Der Skorpion

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Eine Anfrage im Unterhause

Es war wieder einige Tage später. Das House of Commons hatte eben eine sehr eingehende Aussprache über die Aufrüstung der See-, Land- und Luftstreitkräfte abgeschlossen, als sich noch ein Mitglied erhob.

»The gallant member – der sehr tapfere Abgeordnete für Souths Down wünscht noch etwas vorzubringen«, verkündete der Sprecher.

Das Parlamentsmitglied, dem diese ehrende Anrede zukam, war ein verdienter alter Commodore, und man wußte, daß er stets dann ins Treffen geschickt wurde, wenn es um eine Sache ging, bei der es mehr auf die betreibende Persönlichkeit, als auf rednerische Wirkung ankam. Er entledigte sich seiner Aufgabe auch diesmal sehr kurz und bündig.

»Ist der Regierung bekannt«, stieß er mit seiner rauhen Seemannsstimme hervor, »daß vor einiger Zeit einem britischen Staatsangehörigen auf einem fremden Staatsgebiete eine Ausbeutungskonzession verliehen wurde, der in Anbetracht der Besonderheit und der Verwendungszwecke des betreffenden Vorkommens außerordentliche Wichtigkeit beizumessen ist? – Und gedenkt die Regierung – falls dies nicht schon geschehen sein sollte – raschestens Schritte zu unternehmen, um die wichtigen Interessen des Empires in dieser Angelegenheit zu wahren?«

Auf der Regierungsbank erhob sich sofort einer der jungen zukunftsreichen Unterstaatssekretäre und erwiderte darauf ebenso allgemein und vorsichtig:

»Die Regierung kann nur nochmals die Versicherung abgeben, daß sie auf alles Bedacht nehmen wird, was für das vorgesehene Aufrüstungsprogramm irgendwie von Bedeutung sein könnte. Sie hat auch der erwähnten Angelegenheit bereits ihr Augenmerk zugewendet, und nur besonderen Umständen, die nicht an ihr liegen, ist es zuzuschreiben, daß sie heute dem Hause noch keine bestimmtere Erklärung abgeben kann.«

Schon die ersten Morgenausgaben der großen Blätter wurden in dieser Sache etwas deutlicher. Es handelte sich um ein äußerst reiches Molybdänvorkommen in Asien, das für die englische Stahlindustrie tatsächlich von größter Wichtigkeit war. Die Konzession hatte ein gewisser Thomas Wesley erworben, ein unternehmender Glücksritter großen Stils, der bereits wiederholt von sich reden gemacht hatte. Er war einmal hoch oben, einmal tief unten und nie ganz nüchtern. Während besonders arger Trunkenheitsperioden pflegte er oft monatelang zu verschwinden und sich in einem höchst fragwürdigen Zustande in den übelsten Spelunken irgendeines Anschwemmplatzes der Welt herumzutreiben.

Eine solche Periode schien Thomas Wesley auch gegenwärtig wieder durchzumachen, denn er war nicht aufzufinden, obwohl die englische Regierung seit Wochen ihren den ganzen Erdball umspannenden Apparat in Bewegung hielt, um des Mannes mit den wichtigen Schurfrechten habhaft zu werden. Man hatte bisher lediglich ermitteln können, daß er vor ungefähr vier Monaten einige Tage in London geweilt hatte und dann mit einem eigenen Flugzeug allein nach einem unbekannten Ziel gestartet war.

Seither fehlte jede Spur von ihm.

Ein gefürchteter Mann erlebt eine peinliche Niederlage

Mr. Roger Meraine, kurz Hodge genannt, war in Soho ein Mann von großem Einfluß, aber auch östlich und westlich von diesem Londoner Fremdenviertel hatte sein Name etwas zu sagen. Er betrieb, wie eine gediegene Firmentafel verkündete, ein sehr vielseitiges Maklergeschäft, dessen Erträgnisse es ihm gestatteten, auf großem Fuße zu leben und seine arbeitsreichen Tage allnächtlich im Kreise seiner zahlreichen Freunde und Freundinnen in gehobener Stimmung zu beschließen.

An diesem Abend hatte die Gesellschaft eine kleine Bar gewählt, wo sie immer so ziemlich unter sich blieb, denn man wollte versuchen, Hodge endlich wieder ein bißchen aufzuheitern. Der breitschultrige Vierziger mit dem starken südländischen Einschlag zeigte sich nämlich seit kurzem auffallend übelgelaunt und von gefährlicher Reizbarkeit. Sogar Jozy Healy, eine heißblütige junge Irin mit wundervollem rotem Haar, hatte darunter zu leiden, obwohl sie sich bisher der besonderen Gunst des in vieler Hinsicht außergewöhnlichen Mannes hatte erfreuen dürfen.

Sie saß nun arg gekränkt und höchlich gelangweilt an seiner Seite, denn Hodge war auch heute aus seiner düsteren Stimmung nicht aufzurütteln. Zwischen seinen buschigen schwarzen Brauen stand eine böse Falte, und wenn er zuweilen die schweren Lider hob, lag in seinen verschleierten Augen ein wenig freundlicher Ausdruck. Er sprach kein Wort, trank aber sehr viel und rauchte ununterbrochen mit tiefen, nervösen Zügen.

Nach etwa einer Stunde verirrte sich doch noch ein weiterer Gast in das Lokal. Er kam nichts weniger als gelegen und erregte daher besonderes Aufsehen. Der Fremde mochte etwa Dreißig sein, sah sehr gut aus und schien nach seinem von Luft und Sonne gedunkelten Gesicht und seiner sonstigen ganzen Art nicht zu der Gilde der Londoner Nachtbummler zu gehören. Er zeigte für die Runde um Roger Meraine nicht das geringste Interesse, sondern ließ sich an einem Tisch gegenüber nieder und gab gelassen seine Bestellung auf.

Das Gespräch an der großen Tafelrunde verstummte fast völlig, denn die Dinge, über die man sich bisher unterhalten hatte, waren nicht für fremde Ohren bestimmt, und die unvermittelte Ruhe wirkte geradezu bedrückend; nur nicht auf die wirklich hübsche, feurige Miß Jozy Healy, die vielmehr plötzlich außerordentlich lebendig wurde. Sie legte zunächst rasch eine sorgfältige frische Bemalung an und schenkte dann dem neuen Gaste eine sehr verheißungsvolle Aufmerksamkeit. Ihr kam dieser vornehme, sehnige Gentleman, mit dem sich der bereits etwas dicklich werdende, eingebildete Hodge in keiner Weise messen konnte, gerade recht. Nun wollte sie dem Ekel an ihrer Seite einmal zeigen, daß sie es nicht notwendig hatte, sich seine Launen gefallen zu lassen …

Die beredte Augensprache der roten Irin fand zwar keine Erwiderung, aber Miß Jozy ließ nicht locker, und ihre Blicke wurden immer ermunternder und glutvoller …

Plötzlich fuhr Roger Meraine wie der Blitz hoch, versetzte seiner unternehmenden Freundin einen heftigen Schlag ins Gesicht und stürzte auch schon auf den Tisch gegenüber zu.

Der Fremde verharrte völlig reglos, als ob ihn der Vorgang gar nicht berührte, und ließ den toll gewordenen Mann mit den tückisch funkelnden Augen ganz dicht herankommen. Selbst als Hodge in blinder Wut ausholte, rührte der andere sich noch immer nicht – aber dann glitt er plötzlich unter der zuschlagenden Faust hinweg, so daß der Angreifer sich um ein Haar über den Tisch gelegt hätte …

Dazu sollte es jedoch nicht kommen, weil in der gleichen Sekunde ein schneidendes »Oahooo – heiii!!!« durch das Lokal schallte und Roger Meraine gleichzeitig einen Hieb zwischen die Augen erhielt, der ihn nicht nur jäh wieder aufrichtete, sondern auch noch einige Schritte zurücktaumeln ließ.

Damit war der draufgängerische Hodge allerdings nicht erledigt, sondern er verfiel nun in förmliche Raserei. Er fuhr mit der Rechten in die Tasche seines Smokings, brachte sie mit einem Schlagring bewehrt wieder hervor und ging mit einem geradezu tierischen Wutschrei und geiferndem Munde neuerlich auf den andern los.

Noch dreimal klang das schrille »Oahooo – heiii!« wie ein Peitschenknall durch den Raum, dann lag der gefürchtete Mann von Soho auf dem Boden und rührte kein Glied mehr …

Die aufregende Szene hatte nur wenige Sekunden gedauert, und Hodges Freundeskreis war noch immer starr vor Bestürzung, als sie bereits längst zu Ende war. Aber selbst, als man endlich etwas zu sich kam, dachte man nicht daran, sich einzumengen. Das war eine Sache, die nach einer Berührung mit der Polizei aussah, und Hodge mußte rein den Verstand verloren haben, daß er sich auf so etwas eingelassen hatte.

Auch der Besitzer des Lokals wollte, so sehr er auch Mr. Meraine und dessen Gesellschaft schätzte, keine Scherereien mit der Polizei und rief diese daher lieber selbst herbei. Sie erschien leider rascher, als die große Tafelrunde sich verflüchtigen konnte, und es gab eine recht peinliche Befragung.

Nur Hodge nahm das bedenkliche Ende dieses Abends völlig teilnahmslos hin. Er war zwar nicht mehr ganz leblos, sah aber geradezu jammervoll aus, und der Schlagring, den er noch immer an der Rechten stecken hatte, machte sich neben den vielen funkelnden Brillantreifen gar nicht gut …

· · ·

Und damit war die Zeit gekommen, die allmählich einen Zusammenhang zwischen all diesen vorangeschickten Geschehnissen ergeben und die dunklen Vorgänge um das Sternbild des Skorpions ins Rollen bringen sollte.

1

Die Schreibstube in Finch Lane bestand erst knapp drei Monate, war aber bereits ebensolange eines der bekanntesten Büros der City.

Eines Morgens hatte ein etwas verfrühter Börsenbesucher bei einem Bummel durch die umliegenden Gassen an einem Laden, der noch vor kurzem den üblen Duft von vertrockneten Heringen und faulendem Gemüse ausgeströmt hatte, eine funkelnagelneue geschmackvolle Firmentafel entdeckt, auf der zu lesen war:

»Ghost Writers Bureau. We write it – You sign it. Bessie Clayton. Alice Parker.«

Da der Mann zufällig schon ein paar Tage einige unerledigte Briefe bei sich trug, trat er ein.

Und noch am selben Vormittage konnte das kleine Lokal kaum die vielen Leute fassen, die um ein Sixpencestück für die Seite irgendeine geschäftliche Mitteilung getippt haben wollten.

Darüber freute sich besonders Bessie außerordentlich, denn selbst in ihren kühnsten Träumen hatte sie nie zu hoffen gewagt, daß es mit dem Geldverdienen so unverhältnismäßig schnell und leicht gehen würde. Sie war vor einem halben Jahr nach London gekommen, um zu den Fertigkeiten und Kenntnissen, die sie in ihrem heimatlichen Landstädtchen erworben hatte, noch etwas zuzulernen und sich dann nach einer Stellung umzusehen, aber eines Tages hatte ein glücklicher Zufall dieser ihrer Vorbereitungszeit ein rasches und sehr befriedigendes Ende gemacht. In einer Zeitung hatte sie eine Anzeige gefunden, durch die eine tüchtige, intelligente Maschinenschreiberin gesucht wurde, und sie hatte sich auf gut Glück gemeldet. So war sie mit Alice Parker bekannt geworden, die eine Schreibstube im Geldviertel der City eröffnen wollte, und die beiden jungen Mädchen hatten sich sofort verstanden und Gefallen aneinander gefunden. Und wenn die Idee und das erste Geld von Alice waren, so war die Einrichtung des Unternehmens hauptsächlich das Verdienst Bessies. Sie hatte mit ihrem hartnäckigen Feilschen um jeden Penny sämtliche Schreibmaschinenhändler und Papierlieferanten Londons zur Verzweiflung gebracht, und dem Verwalter des Hauses in Finch Lane hatte sie über sein Lokal so viele unschöne Dinge gesagt, daß der Mann schließlich heilfroh war, als sie es zu einem Spottpreis zu mieten geruhte.

 

Dafür war Bessie Clayton sofort Teilhaberin mit vierzig Prozent vom Reingewinn geworden, und Alice hatte sie auch eingeladen, mit ihr zu wohnen. Bessie war mit großer Begeisterung darauf eingegangen und hätte es auch in dieser Hinsicht nicht besser treffen können. Mrs. Christina Toomer betreute ihre beiden Mieterinnen mit mütterlicher Besorgtheit und Alice sogar mit einer gewissen liebevollen Unterwürfigkeit. Bessie konnte das verstehen, denn auch sie tat für die Freundin, der sie soviel zu verdanken hatte, alles, was sie ihr an den Augen ablesen konnte, aber zuweilen schien es ihr, als ob für das Verhalten der Hauswirtin noch ganz besondere Gründe vorhanden wären. Es fiel jedoch darüber nie eine Andeutung, und Bessie war zu taktvoll, um danach zu forschen. Ebenso vermied sie es, Alice über deren persönliche Verhältnisse zu befragen, da sie auf ihren ersten derartigen Versuch bloß eine ganz allgemeine und sichtlich äußerst verlegene Antwort erhalten hatte. Anscheinend gab es da einen recht schmerzhaften Punkt, dem wohl auch das bedrückte Wesen der Freundin zuzuschreiben war.

Nach Schluß der Börse und der Bankschalter wurde es auch in der Schreibstube still, und sobald die restliche Post aufgearbeitet war, pflegte Bessie die drei netten und fleißigen Tippfräuleins, die nun erst an ihren eigentlichen Beruf, das Studium verschiedener Wissenschaften, gingen, mit einem freundlichen »Good bye, Kinder« an der Tür zu verabschieden.

Heute geschah das noch eine Viertelstunde früher als sonst, denn Alice Parker mußte wieder einmal den weiten Weg nach Kensington machen. Es war dies aus gewissen Gründen ein sehr unangenehmer Weg, und das junge Mädchen verriet an den Tagen, da er ihm bevorstand, immer eine auffallende Unruhe. Bessie kannte die Gründe hierfür, und während sie zu dem nahen Speisehause schritten, um rasch ein bescheidenes Lunch einzunehmen, kam sie diesmal mit besonderer Entschiedenheit darauf zu sprechen.

»Wir werden nun mit diesem Mr. Ellis aber wirklich Schluß machen«, sagte sie. »Wenn der grobschnauzige Goldgräber, oder was er sonst war, nicht weiß, wie er sich gegen eine Dame zu benehmen hat, soll er sich seine Briefe selber tippen. Ich werde nicht länger dulden, daß du dich wegen einer Guinee solchen Dingen aussetzt. Du kommst ja immer ganz verstört zurück. Erkläre ihm also heute kurz und bündig, daß er sich für das nächste Mal nach jemand anderem umsehen soll. Im übrigen kann ich verstehen, daß der alte Buschmann augenblicklich besonders übler Laune ist. Der Schmuck, den man seiner Frau abgenommen hat, soll ja einige tausend Pfund wert gewesen sein. Hast du diese Mrs. Ellis überhaupt schon einmal gesehen? – Du weißt ja, was man sich von ihr erzählt …«

Alice schüttelte bloß den Kopf, aber da sie mittlerweile das Speisehaus erreicht hatten, gab Bessie sich damit zufrieden und konzentrierte sich ausschließlich auf den Zweck, zu dem sie hergekommen waren. Erst nach dem Mahle wurde sie wieder gesprächig. Sie kam aber nicht auf das frühere Thema zurück, sondern schlug ein anderes an, das sie seit einer Woche ziemlich häufig, jedoch immer nur mit sachlicher Kühle berührte.

»Dieser Mr. Allan« – das war der neue Mieter, der vor kurzem bei Mrs. Toomer eingezogen war – »scheint ja ein recht lockerer Vogel zu sein«, begann sie auch diesmal wieder so ganz obenhin. »Er ist keinen Abend zu Hause, und dann schläft er immer bis in den hellen Tag hinein. Es sieht ganz so aus, als ob er trotz seines Telefons keine ordentliche Beschäftigung hätte. Ich habe Mrs. Toomer schon danach gefragt, aber sie hat mir recht kurz erklärt, sie habe sich noch nicht darum gekümmert, und es gehe sie auch nichts an. – Das wundert mich, denn Mrs. Toomer ist doch sonst ziemlich mißtrauisch und hält darauf, genau zu wissen, wen sie im Hause hat.«

Bessie trommelte mit den hübschen, kräftigen Fingern gereizt auf den Tisch, aber Alice zeigte für die Verhältnisse und das Treiben des neuen Hausgenossen nicht das geringste Interesse. Sie war dem jungen Manne zwar bereits einige Male begegnet, hatte jedoch seinen höflichen Gruß immer nur ganz flüchtig und mit der ihr eigenen scheuen Zurückhaltung erwidert. Die weit weniger scheue und zurückhaltende Bessie hingegen hatte schon wiederholt einen kleinen Plausch mit ihm gehalten, der allerdings stets nur dem seltsamen Hunde gegolten hatte, der mit besonderer Vorliebe getrocknete Fische fraß. Und um diesen Hund drehte sich offenbar auch jetzt ihre hauptsächlichste Sorge, denn nach einer kleinen Pause setzte sie mit verkniffenen Lippen fort:

»Heute nacht ist der Herumtreiber überhaupt nicht nach Hause gekommen. Als wir morgens weggingen, hat der arme Hund drinnen noch immer auf der Schwelle gelegen und auf seinen saubern Herrn gewartet. Mir tut das verlassene Tier schrecklich leid, und ich werde Mr. Allan bei der nächsten Gelegenheit gehörig die Meinung sagen …«

Eine Viertelstunde später verabschiedete sich Bessie von der Freundin mit einem Schwall von kräftigen Zusprüchen und fürsorglichen Ratschlägen und ging dann ihrem weiteren Tagewerk nach. Alice Parker beherrschte geläufig vier Weltsprachen, und so weit wollte Bessie es auch bringen. Außerdem besuchte sie noch einen Haushaltungskurs, einen Kurs für Säuglingspflege und eine Nähschule, denn man konnte ja nicht wissen, vor welche Aufgaben sie das Leben einmal noch stellen würde, und mit irgendeiner nützlichen Tätigkeit mußte man ja seine freie Zeit schließlich ausfüllen.

2

Mr. William Ellis machte sich nach dem zweiten Frühstück auf den Weg, um sich mit seinem Vertrauten und Teilhaber Iwan Karenowitsch in einer sehr dringlichen und heiklen Angelegenheit zu beraten. Er hatte heute einen Brief erhalten, dessen Inhalt höchst bedenklich lautete und einen raschen Entschluß forderte; und überhaupt sahen die Dinge so verdammt übel aus, daß man sich darüber wieder einmal gründlich aussprechen mußte.

Mr. Iwan Karenowitsch führte auf seinen gediegenen Besuchskarten vor seinem Namen ganz bescheiden den Titel »Konsul«, und der Aufschlag seines vollendet sitzenden Fracks war bei größeren gesellschaftlichen Anlässen immer mit einer ansehnlichen Ordenskette geziert. Das erhöhte den vornehmen Eindruck, den der schlanke, kaum vierzigjährige Mann mit dem exotischen Gesicht machte, und man munkelte, daß der elegante Konsul auf die Herzen und die Tugend der Frauen geradezu verheerend wirkte.

Diese Gefahr bestand bei seinem Freunde Ellis nicht, denn man konnte diesem weder äußere Vorzüge, noch ein gewinnendes Wesen nachsagen. Seine grobschlächtige Erscheinung erinnerte stark an einen Menschenaffen, und auch die plattgedrückte Nase, der breite wulstige Mund und die abstehenden fleischigen Ohren paßten ganz zu diesem Bild.

Er hatte nicht weit zu gehen, denn Karenowitsch bewohnte in unmittelbarer Nähe ein kleines Haus, das den Vorteil ziemlicher Abgeschiedenheit hatte. Da der lebenslustige Junggeselle nach seinen vergnügten Nächten immer erst sehr spät aufzustehen pflegte, traf ihn Ellis noch im Morgenanzug und beim ersten Frühstück an.

Der Konsul war über den Besuch weiter nicht überrascht, denn sein Teilhaber pflegte sich häufig bei ihm einzustellen, weil man hier völlig ungestört war. Auch als der Mann sofort ein Blatt Papier aus der Tasche zerrte und grimmig auf den Tisch klappte, machte dies auf den Konsul keinen sonderlichen Eindruck. Er strich sich in aller Ruhe noch ein geröstetes Brötchen, und erst, als er einen Bissen in den Mund geschoben und einige Schlucke Tee nachgespült hatte, nahm er das Briefblatt auf und faltete es ohne sonderliche Eile auseinander.

Er las die wenigen Zeilen, ohne eine Miene zu verziehen, aber als er damit fertig war, standen seine dichten, schwarzen Brauen plötzlich hoch in der Stirn.

»Wesley???« fragte er mit vorsichtig gedämpfter Stimme, und aus seinem Blick sprach außerordentliche Spannung.

Ellis unterbrach seinen aufgeregten Marsch durch das Zimmer und ließ sich krachend in einen der Klubsessel fallen. »Was könnte es denn sonst sein?« krächzte er ebenso gedämpft zurück. »Der Bursche schreibt, daß er unterwegs zu dem Ding gekommen wäre – und er ist Seemann. Auch die Zeit könnte stimmen, denn wahrscheinlich ist er noch irgendwo herumgegondelt, bevor ihn der Teufel hierher gelotst hat.« Er hieb mit der Hand abermals so heftig auf den Tisch, daß das Frühstücksgeschirr ins Wanken geriet. »Eine verdammte Schweinerei«, stieß er zwischen den schütteren Zahnstummeln hervor. »Da sitzen wir nun seit Monaten und lauern von Tag zu Tag, daß einem schier schon die Nerven reißen, und können uns nicht rühren, weil wir nicht wissen, woran wir sind – und dabei ist vielleicht alles schon längst erledigt. Wenn diese schmierige Wasserratte das Buch bloß gefunden oder gestohlen hätte, würde sie sich nicht getrauen, daraus Geld machen zu wollen. Sie muß ganz sicher sein, daß der Mann, dem es gehörte, ihr nicht mehr in die Quere kommen kann. – Aber was, zum Teufel, steht drin? Geht es um die Geschichten von drüben, von denen der gerissene Wesley trotz seiner ewigen Besoffenheit sicher manches aufgeschnappt hat, oder geht es um die Sache, die wir mit ihm hatten?«

Diese Frage war so schwerwiegend, daß sie Ellis alle Farbe aus dem Gesicht trieb, und auch Karenowitsch nagte eine lange Weile sehr nachdenklich an der Unterlippe.

»Du mußt dir den Burschen natürlich noch heute beibiegen«, unterbrach er endlich das Schweigen. »Wir können ihn mit dem Buch und dem, was er vielleicht sonst weiß, nicht noch länger herumlaufen lassen, ob es sich nun um das eine oder das andere handelt. Geht es aber wirklich um Wesley, müssen wir natürlich alle Einzelheiten genauestens erfahren. Wo und wie es geschehen ist – und was das Ende war. Du verstehst mich? Quetsche also diesen Paddy zunächst gründlich aus, und dann muß ihm der Mund gestopft werden. Wende dich an die Stelle, die uns der Mann in Soho empfohlen hat. Diese Leute sind geschickt, und wegen eines Matrosen wird es nicht viel Lärm geben. Und falls unser Plan wirklich geklappt hat, rücken wir sofort mit den Papieren heraus. Meine Leute warten schon darauf, und diese gefräßigen Engländer, die einfach alles schlucken möchten, können sich den Mund wischen.«

»Ich wünschte, es wäre schon so weit«, knurrte Ellis, indem er in eine dicke schwarze Zigarre biß und die Spitze kurzerhand auf den Tisch spuckte. »Die Dinge wollen mir nämlich gar nicht gefallen. Wir haben zwar schon ein paarmal den Kopf riskiert, aber dabei ist es immer rasch und glatt gegangen. Nicht so wie diesmal, wo wir seit mehr als einem Vierteljahr den Hals in der Schlinge haben und bis heute nicht wissen, ob wir nicht vielleicht drin hängenbleiben …«

Der vierschrötige Mann ließ diesem bekümmerten Stoßseufzer noch einen saftigen Fluch folgen, der Konsul aber gähnte und schlug gelassen ein Bein über das andere.

»Du siehst aus, als ob du es mit der ganzen Hölle aufnehmen würdest«, sagte er mit einem wenig schmeichelhaften Blick, »hast aber das Herz immer gleich in den Hosen. – Damals mit dem Sternenschreck war es genau so.«

»Hör schon mit diesen alten Geschichten auf«, fauchte Ellis zurück. »Wir haben andere Sorgen. Wenn aus dem großen Geschäft nicht bald was wird, sitzen wir in ein paar Wochen auf dem Trockenen. Von den Blumen allein können wir nicht leben, und vielleicht wird das überhaupt bald aus sein. Die Leute drüben sind jetzt verdammt scharf dahinter her, und auch im Yard möchte man sich die feine Prämie gerne verdienen. Ich weiß das von dem Gentleman, den ich kennengelernt habe. Er schwatzt fortwährend davon und ist überhaupt« – trotz seiner düsteren Stimmung brachte Ellis ein belustigtes Grinsen zustande – »ein sehr netter und unterhaltsamer junge. Man braucht nur leicht anzutippen und kann aus ihm herausholen, was man will. Besonders wenn man ihn ein paar Pfund gewinnen läßt. Ich muß mich jetzt, wo die nächste Sendung bald fällig ist, wieder ein bißchen mehr um ihn kümmern.«

 

»Vor allem kümmere dich um den unbequemen Seemann«, sagte Karenowitsch bereits etwas ungeduldig, »und ich werde die Sache mit dem Mann im Pool nun in Schwung bringen. Wenn Wesley wirklich tot ist, können wir den andern endlich energischer anfassen. Weiß der Kuckuck, wie er das in der Eile angestellt hat. Er muß rein im letzten Augenblick irgendwie Lunte gerochen haben …«

»Das Gute für uns ist, daß die Polizei glaubt, er wäre durchgegangen und säße schon längst irgendwo drüben«, bemerkte Ellis und fand dies so belustigend, daß er wiederum über das ganze Gesicht feixte, was ihn nicht hübscher machte.

Der Konsul nickte. »Darauf war ja auch alles angelegt. Besonders die Depesche nach der Schweiz war eine gute Idee. Die betreffende Person ist wirklich verschwunden und wartet offenbar irgendwo geduldig auf das Wort. Und auch das ist gut, denn wir werden sie vielleicht brauchen, um den versteckten alten Geldsack zum Reden zu bringen. Ich habe bereits ein verläßliches Detektivbüro beauftragt, sie auszuforschen. Durch die ›Times‹ wäre das zwar einfacher und billiger gewesen, aber es kann sein, daß die Polizei von dem Telegramm Kenntnis hat und noch immer scharf aufpaßt.«

»Zum Teufel«, platzte Ellis gallig heraus, »die sollte sich jetzt wahrhaftig um andere Dinge sorgen. Da wird unseren aufgetakelten Frauenzimmern einem nach dem andern der sündhaft teure Tand direkt vom Leibe gezogen, und das tüchtige Yard, von dem so viel Wesens gemacht wird, ist auf einmal mit allen seinen Künsten zu Ende. Die Sache ist einfach ein Skandal, und das alberne Weib« – damit meinte der höfliche Mann Mrs. Elvira Ellis – »ist in einer Laune wie des Teufels Großmutter, wenn dieser etwas über die versengte Leber gelaufen ist …«

Er zerdrückte wütend den arg zerkauten Zigarrenstummel, aber dann schnitt er plötzlich wieder eine seiner scheußlichen Grimassen.

»Daran bist übrigens auch du mit schuld«, fuhr er fort. »Seitdem du dich bei uns so rar machst und dafür fortwährend um Mrs. Reed herumscharwenzelst, kocht es in ihr gewaltig.« Das Lächeln des robusten Gentleman wurde noch anzüglicher. »Ich weiß nicht, ob sie sich darüber mit dir schon ausgesprochen hat, aber auf jeden Fall würde ich mich an deiner Stelle vor ihr gehörig in acht nehmen. Ein wenig kennst du sie ja auch, wenn auch noch lange nicht so genau wie ich.«

Konsul Karenowitsch, der die letzten verfänglichen Anspielungen mit der kühlen, verschlossenen Miene eines Mannes von Welt hingenommen hatte, warf einen deutlichen Blick auf die Uhr.

»Mein Lieber, ich muß mich nun ankleiden«, sagte er. »Spätestens um eins bin ich im Klub und warte dort auf dich. Sieh zu, daß alles glatt abläuft.« Er erinnerte sich plötzlich an die neben ihm liegende noch uneröffnete Post und begann diese hastig durchzublättern, Ellis aber stellte sich schwerfällig auf die massigen Beine und strampelte die hochgerutschten Hosen herunter.

»Verdammte Scherereien«, machte er sich noch einmal Luft. »Für alle Fälle werde ich natürlich nun auch an Wesley schreiben, und dabei will jedes Wort gut überlegt sein …«

Er nickte kurz und verdrießlich und hielt Karenowitsch die knochige Hand hin, aber dieser war noch immer mit seinen Briefschaften beschäftigt.

»Warte noch einen Augenblick«, sagte er. »Vielleicht ist darunter bereits eine Nachricht wegen der gewissen Person …«