Der asiatische Archipel

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Der asiatische Archipel
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Ludwig Witzani

Der asiatische Archipel

Indonesische Reisen

zwischen Sumatra

und Papua


Impressum

Der asiatische Archipel

Ludwig Witzani

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2018 Der asiatische Archipel

Lektorat: Tina Wolf

Konvertierung: Sabine Abels | www.e-book-erstellung.de

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Start in Singapur

Stipppvisite in einer properen Stadt

JAVA

Zentrifuge der Millionen

In Jakarta

Drei Dolche müssen es schon sein

Lazy days in Yogjakarta

Shiva und Buddha im Schatten der Vulkane

Eine Reise zum Dieng Plateau, zum Borobodur und zu der Tempelanlage von Prambanan

Tod auf Java

Kleiner Versuch über das Heimweh

Ein Ausflug in den ersten Schöpfungstag

Am Bromo-Vulkan in Ost-Java

BALI

Barong und Rangda und das Gleichgewicht der Welt

Lovina, Candidasa und Ubud

Der Großvater Ist wieder da!

In Bali ist die Religion allgegenwärtig

Die Allgegenwart des Unvorhersehbaren

Mit dem Motorrad unterwegs in Bali

SUMATRA

Der ferne Vetter

Bei den Orang-Utans von Bukit Lawang

Wenn der Begu kommt

Bei den Batak am Toba-See

Verbrechen auf hoher See

Der Untergang der Van Imhoff vor der Ostküste Sumatras

BORNEO

Die schwimmenden Märkte Von Banjarmarsin

Tage in Südborneo

Die Dayaks wohnen jetzt lieber für sich

Ein Ausflug nach Loksado

SULAWESI

Am Grab des Diponegoro

Zwischenstopp in Makassar

Tau Tau bewachen die Reise nach Puya

Sieben Tage im Torajaland

NUSA TENGGARA

Die MS Kelimutu kommt bestimmt

Mit der Pelni-Fähre von Sulawesi nach Sumbawa

Der Tod lauert im Unterholz

Bei den Riesenwaranen von Komodo

MOLUKKEN

Zwei Inseln am Ende der Welt

Wo sich Schönheit und Geschichte treffen: auf Ternate und Tidore

Jagd auf die Belanda Hitam

Der Bürgerkrieg auf den Molukken 1999-2002

So gnädig war Pattimura

Impressionen aus Ambon, der Hauptstadt der Molukken

WESTPAPUA

Die Entdeckung der zwei Geschwindigkeiten

Die Bucht von Sorong

Stadt der vielen Namen

Jayapura

Ein Ohrläppchen ist genug

Das Kuriose und das Bizarre im Baliem-Tal

Jakarta, 17. August 2017

Der indonesische Unabhängigkeitstag

Glossar

Reisehinweise

Literaturnachweise und Anmerkungen

Weitere Veröffentlichungen von Ludwig Witzani

Einleitung

Eine Echse kriecht über den Strand von Komodo. Wenn sie dich erwischt, frisst sie dich bei lebendigem Leib. Ein Vater ist gestorben und wird verbrannt, damit sich seine Seele neu inkarnieren kann. Über dem Bromo-Vulkan geht die Sonne auf und beleuchtet eine Szene wie am ersten Schöpfungstag. Ein Orang Utan wartet auf Sozialunterstützung am Bohorok River im Dschungel von Sumatra. Pattimura schwingt seine Riesenmachete auf den Molukken. Auf einer langen Prozession wandelt der Besucher am Borobodur die Ebenen des Seins entlang bis zur Stufe der höchsten Erkenntnis. In den Wäldern von Londa blicken die Abbilder der Toten von ihren Balkonen auf dich herab. Und im Baliem Valley schwingen die Dani ihre Speere wie in alten kannibalischen Zeiten.

Das sind nur einige der Facetten, die ein Land von geradezu kontinentalen Ausmaßen für den Reisenden bereithält: Indonesien. Sieben bis acht Flugstunden trennen Banda Aceh im äußersten Westen Indonesiens von Jayapura, der Hauptstadt Westpapuas im äußersten Osten des Landes. Dazwischen liegen 17000 Inseln, darunter einige der größten der Welt, allen voran Java, die Weltinsel, auf der nicht weniger als 140 Millionen Menschen in einem fruchtbaren Garten leben, wie es ihn auf der Welt kein zweites Mal gibt. Aber auch Sumatra, Borneo, Sulawesi, Bali und Papua sind jede für sich eine eigene Reise wert. Das wären dann schon sechs Reisen, und man hätte immer noch nicht alles gesehen. Die Vielfalt Indonesiens übersteigt die Fassungskraft eines Menschenlebens.

Dass Indonesien als Reiseland die Fassungskraft übersteigt, hat aber auch seine Vorteile. Der Reisende kann immer wieder zurückkommen und wird noch etwas Neues finden. Ihm wird aber auch Vertrautes wieder begegnen, und zwar umso vertrauter, je öfter er das Land bereist. Für mich sind es vor allem vier vertraute Phänomene, die in ihrer Gesamtheit das Land wenigstens ansatzweise umreißen.

Zunächst die Inseln und das Meer. Indonesien ist ein Inselreich, der größte Archipel der Welt, eine Seelandschaft, die die Menschen verzaubert hat, seitdem sie sie entdeckt haben. So gierig die ersten Weltumsegler nach den Gewürzinseln suchten, so bestürzt waren sie von der Schönheit dessen, was sie am Ende ihrer Reise entdeckten.

Sodann Vulkane. Wo immer man sich in Indonesien aufhält, spürt man die Tätigkeit gewaltiger Kräfte aus dem Innern der Erde, entweder aktuell als drohender Ausbruch oder als geronnene Natur. Seinen Vulkanen verdankt das Land seine immense Fruchtbarkeit, aber auch unendliches Leid bei den oft unvorhergesehenen Vulkanausbrüchen.

Schließlich Religion. Kaum ein westlicher Reisender, der aus den kalten, entzauberten Regionen des Nordens nach Indonesien kommt, kann sich der Magie der Götter und Geister entziehen, die wie eine zweite Einwohnerschaft das Inselreich bewohnen. Nirgendwo in der Welt verzaubert eine Religion das Alltagsleben der Menschen derart wie der Hinduismus auf Bali. Nirgendwo in der Welt zeigt der Islam ein so freundliches Gesicht wie in Indonesien, auch wenn sich im Zuge der religiösen Renaissance des Islam die Verhältnisse langsam ändern.

Indonesiens größter Schatz aber sind nicht seine Inseln, Vulkane oder Religionen, sondern seine Menschen. Auch wenn der zunehmende Tourismus bereits hier und da die Sitten verdorben hat, beherbergt das Land noch immer eine überaus gastfreundliche und hilfsbereite Bevölkerung. Gäbe es einen Preis für die freundlichste Bevölkerung der Welt, Indonesien wäre zweifellos ein Kandidat für einen Spitzenplatz. Die Menschen sind aber nicht nur auf eine herzerwärmende Art freundlich, sondern auch unglaublich fleißig. Indonesiens Bevölkerung hat sich in den letzten vierzig Jahren fast verdoppelt, und trotzdem gibt es keinen Hunger und langsam sogar einen bescheidenen Lebensstandard bei der Durchschnittsbevölkerung.

 

Soweit die Superlative, denen natürlich auch Schattenseiten gegenüberstehen. Überall, wo Menschen leben, existieren Gewalt, Korruption, neuerdings auch Terror. Man denke nur an die schrecklichen Ausschreitungen im Zusammenhang mit dem kommunistischen Putsch der Sechziger Jahre. Mittlerweile hat die junge indonesische Demokratie, wenngleich nicht ohne Blessuren, auch die Erschütterungen der Jahrtausendwende überstanden.

Ich selbst habe Indonesien im Laufe von gut zwanzig Jahren vier Mal bereist. Jedes Mal erkannte ich die liebenswerten Züge wieder, die ich oben beschrieben habe, jedes Mal aber auch etwas Neues, das sich in eine Richtung entwickelte, die noch offen war. Und jedes Mal dachte ich schon bei meinem Abschied daran, bald wiederzukommen.

Gereist bin ich vom ersten und bis zum letzten Tag selbstorgansiert, als „Backpacker“ oder „Traveller“, wie es unter Individualreisenden heißt, später als schon etwas arrivierterer als Einzelreisender mit einem ausgeprägten Interesse an der Geschichte. Alles, was mir widerfuhr, habe ich in vier eng beschriebenen Reisetagebüchern festgehalten, getreu dem Diktum von Ernst Jünger, dass das, was nicht nur erlebt, sondern auch beschrieben wird, tiefer in der Seele haftet. Manche unmittelbaren Eindrücke habe ich ungefiltert aus meinen Reisetagebüchern in den Text übernommen, das eine oder andere Faktum habe ich später genauer recherchiert und gegebenenfalls ergänzt. Die meisten Namen (nicht alle) habe ich aus Gründen der Diskretion verändert, auch bei Hotels bin ich ähnlich verfahren. Alle Urteile dieses Buches sind nur auf meinem Mist gewachsen. Sollte ich mich geirrt haben, gelobe ich Besserung, habe ich jemanden unwissentlich verletzt, bitte ich um Vergebung. Ebenso wie für den einen oder andern Fehler, der sich ganz sicher wieder in den Text eingeschlichen haben wird.

Damit ist zugleich gesagt, dass dieses Reisebuch (wie alle Reisebücher) durch und durch subjektiv ist. Alle Beschreibungen von Menschen, Tempeln, Tieren oder Vulkanen, die sich in diesem Buch finden, sind nicht in erster Linie Darstellungen dessen „was ist“, sondern Spiegelungen dessen, was ich erlebte, angereichert mit meinen persönlichen Sichtweisen, meinen Werten, meinen Schwächen und Interessen, meiner Ungeduld oder Neugierde.

Sollte irgendjemand dadurch affiziert werden, sich nach Indonesien aufzumachen, hätte ich mein Ziel erreicht.


Start in Singapur
Stipppvisite in einer properen Stadt

Die Zukunft der Welt lässt sich heute schon anhand der großen Städte besichtigen. Da gibt es zunächst das durchkriminalisierte Modell „Gotham City“, auf das sich Caracas und Johannesburg zubewegen, dann ausufernde Riesenstädte wie Casablanca oder Karachi, in denen Kriminalität und religiöser Fundamentalismus eine beunruhigende Verbindung eingehen. Es gibt desaströs-endzeitliche Varianten wie Kalkutta oder Lagos und multikulturelle Städte am Rande der Regierbarkeit wie London, Berlin oder Brüssel. Neben ihnen stehen strikt autoritär geführte Städte wie Dubai oder Singapur, in denen das Leben auf eine ganz andere Weise funktioniert, als es der westliche Mensch gewohnt ist – mit mehr Kontrolle und Ordnung, klaren Regeln und genau definierten Grenzen des Privatbereiches.

Unter westlichen Intellektuellen haben Dubai und vor allem Singapur gerade deswegen eine schlechte Presse. Dass man in der Öffentlichkeit nicht ungehindert die Sau rauslassen darf, dass Verschmutzung und Vandalismus streng bestraft werden, stört das eigene Freiheitsverständnis. Dass es in diesen Städten fast keine Kriminalität gibt, fällt demgegenüber merkwürdigerweise kaum ins Gewicht. Im Falle Dubais kommt die berechtigte Kritik an der Ausbeutung der südasiatischen Arbeitskräfte hinzu. Aber was gibt es an Singapur zu meckern?

Aus eigener Anschauung wusste ich das nicht mehr, weil mein letzter Besuch in Singapur schon so lange zurücklag, dass ich mir kein Urteil mehr erlauben konnte. Ich erinnerte mich nur noch an eine wenig beeindruckende Chinesenstadt, an ein internationales Geschäftszentrum ohne besonderes Flair, das man wegen seiner gut funktionierenden Infrastruktur schätzte, in dem man sich aber nicht über Gebühr lange aufhielt.

Einer meiner ehemaligen Schüler, Fabian Purps, der inzwischen als Schiffsmakler in Singapur lebte, hatte mich eingeladen, ihn auf meinem Weg nach Indonesien in Singapur zu besuchen. „Ich fühle mich in der Tradition dankbarer Schülerschaft“, hatte er mir per Mail verkündet. „In Japan zum Beispiel rechnet es sich der Schüler zur Ehre an, seinen Lehrer zu beherbergen. Sie sind also willkommen!“

Das hörte sich gut an, wer aber war Fabian Purps? Fabian, der vor einem Jahrzehnt auf dem Mataré Gymnasium in Meerbusch-Büderich das Abitur abgelegt hatte, war als Gymnasiast das gewesen, was man einen intelligenten Filou nannte. Er war ein umtriebiger, sportlicher, gut aussehender, aber nicht besonders fleißiger Schüler, dem es immer gelungen war, seine schulischen Ziele mit dem geringstmöglichen Aufwand zu erreichen. Weil er es sich dabei mit einer Reihe von Lehrern verscherzte, hatte es Disziplinarkonferenzen gegeben, bei denen ich mich für ihn mächtig ins Zeug gelegt hatte. Ich wusste zwar schon damals um seine Finessen, schätzte aber seine Schlagfertigkeit und seinen Humor. Auch der Umstand, dass er bei aller Flapsigkeit bestimmte Grenzen nicht übertrat, nahm mich für ihn ein. Mit einem Wort: Er war ein Schüler, der immer für eine Überraschung gut gewesen war und den ich gerade deswegen besonders geschätzt hatte.

Mit der Überraschung, die mich am Flughafen von Singapur erwartete, hatte ich jedoch nicht gerechnet. Fabian Purps, der mich abholen wollte, war nicht da, und als ich ihn auf dem Handy in seinem Büro erreichte, gab er sich überrascht. „Ach, schon so spät? Ich wollte gerade zum Flughafen rausfahren. Aber jetzt, wo du schon da bist, kannst du auch mit dem Taxi zu mir kommen, das kostet nur eine Kleinigkeit.“

Eine Kleinigkeit war es nicht, weil ich bei meiner Fahrt in die Stadt an einen der wenigen Taxifahrer-Gauner geriet, der in einer Korruptionsnische des Singapurer Nahverkehrswesens überlebt hatte. Ein in das Korruptionsgefüge wahrscheinlich eingeweihter alter Chinese, der am Flughafenausgang die Taxizuteilung überwachte, wies mir anstelle einer der zahlreichen hellblauen Taxen einen großen weißen Wagen zu. Diese große weiße Limousine wurde von einem Chinesen gefahren, von dem weder Name noch Lizenznummer im Wageninnern verzeichnet waren. Er war eine hagere Erscheinung mit Altersflecken im Gesicht, der meine Fragen nach Namen und Lizenz mit herrischem Gehabe überging. Stattdessen fuhr er drei überflüssige Schleifen in der Stadt, um mir am Ende noch zehn Singapur Dollar „Flughafentax“ extra auf die Rechnung aufzuschlagen. Alles in allem zahlte ich auf diese Weise über vierzig Singapur Dollar, den doppelten Preis einer normalen Taxifahrt in die Stadt.

Sofort erschien Fabian, kaum dass mich der Taxifahrer-Gauner abgesetzt hatte, am Fuße seiner Residenz am Oxford Rise und begrüßte mich wie einen alten, lange vermissten Freund. Er war inzwischen einen halben Kopf größer geworden als ich, ein breitschultriger junger Mann in den späten Zwanzigern mit sportlichen Shorts, in denen seine kräftigen braungebrannten Beine gut zur Geltung kamen. Sein kurz geschnittener Bart und die inzwischen ausgeprägtere, leicht gebogene Nase verliehen seinem Gesicht etwas Verwegenes, das sich aber sofort verlor, wenn er lachte. Das „du“, das ehemaligen Schülern bei ihren Lehrern immer etwas schwer fällt, ging ihm locker von den Lippen. Er schlug mir vertrauensvoll auf die Schulter, fragte wie ich mich fühlte und trug meinen Koffer zum Aufzug, der uns in seine Wohnung in den elften Stock brachte. Sein Apartment besaß einen großen Wohnraum, zwei Bäder, ein Schlafzimmer, eine kleine Küche und ein Gästezimmer, in dem ich einquartiert wurde. Nach einer ersten, etwas abwartenden Phase wurde das Gespräch schnell vertrauter. Klatsch und Tratsch aus Meerbusch wurde ausgetauscht, die letzten Informationen über diesen und jenen wurden aufgefrischt, Kaffee wurde gekocht, während draußen bereits die Dämmerung hereinbrach. Fabian hatte nach seinem Abitur eine Lehre als Schifffahrtskaufmann absolviert, danach als Speditionskaufmann ein Jahr in London, fünf Jahre in Hamburg und drei Jahre in Rio gearbeitet. Zurzeit leitete er das Büro einer brasilianischen Schiffsmaklergesellschaft in Singapur und war mit einem kleinen Stab von Mitarbeitern dafür zuständig, auf dem chaotischen Markt der südostasiatischen Containerschifffahrt möglichst viele Transportkontrakte und den dafür benötigten Schiffsraum an Land zu ziehen. Für sein Alter bekleidete er also bereits eine beachtliche Position. Auch privat gab es keinen Grund zum Klagen. Fabian war mit der Brasilianerin Roberta liiert, die ihm bei seinem Umzug von Rio nach Singapur gefolgt war. Auf dem Sideboard sah ich das Bild einer jungen, bildschönen Frau.

„Aber wo ist Roberta jetzt?“ fragte ich.

„Sie befindet sich zurzeit auf Studienurlaub in Europa“, antwortete Fabian. „Sie absolviert dort einen Studiengang für Menschenrechte, der auf den Erfahrungen und Lebensweisheiten der Bhutanesen aufbaut.“

Als ich fragte, warum ausgerechnet der Bhutanesen, wunderte sich Fabian darüber, dass ich als Weltreisender nicht wüsste, dass die Bhutanesen die glücklichsten Menschen des Planeten seien und somit dem Rest der Weltbevölkerung Vieles mitzuteilen hätten. Leider könne er selbst nicht so glücklich leben wie die Bhutanesen, denn sein Job stresse ihn derart, dass er nachts kaum schlafen könne. Tatsächlich klingelte während unseres Gespräches das Telefon mindestens ein halbes dutzendmal. Offenbar waren reichlich Transportvolumina, für die Schiffspassagen gesucht wurden.

Am Abend fuhren wir in die Innenstadt zum Hafenbecken des Singapur Rivers. Es handelte sich um einen breiten Mündungssee unmittelbar neben der Marina Bay, an dessen Ufern sich Promenaden, Geschäftshäuser und eine ganze Straße mit hochpreisigen Speiselokalen befanden. Ohne zu zögern bestellte Fabian bei einem Edelitaliener einen Nero d´ Avola, zu einem exorbitanten Preis, der ihm sehr gut schmeckte. Als ich ihn als Dank für seine Gastfreundschaft zu dieser Flasche Rotwein einlud, bestellte er gleich noch eine zweite Flasche, die ich inklusive des Abendessens auch noch bezahlte. Immerhin war ja auch der japanische Lehrer seinem Schüler etwas schuldig.

Aber es war gut angelegtes Geld, denn das Gespräch brachte viel Aufschlussreiches über Singapur zu Tage. Einen Wagen besitze er selbstverständlich nicht, erklärte Fabian, denn wenn man den Anschaffungspreis und die Lizenzgebühr für ein Fahrzeug, die in Singapur praktisch einen zweiten Kaufpreis ausmache, zusammenaddiere, könne man bis zum Lebensende U-Bahn fahren. Die drakonischen Strafen für Vandalismus und Vermüllung fand er voll in Ordnung, denn jeder wisse um diese Strafen, und wer sich den Luxus leiste, sie zu ignorieren, solle auch bezahlen. Das war der Fabian Purps, wie ich ihn kannte, ein konservatives Kraftpaket, dem man kein x für ein u vormachen konnte. Dass er sich gleich nach dem Abitur als Wehrpflichtiger freiwillig zu den Gebirgsjägern gemeldet hatte und in seiner Freizeit asiatischen Kampfsport betrieb, rundete das Gesamtbild ab. Diese robusten Basisdaten wurden mittlerweile allerdings durch zartere Ansichten ergänzt, in denen sich der veredelnde Einfluss seiner schönen Menschenrechts-Freundin bemerkbar machte. Sein Umweltenthusiasmus und seine Warnungen vor den die Gefahren des Klimawandels wirkten neben seinen sonstigen Ansichten, als hätte man von einem scharf gewürzten Gericht die Peperoni entfernt. Kein Zweifel, Fabian Purps befand sich nach zwei Flaschen Nero d´Avola im Einklang mit der Welt und genoss es sichtlich, seinem ehemaligen Lehrer die Welt zu erklären.

Am nächsten Tag war ich von morgens bis abends in Singapur unterwegs. Ich wunderte mich über die optimale Organisation des U-Bahn-Verkehrs, über die Sauberkeit auf den Gleisen und die zurückhaltende Höflichkeit der Menschen, wenngleich mir auffiel, dass sie nicht eigentlich fröhlich daherkamen. In Bangkok und mehr noch in Delhi oder Bombay war es erheblich dreckiger, trotzdem schien die Laune der Menschen viel besser zu sein als in dieser wie blankgeleckten Stadt. Sich immer nur an die Regeln zu halten, die zugleich eisern überwacht wurden, war gut für das Niveau der öffentlichen Ordnung, machte aber offenbar individuell wenig Freude.

 

Das erste, was ich von Singapur sah, als ich aus der U- Bahn stieg, war das Denkmal für die Toten des Zweiten Weltkrieges: ein schmuckloser Obelisk, der von den ihn umgebenden Hochhäusern überragt wurde. Besser konnte man die Bedeutungslosigkeit solcher Denkmäler kaum darstellen. Die implizite Nachricht lautete: So schlimm konnte der Krieg ja wohl nicht gewesen sein, wenn schon eine Generation später neu erbaute Wolkenkratzer seine Denkmäler turmhoch überragten.

An diesem Vormittag lag ein wolkenfreier Himmel über Singapur, und obwohl es noch lange nicht Mittag war, entfaltete die Sonne bereits ihre Kraft. Wer hatte gesagt, dass das exakte Entfernungsmaß zwischen zwei Punkten in Singapur die Menge Schweiß sei, die man auf dem Weg von A nach B vergoss? So gut ich konnte, wich ich ins gekühlte Unterirdische aus. Geführt von einem indischstämmigen Straßenkehrer lief ich fast einen ganzen Kilometer durch schlauchartige U-Bahn-Zubringer und Malls, bis ich kurz vor der Marina Bay wieder das Licht des Tages erreichte. Mein zufälliger Führer hieß Ramin und war ein Tamile, der als junger Mann nach Singapur gekommen war. Er hatte in der Nachtschicht diverse U-Bahnhöfe gereinigt und befand sich nun auf dem Heimweg in die Vorstadt, wo er mit seiner Frau und vier Kindern lebte. Zweimal kamen wir auf unserem langen Weg durch die unterirdischen Verbindungsstraßen an schlafenden Obdachlosen vorüber, die es inzwischen also auch in Singapur gab. „Lange werden sie dort nicht liegenbleiben“, meinte Ramin. „Bald wird die Polizei kommen und sie wegjagen.“

Als ich kurz vor der Marina Bay die unterirdischen Tunnel verließ, traf mich der Anblick des umgestalteten Stadtzentrums wie ein Schock. Rund um eine direkt mit dem Meer verbundene Bucht war in den letzten 15 Jahren ein städtebauliches Ensemble der Sonderklasse entstanden, das in Asien seinesgleichen suchte. An der meereszugewandten Seite erhob sich das Bay Sands Hotel mit seinen drei fünfundfünfzigstöckigen Hochhäusern. Auf deren Dächern war über alle drei Häuser hinweg ein über hundert Meter langes steinernes Boot positioniert worden war, eine Arche Noah der Postmoderne, die auf dem Untergrund hypermoderner Architektur in eine ungewisse Zukunft steuerte. Ein neues Traumbild der Urbanität war geboren worden, eine überdimensionale Weltbarke, die in ihrem mittleren Teil von einem palmengesäumten Swimmingpool aus einen Blick über die gesamte Sechsmillionenstadt und das Meer erlaubte. Unterhalb des Bay Sands Hotels befand sich eine Mall und das Museum für Moderne Kunst, ein echter Augenöffner, denn es war als eine steinerne, sich entfaltende Blüte gestaltet, die sich hochhausgroß über dem Wasser der Bay erhob.

Beim Anblick der Marina Bay wurde mir klar, dass es ein Ausmaß an Stadtveränderung gab, dass alle früheren Besuche hinfällig machte. Aber hatte sich Singapur nicht schon immer permanent verwandelt, vielleicht nicht unbedingt ins Schönere, aber auf jeden Fall ins Effektivere? Singapur die „Löwenstadt“, war der Legende nach schon im 14. Jahrhundert gegründet worden. In Wirklichkeit aber hatte die relevante Geschichte der Stadt erst in dem Augenblick begonnen, als der britische Kolonialbeamte Stanford Raffles im Jahre 1811 seinen Fuß auf die unbedeutende Insel vor der malaiischen Stadt Johore gesetzt hatte. Raffles erkannte die exzellente strategische Lage der Insel und sorgte dafür, dass sie zu einem britischen Stützpunkt wurde, genauer gesagt: zu einem der Sprungbretter, von dem aus die Briten im 19. Jahrhundert Schritt für Schritt die Vorherrschaft und Kontrolle über die malaiische Halbinsel gewannen. Unter britischer Kolonialverwaltung erbauten Chinesen, Malaien und Inder eine staunenswerte Metropole, nicht Asien und nicht Europa, sondern ein drittes, das sein Anderssein bis in die Gegenwart erhalten sollte. Nach der Unabhängigkeit im Jahre 1963 war Singapur schon im Jahre 1965 aus der malaysischen Konföderation ausgetreten, um sich in einer damals scheinbar aussichtslosen Kleinstaatlichkeit einzurichten. Doch dieser Kleinstaat gedieh gegen alle Wahrscheinlichkeit. Singapur wurde als Drehkreuz des Welthandels zu einem der asiatischen Tigerstaaten und hat inzwischen längst einen Großteil der europäischen Konkurrenten hinter sich gelassen. Der „Vater“ dieses staunenswerten Wirtschaftswunders, der Chinese Lee Yuan Kew, war im Jahre 2015 gestorben. Seine „asiatischen Werte“, d. h. die Verbindung von extremer Leistungsbereitschaft und Meritokratie, verbunden mit einer notfalls staatlich erzwungenen Gemeinwohlorientierung, hatten Singapur zu einer der wohlhabendsten Städte der Welt aufsteigen lassen. Nun hatte die Stadt das Stadium der bloßen Effektivität verlassen und war auch noch attraktiv geworden.

So nahe und plastisch der Gesamtanblick der Marina Bay mir an diesem Vormittag vor Augen stand, so kostete es mich einen langen Fußmarsch und beträchtliche Mengen Schweiß, ehe ich hinter dem Museum für Moderne Kunst den Eingang zum Bay Sands Hotel erreichte. Die gute Nachricht war, dass die Kosten für eine Übernachtung in diesem Hotel keineswegs so astronomisch hoch waren, wie ich erwartet hatte. Im Rahmen von Spezialangeboten war eine Übernachtung mitunter schon für etwa 200 Dollar zu buchen. Die schlechte Nachricht war, dass jeder Besucher, der nicht im Hotel logierte, für das Betreten des Oberdecks die stolze Summe von 25 Singapur Dollar berappen musste.

Wie erwartet war das Observation-Deck bewusst schmucklos und ohne Schatten konzipiert, damit sich die Besucher nicht zu lange auf dem Aussichtsdach aufhielten. Der Einzigartigkeit der Aussicht tat das jedoch keinen Abbruch. Nach Süden hin sah man eine unübersehbare Anzahl von Schiffen, die auf ihre Abfertigung im Hafen von Singapur warteten. Die Umrisse des Hafens waren im Westen nur undeutlich zu erkennen, nur daran, dass er riesig war, konnte auch aus der Entfernung kein Zweifel bestehen. Neben Shanghai und Hongkong gehörte der Hafen von Singapur zu den größten Häfen der Welt. Gemessen am Frachtgutumschlag war er über viermal so groß wie der der Hamburger Hafen.

Gleich unterhalb des Bay Sands Hotels befand sich meerwärts der „Garden of the Bay“, ein in den letzten Jahren neu eingerichteter Ökopark, der Singapurs Ruf als „grüne Stadt“ begrün(d)en sollte. Seine Hauptattraktionen waren die sogenannten „Superbäume“ aus Stahl und Beton, die in einer Größe von über 25 Metern nicht nur als vertikale Gärten sondern auch als Regenwasserspeicher und Standort für Solarzellen dienten. Gleich neben den Superbäumen befanden sich zwei futuristisch anmutende Gewächshäuser, in denen Pflanzenarten aus allen Kontinenten gepflegt wurden.

Stadteinwärts wanderte der Blick über die Marina Bay hinweg auf die andere, urbane Seite der Bucht zum „Merlion“, dem wasserspeienden Steinlöwen vor dem Fullterton Hotel und der Skyline der City von Singapur. Halb im Dunst des Gegenlichts verschwammen die Hochhauswälder an der Peripherie der Stadt, die Heimat des größten Teils der fast sechs Millionen Menschen, die auf der gerade mal siebenhundert Quadratkilometer großen Insel lebten. Mag Singapur auch eine der dereguliertesten und somit dynamischsten Volkswirtschaften der Welt sein, so ist der Wohnungsmarkt in Singapur fest in staatlicher Hand. Über achtzig Prozent der Einwohner Singapurs bewohnen staatlich subventionierten Wohnraum, der regelmäßig erneuert und umwelttechnisch optimiert wird.

Den Rest des Tages setzte ich mich in Busse und U-Bahnen und fuhr kreuz und quer durch Singapur. Zuerst vom Süden nach Norden, dann soweit es mir möglich war, die Stadtränder entlang. Denn der zivilisatorische Rang einer Stadt erweist sich nicht so sehr in ihrem Zentrum als an ihrer Peripherie. Am Rande der urbanen Gebilde lösen sich die Formen auf, als besäßen die Regeln, die das Zentrum der Stadt beherrschen, an ihren Rändern keine Geltung mehr. Nicht so in Singapur. An den Stadträndern waren die Straßen ebenso sauber wie im Zentrum. Die Hochhäuser waren weiß getüncht, nirgendwo sah ich Graffitis oder Müll. Nur einmal erblickte ich einige Balkone, auf denen Wäsche über die Brüstung hing. Die Bewohner würden sicher bald Besuch vom Hausmeister erhalten. Singapur war eine „fine City“, eine „feine Stadt“ mit intakter Ordnung, in der jeder, der sich an dieser Ordnung verging mit Strafen (englisch „fine“) rechnen musste. Undenkbar etwa, dass in einem Stadtpark in Singapur nigerianische Drogenhändler unbedrängt und in aller Öffentlichkeit ihre Geschäfte abwickeln würden. „Null Toleranz“ beherrschte als urbanes Strafprinzip die Stadt. Auf Drogenhandel stand der Tod und auf Vandalismus eine Reihe schmerzhafter Züchtigungsstrafen.

Nach der Statistik waren drei Viertel der Bevölkerung von Singapur ethnische Chinesen, 14 % waren Malaien und etwa 8 % Inder. Die wenigen Westeuropäer und Amerikaner fielen optisch kaum ins Gewicht. Allerdings waren die Passagiere, die neben mir in Bus und U-Bahn saßen, äußerlich nicht unbedingt als Chinesen, Malaien oder Inder zu erkennen. Eine einheitliche Geschäftskleidung machte die Menschen äußerlich gleich, und selbstverständlich gehörte es bei allen Ethnien zum guten Ton, sich unauffällig zu verhalten. Was ihnen darüber hinaus gemeinsam war, war der permanente Handygebrauch. Die Fahrgäste in U-Bahn und Bussen schauten nicht rechts und nicht links, nahmen ihre Umgebung nur wie durch einen Schleier wahr und starten unablässig auf ihr Display. Wenn sich der Mensch unterwegs immer schon in zwei Realitäten bewegte, in der Außenwelt und seinem inneren Bewusstseinsstrom, hatte der Siegeszug des Handys diese Balance ins extrem Solipsistische verschoben. Das allerdings war in Singapur genauso wie in Tokyo oder Berlin.

Am Abend traf ich Fabian am „Merlion“ zur Sound und Light Show. Fabian erschien im Business-Dress, sah extrem gesund und präsent aus, ein Athlet, der in Sekundenschnelle den Gesichtsausdruck vom Harmlosen ins Entschlossene ändern konnte. Wieder bimmelte unablässig sein Handy. Im Augenblick verfolge er sechs oder sieben Projekte, von denen sich, wenn er Glück habe, vielleicht eines würde realisieren lassen. Dann aber, so Fabian, würde die Kasse klingeln, dass es eine Freude sei. Während wir auf den Stufen zu Füßen des Merlions saßen, begann die Sound und Light Show. Das Bay Sands Hotel und das Museum für Moderne Kunst wurden in flackerndes Licht getaucht. Festlich beleuchtete Ausflugsboote durchquerten die Bucht. Nichts, was einen vom Hocker warf, eher etwas für einen beiläufigen Blick.