesen Formen ausdrückt.“36

Insgesamt also zeigt sich bei Tillich ein dialektischer Form-Inhalt-Zusammenhang: Der Inhalt wird nur so zum Inhalt, dass er zugleich von der Form gestört wird. Er wird daher erst recht in andere Formen übersetzbar, nämlich in solche, die diese Störung ausdrücken. Damit ist dieses Konzept geradezu transformationsfreundlich. Zwar ist derselbe Inhalt nicht in andere Formen übertragbar, ohne dass er dabei auch verändert wird. Da aber die Störung des Inhalts durch die Form zu diesem Zusammenhang gehört, lässt sich diese Störung auch in anderen Formen ausdrücken.

Formalistisch ist Tillichs Konzept ebenso in dialektischer Weise: Es ist die Form, die die Störung zum Inhalt anzeigt, und anders als durch Formen lässt sich die Störung nicht anzeigen. Der Form-Inhalt-Zusammenhang wird also von der Form gesetzt, aber so, dass sie sich dabei transzendiert. Daher kann hier von einem dialektischen Formalismus gesprochen werden.

Ertrag

Ein behaupteter Form-Inhalt-Zusammenhang hat eine starke formalistische Tendenz, weil nicht der Inhalt die Form setzt. Denn ansonsten müsste der Inhalt zunächst „an sich“ freischwebend gegeben sein und damit unabhängig von einer bestimmten Form, um diese zu setzen. Das haben wir sogar bei Tillich gesehen, der zwar tatsächlich mit einem freischwebenden Inhalt beginnt, der aber ab dem Moment an die Form gebunden ist, sobald er in sie eingeht.

Eine Begründung für den Formalismus ist aber selbst ein Inhalt. An der Selbstanwendung stößt der Formalismus somit an seine Grenze: Denn wenn der Formalismus auf den Inhalt der Begründung angewendet werden kann, entsteht ein Relativismus, weil andere Inhalte an ihre jeweilige Form nicht zwingend gebunden wären.

Um den Formalismus zu belegen, müsste man die Veränderung des Inhalts an der Form ablesen. Das ist jedoch nicht möglich aufgrund der zirkulären Struktur, dass man voraussetzt, was man abliest: Dass es sich nach einer Transformation um einen anderen Inhalt handelt, lässt sich dann nur zirkulär an der formalistischen Voraussetzung ausweisen, dass der Inhalt an die Form gebunden ist. Der Formalismus im behaupteten Form-Inhalt-Zusammenhang ist zudem zu unterkomplex, weil er das Verstehen unterschlägt oder suggeriert, Verstehen sei selbst an die Form gebunden. Dann müsste Verstehen auch formalistisch garantiert werden. Denn ohne Garantie könnte vom Verstehen als einem Dritten zwischen Form und Inhalt nicht abstrahiert werden.

In der klassisch metaphysischen Grundlegung wiederum lässt sich ein Formalismus begründen, der aber etwas anderes bedeutet. Denn in der Metaphysik ist Form kein Gegensatz zum Inhalt, sondern zum Stoff, zur Materie. Hier kehrt sich dann der Formalismus um: Nicht wird ein konkreter Inhalt an die allgemeine Form gebunden, sondern eine konkrete Form an einen konkreten Stoff, der jedoch austauschbar ist. Gerade deshalb kann hier von einem Formalismus gesprochen werden, weil er sich durch verschiedene Stoffe durchhält.

Bei Tillichs theologischer Fokussierung nun zeigt sich ein äquivoker Gebrauch des Formbegriffs: Zum einen ist die Form der Ereignis- oder Offenbarungscharakter, der zu den theologischen Inhalten mit dazugehört und in ihnen mit zum Ausdruck gebracht werden muss. Zum anderen sind Formen kulturelle Ausdrucksweisen des theologischen Inhaltes, die ihre Unzulänglichkeit, den Inhalt auszudrücken, mit ausdrücken. In beiden Gebrauchsweisen des Formbegriffs zeigt sich eine produktive Spannung aus Form und Inhalt. Denn im ersten Fall transzendiert die Form der Offenbarung den Inhalt, den die Vernunft erfasst. Und im zweiten Fall transzendiert sich die kulturelle Form selbst, um ihre adäquate Unzulänglichkeit mit auszudrücken.

Übrigens handelt es sich bei dieser Äquivozität der Formbegriffe selbst um eine Transformation des Formbegriffs, die aber eine Transzendierung durch die Form auf zwei Stufen vornimmt, auf der Stufe der Vernunft und der Kultur. Das Ergebnis ist dabei jeweils dialektisch: Die Form bildet den Zusammenhang zum Inhalt, aber nur so, dass sie ihren Unterschied zum Inhalt bildet.

Tillich rekonstruiert diesen dialektischen Form-Inhalt-Zusammenhang an theologischen Inhalten. Die nächste Sektion will diesen Blick auf den theologischen Hintergrund dieses Zusammenhangs schärfen. Damit könnte sich ein Kriterium finden lassen, welche Art von Formalismus gerechtfertigt werden kann und welche anderen Spielarten des Formalismus damit abzulehnen sind.

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