Der Skorpion

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Louis Weinert-Wilton DER SKORPION

Bevor das Sternbild des Skorpions die Gemüter des weiten Gebiets von London derart beschäftigte, daß die Straßenjugend der äußersten Vororte diese Figur der fernen südlichen Himmelshälfte an alle Mauern und Bretterwände kritzelte, ernste Männer sie mit wuchtiger Hand auf die geschwärzten Tische der Hafenkneipen und Schenken des Ostens malten, und die geschwätzigen Frauen von Convent Garden ihre Blumenstände damit schmückten, geschahen zunächst einige Dinge, die – zusammenhangslos, wie sie sich abspielten – im folgenden gleichfalls vorangeschickt seien.

Drei kurze, aber ungewöhnliche Briefe

An einem nebelverhangenen Februartage waren in verschiedenen Stadtteilen Londons drei Briefe zugestellt worden, die ihren Empfängern ziemlich zu denken gaben. Die billigen farbigen Umschläge deuteten auf irgendeine belanglose geschäftliche Anzeige hin, aber der Eindruck täuschte, denn der Inhalt war ungewöhnlich und für jene, die er anging, wirklich bedeutsam.

Die eine dieser Mitteilungen lautete:

»Ich brauche Sie. Warten Sie nächsten Donnerstag Schlag elf Uhr abends an der Ecke Cattle Market – Market Road, und steigen Sie in den Wagen, der bei Ihnen halten wird; er wird Sie an einen Ort bringen, wo wir uns ungestört aussprechen können. Es liegt in Ihrem Interesse, dieser Einladung nachzukommen, denn sollten Sie dies nicht tun oder gar auf irgendeine Hinterhältigkeit verfallen, so würden Sie sich dadurch sehr ernste Unannehmlichkeiten bereiten. Ich erinnere Sie bloß an die gewissen drei Schließfächer. Es wäre aber eine völlig unnütze Bemühung, wenn Sie diese nun etwa rasch räumen wollten, denn erstens würde ich von allen Ihren Schritten erfahren, und zweitens habe ich vorläufig keine Veranlassung, Sie in Schwierigkeiten zu bringen. Falls Sie aber unsere Zusammenkunft vereiteln, werde ich allerdings dafür sorgen, daß Sie noch in derselben Nacht eine für Sie weit bedenklichere Unterredung zu bestehen haben werden …«

Der Mann, an den diese Worte gerichtet waren, las sie mit einem Gemisch von schreckhafter Bestürzung und ohnmächtiger Wut. Schreiben solcher Art waren ihm zwar nicht fremd, aber bisher waren sie immer von ihm selbst ausgegangen. Er hätte die Sache auch unbedingt als albernen Scherz aufgefaßt, wenn die fatale Andeutung von den drei Safes nicht gewesen wäre.

Wer davon Kenntnis hatte, dem war sicher noch mehr bekannt, und die Drohung mit der »weit bedenklicheren Unterredung« war daher verdammt ernst zu nehmen. Der Aufforderung einfach nachzukommen, wie der Brief es verlangte, war also vielleicht gefährlich, etwas dagegen zu unternehmen aber unter diesen Umständen ein noch größeres Wagnis. Schließlich hatte es ja schon viele Leute gegeben, die seine Dienste in Anspruch genommen hatten, nur der Ton paßte dem Manne nicht. Er war nicht gewohnt, daß man ihm so kam. Der andere mußte sich sehr stark fühlen, daß er dies wagte, obwohl er doch sicher genau wußte, mit wem er es zu tun hatte. Aber das Blatt würde sich vielleicht rasch wenden, wenn man erst eine Ahnung hatte, wer mit so gefährlichen Kenntnissen herumlief …

Diese Erwägungen ließen es dem besorgten Manne geraten scheinen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber er wollte doch einiges vorkehren, um nicht etwa in eine Falle zu tappen …

Bei dem Empfänger des zweiten, ähnlichen Briefes ließ der Schreck irgendwelche Bedenken überhaupt nicht erst aufkommen. Für ihn gab es kein langes Überlegen und keine Vorkehrungen, sondern er mußte einfach gehorchen, denn auch in seinen Zeilen fehlte es nicht an einer sehr ernsten Wendung.

»Ich weiß, daß Sie sich in großen Schwierigkeiten befinden«, hieß es darin, »weil Ihr bescheidenes Einkommen für Ihre Passionen nicht ausreicht. Frauenbekanntschaften sind sehr kostspielig. Ich finde es daher begreiflich, daß Sie gelegentlich verschiedenen Spielklubs kleine Gefälligkeiten erweisen, aber andere Leute dürften darüber viel engherziger denken, falls sie davon erführen. Wenn Sie das vermeiden wollen, warten Sie nächsten Donnerstag pünktlich um Mitternacht gegenüber der Maiden Lane Station, und steigen Sie in den Wagen, der vor Ihnen halten wird. Er wird Sie an einen Ort bringen, wo wir uns ungestört aussprechen können, was Ihnen nur Vorteile bringen wird …«

Am ruhigsten blieb der Empfänger des dritten Briefes. Er hatte auch keinen Grund, sich zu erregen, denn die kurze Mitteilung enthielt diesmal keine Drohung, sondern eher eine Verheißung. Sie besagte nämlich:

»Es ist möglich, daß ich Ihnen gelegentlich in dieser oder jener wichtigen Sache dienlich sein kann. Halten Sie dieses Blatt gegen das Licht, und merken Sie sich das Zeichen, das in der linken oberen Ecke eingestochen ist. Sollten Sie ihm einmal begegnen, so können Sie manches erfahren, was zu wissen für Sie von Wichtigkeit sein wird. Einen andern Weg kann ich aus gewissen Gründen nicht wählen, und es ist auch keiner so zuverlässig.«

Nachdem der dritte Mann das Blatt wirklich gegen das Licht gehalten und sekundenlang auf die unregelmäßig angeordneten sechs hellen Pünktchen gestarrt hatte, schob er es bedächtig wieder in den Umschlag und barg diesen in seinem abgegriffenen Taschenbuche. Auch ihm waren derartige Briefe nicht fremd, aber er pflegte sie weder zu überschätzen, noch kurzweg abzutun. Manchmal war es ein bloßer Bluff, aber zuweilen steckte wirklich etwas dahinter.

Man würde ja sehen, was es diesmal war …

Ein Raubzug nach Juwelen

Ungefähr acht Tage später gab Mr. William Ellis, ein Mann, der in verschiedenen Erdteilen ein sehr ansehnliches Vermögen gemacht zu haben schien, in seiner prunkvoll eingerichteten Mietvilla in Kensington einen großen Abend. Die Gäste, die – etwa vierzig an der Zahl – erschienen waren, führten zwar keine gewichtigen gesellschaftlichen Namen, und auch die obere Schicht der Citywelt war nicht vertreten, aber es waren durchwegs Leute mit viel Geld. Dafür sprachen auch die erlesenen Juwelen der Damen, die von ihren glücklichen Besitzerinnen in offenkundigem Wettbewerb zur Schau getragen wurden; aber selbst der kostbarste und reichste Schmuck mußte vor dem Schimmer der haselnußgroßen Perlen und dem Feuer der Diamanten, mit denen die Frau des Hauses, eine geborene Portugiesin, behangen und besteckt war, verblassen. Man tröstete sich jedoch damit, daß all dieser Glanz noch immer nicht genügte, um den ganz besonderen dunklen Punkt, den es bei Mrs. Elvira Ellis gab, zu übertünchen.

Etwa um Mitternacht fühlte sich die Frau des Hauses durch ihre Inanspruchnahme plötzlich sehr ermüdet und zog sich für eine Weile in ihre Räume zurück. Man vermißte sie nicht und bemühte sich auch nicht sonderlich, ihrer habhaft zu werden, als man aufbrach. Erst als die letzten Gäste und die Aushilfsdienerschaft das Haus bereits längst verlassen hatten, wurde Mrs. Elvira von ihrer Zofe in einem derart festen Schlafe angetroffen, daß dem Mädchen nichts anderes übrigblieb, als die Herrin selbst auszukleiden und zu Bett zu bringen.

Die erschöpfte Dame schlief bis tief in den nächsten Tag hinein, und erst nach ihrem Erwachen stellte sich heraus, daß man sie, offenbar noch während alle Räume voll Leute gewesen waren, wie einen Christbaum abgeklaubt hatte. Nur die Ringe hatte man ihr belassen, weil es wohl zu zeitraubend gewesen wäre, sie von den fleischigen Fingern zu streifen.

Und während man noch an einen Einzelfall dachte, der vielleicht auf besondere Umstände zurückzuführen war, ereigneten sich bereits in den allernächsten Tagen vier weitere derartige Diebstähle, und es waren auch dabei immer die Gastgeberinnen, die die Opfer wurden; unter ihnen Mrs. Reed, eine junge Witwe aus Australien, die in unmittelbarer Nähe von Mrs. Ellis wohnte und mit dieser auch ziemlich viel verkehrte.

Scotland Yard nahm die Untersuchung dieses förmlichen Raubzuges mit seiner bewährten systematischen Gründlichkeit auf, kam jedoch zu keinem raschen Erfolg, sondern zunächst bloß zu einigen bedeutsamen Feststellungen. Erstens ergab sich, daß bei allen diesen Gelegenheiten fast immer dieselben Gäste anwesend gewesen waren, und zweitens berichteten alle Betroffenen, sie wären blitzartig von einer derartigen Müdigkeit befallen worden, daß sie überhaupt keinen anderen Gedanken hatten, als den, schleunigst ein wenig zur Ruhe zu kommen. Nur so ließ es sich auch erklären, daß die letzten Opfer trotz der früheren Fälle, die ja mit allen ihren Einzelheiten allgemeinen Gesprächsstoff bildeten, sich der Gefahr gar nicht bewußt wurden und daher auch keinerlei Vorsichtsmaßnahmen trafen.

Über diese sonderbaren Schwächeanwandlungen war man sich bereits im klaren, denn bei einer der Frauen konnten noch die Spuren eines Narkotikums nachgewiesen werden, dessen Art die Ärzte und Chemiker allerdings nicht näher zu bestimmen vermochten. Jedenfalls handelte es sich aber offenbar um planmäßig vorbereitete und mit besonderem Raffinement ausgeführte Anschläge, für die das bekannte Verbrechertum kaum in Betracht kam. Auf alle Fälle behielt man jedoch auch dieses und die Hehlerwelt schärfstens im Auge, während man in aller Stille nach einer etwas konkreteren Spur forschte.

Es war dies eine sehr mühevolle und heikle Arbeit, die für die Ungeduld der erregten Öffentlichkeit viel zuviel Zeit in Anspruch nahm.

Ein unangenehmer neuer Chefkonstabler

Knapp vor diesen bewegten Tagen hatte sich auf dem wichtigsten Posten des Yard ein Wechsel vollzogen. Der bisherige Leiter des Criminal Investigation Department hatte sich mit einem schweren Gallenleiden und einem hohen Orden in sein stilles Landhaus in Essex zurückgezogen, und an seine Stelle war Oberst Merewether, ein Außenseiter, berufen worden. Der neue Chefkonstabler kam aus dem Kolonialdienst, und man wußte in London von ihm nur, daß er während der letzten zwei Jahrzehnte in verschiedenen gefährlichen Winkeln des Empires mit eiserner Faust aufgeräumt hatte.

 

Und schon in den ersten Wochen seiner Amtsführung ergab sich, daß der gedrungene Mann mit dem eisgrauen Kopf und dem verwitterten und verkniffenen knochigen Gesicht auch kein sonderlich angenehmer Vorgesetzter war; nicht wegen seiner kurz angebundenen soldatischen Art, der man ja in diesem Dienste öfter begegnete, sondern wegen einer andern Eigenheit: Oberst Merewether hatte ein Schweigen, das die rapportierenden Beamten Blut schwitzen ließ, und ein Lächeln, dessen derjenige, dem es galt, nicht froh werden konnte.

Dieses Schweigen und dieses Lächeln lernten in Kürze alle seine Leute kennen, und nur einer der jüngsten, der Assistent Guy Denby, zeigte sich davon nicht im mindesten beeindruckt. Aber dieser sehr vorteilhaft aussehende Gentleman mit dem schrecklich gelangweilten Gesicht und der ebenso gelangweilten Sprechweise fiel überhaupt in allem aus dem Rahmen des ernsten Backsteinbaues auf dem Victoria Embankment. Er war immer mit einem dandyhaften Einschlag gekleidet, hatte das selbstbewußte Wesen eines großen Herrn, und aus seinem Privatleben wurden Dinge getuschelt, die zu einem Manne vom Yard nicht recht passen wollten. Er entstammte jedoch einer sehr angesehenen Familie und hatte einflußreiche Beziehungen, die es einigermaßen verwunderlich scheinen ließen, daß er gerade auf den Polizeidienst verfallen war. Aber hierfür hatte Denby einem besonders Interessierten einmal eine sehr offenherzige Erklärung gegeben: »Eh, mein Lieber«, hatte er mit einem Achselzucken geäußert: »wenn ich das verwünschte nötige Kleingeld hätte, wäre ich natürlich lieber Botschafter Seiner Großbritannischen Majestät an irgendeinem Hofe geworden, aber Chef Commissioner of the Metropolitan Police ist schließlich auch ein ganz hübscher Titel und ein recht angenehmer Posten.«

Nach dem fünften der rätselhaften Schmuckdiebstähle beorderte Oberst Merewether wieder einmal Inspektor Sharp zu sich, der die Nachforschungen leitete. Sharp galt als einer der tüchtigsten Leute des Yard, war jedoch wegen seiner Verschlossenheit und seines neidischen Wesens wenig beliebt.

»Nun???« fragte der Chefkonstabler, und das Schweigen, das diesem einen Worte folgte, wirkte wie eine Saugpumpe.

Aber der Inspektor, ein Mann in den Vierzigern, gelb, dürr und düster wie ein Fakir, konnte nur krampfhaft mit den Achseln zucken. »Es hat sich auch diesmal kein neuer Anhaltspunkt ergeben, Sir«, brachte er endlich hohl hervor. »Und die Gäste sind alle völlig einwandfrei …«

Das Lächeln brachte ihn zum Verstummen, aber der Oberst hatte schon wieder eine andere Frage.

»Wie ist das mit dem Manne in Soho?«

Inspektor Sharp atmete auf, denn diesmal konnte er eine weniger knappe Auskunft geben. »Natürlich haben wir diesen Roger Meraine ebenfalls unter Überwachung gestellt«, erklärte er eifrig. »Es ist immerhin möglich, daß er bei der Sache die Hände mit im Spiele hat. Er steckt ja mit dem vielen ausländischen Gesindel, das sich in Soho verkrochen hat, unter einer Decke und hat auch zu unseren übelsten Leuten in Whitechapel und Deptford Beziehungen. Und wenn Hogde und seine Kreise mit der Juwelengeschichte auch direkt nichts zu tun haben mögen, so ist ihnen wahrscheinlich wenigstens einiges darüber bekannt. Es dürfte in London in den letzten fünf Jahren überhaupt kaum ein größeres Verbrechen verübt worden sein, von dem dieser Mann nicht mehr oder weniger gewußt hätte. – Aber man kann leider nie an ihn heran …«

»Man kann nicht an ihn heran – so …« wiederholte Oberst Merewether und lächelte wiederum in seiner wenig angenehmen Art. »Womit haben Sie sich übrigens zuletzt beschäftigt, bevor der nette Rummel zur Feier meines Amtsantritts losgegangen ist?«

»Mit den laufenden Fällen, Sir«, stotterte Sharp und schwitzte vor Unbehagen. »Es war aber nichts Besonderes los. – Das heißt, ich habe mich auch für die Kapstädter Sache interessiert. Es werden dort seit längerer Zeit rohe Diamanten gestohlen und außer Land geschmuggelt, und die Kapstädter Polizei vermutet, daß die Steine über London oder Paris nach Antwerpen gehen …«

Diesmal lächelte der Chefkonstabler geradezu beängstigend. »Nun, und sind Sie auf etwas gekommen?«

»Bis jetzt nicht, Sir …«

»Schade. Eben heute ist wieder ein Kabel eingelangt, daß die Prämie auf zehntausend Pfund erhöht wird. – So etwas ist bei unseren Juwelendiebstählen allerdings nicht zu holen – höchstens eine vorzeitige Pensionierung …«

Zu dieser fatalen Bemerkung machte der liebenswürdige Oberst Merewether eine gnädig entlassende Handbewegung, und Inspektor Sharp stolperte auf etwas unsicheren Beinen zur Tür. An der Schwelle wurde er aber noch einmal zurückgehalten.

»Wie ich aus den Akten ersehen habe, haben wir noch einen andern offenen Fall«, sagte der Chefkonstabler. »Die Geschichte mit dem Bankier Hayward …«

Der Inspektor mußte nach dem Schreck, den ihm die Andeutung von vorhin eingejagt hatte, seine Stimme erst wieder in die Gewalt bekommen. »Diese Sache ist wohl als erledigt zu betrachten, Sir«, erklärte er noch um einen Ton hohler als sonst. »Es sind seither bereits vier Monate verstrichen, und der Mann ist offenbar schon irgendwo drüben in Sicherheit. Wahrscheinlich in Bolivien, das nicht ausliefert. Er hatte ja sehr umsichtige Vorbereitungen für seine Flucht getroffen. Schon daß er die sechzigtausend Pfund an einem Samstag behob, hat ihm einen Vorsprung von achtundvierzig Stunden verschafft. – Und er hat vermutlich auch seine Tochter mitgenommen, denn das Mädchen ist fast zur selben Zeit aus einem Schweizer Pensionat spurlos verschwunden. Wenigstens spricht für diese Annahme die Abschrift einer Depesche, die sich in der Akte befindet.«

»So«, sagte Oberst Merewether und lächelte zum größten Unbehagen des Inspektors noch einmal, »das ist was anderes …«

Mrs. Toomer erhält einen neuen Mieter

Mrs. Christina Toomer bewohnte ein kleines Haus bei Leadenhall Market in der City und vermietete je zwei freundliche Stuben im Erdgeschoß und im Oberstock an Leute, die dieser Ehre und dieses Vertrauens würdig waren. Bei Mrs. Toomer wohnen zu dürfen, bedeutete auch wirklich eine Auszeichnung, denn die stattliche Frau war die Witwe eines Sergeanten der erlesenen Whitehall Division des uniformierten Polizeikorps und genoß als solche weit über den Bezirk hinaus großes Ansehen. Dazu trugen allerdings auch ihre persönlichen Eigenschaften bei, denn Mrs. Toomer hätte nicht bloß durch ihre gebieterische Erscheinung, sondern auch durch ihre Tatkraft und ihre strengen Ansichten über Recht und Ordnung selbst einen vorbildlichen Sergeanten abgegeben.

In der letzten Zeit hatte sich in ihrem Hause ein gründlicher Parteienwechsel vollzogen, denn zunächst hatte Mrs. Toomer die Mieterin von oben unter dem Vorwande, daß sie längeren Besuch von Verwandten bekäme, von heute auf morgen vor die Türe gesetzt, und gleich darauf hatte die säuerliche Lehrerin vom Erdgeschoß eine Anstellung in einem anderen Bezirk erhalten. In den Oberstock waren dann tatsächlich zwei junge Mädchen eingezogen, die eben in Finch Lane eine Schreibstube eröffnet hatten. Sie waren beide auffallend hübsch, aber sonst der denkbar größte Gegensatz: Alice Parker schlank und graziös, tiefbrünett, mit sehr feinen, regelmäßigen Zügen und schwermütig blickenden dunklen Augen – Bessie Clayton, eine heranreifende Walküre mit der Frische und Sonne der elterlichen Farm im reizvollen Gesicht und in dem goldig schimmernden Haar. Und wie äußerlich, waren die beiden Mädchen auch in ihrem Wesen grundverschieden: Die eine von fast an Scheu grenzender Zurückhaltung, die andere von ziemlich lauter Lebhaftigkeit, immer guter Laune und nie um ein treffendes Wort verlegen.

Es war mittlerweile bereits März geworden, aber vorläufig kündigte sich der Frühling erst mit Stürmen und Regenschauern an. Dieser Abend war besonders unfreundlich, doch in Mrs. Toomers Eßzimmer herrschte behaglichste Stimmung. Die Hauswirtin studierte eben die Abendzeitungen, um über die Missetaten, die sich wiederum ereignet hatten, und die ihr nun der brave Sergeant Toomer nicht mehr brühwarm rapportieren konnte, auf dem laufenden zu bleiben; Alice Parker saß versonnen über einer Handarbeit, und Bessie Clayton untersuchte mit kritisch verkniffenen Augen eine Einpfundnote, an der ihr irgend etwas nicht zu gefallen schien.

»Das Gekritzel ist nicht zu lesen«, unterbrach sie endlich höchst mißmutig das Schweigen. »Die Banknote scheint längere Zeit im Wasser gelegen zu haben, und es wird uns schwerfallen, sie anzubringen. – Ich hätte dieser alten Teerjacke besser auf die Finger sehen sollen, als sie mir den Schein zusteckte. Aber ich mußte mir fortwährend nur die schreckliche Visage angucken. Der Kerl ist offenbar auf eine Erpressung aus. Er hat sich bei uns einen Brief an jemanden schreiben lassen, daß er ein Notizbuch gefunden hätte, das den andern sicher interessieren werde. Natürlich steckt da eine Lumperei dahinter. Deshalb durften wir wohl auch die Adresse nicht tippen, sondern er wollte bloß einen leeren Briefumschlag. Die Antwort will er ›an den Zimmermann Paddy‹ in eine Schenke im Pool haben …«

Obwohl Mrs. Toomer gerade die wichtige Frage erwog, zu welchem Polizeigericht sie ihre Schritte am nächsten Morgen lenken sollte, hatte sie doch auch für Bessies Bemerkung einiges Interesse übrig.

»Ja, man muß jetzt sehr vorsichtig sein«, äußerte sie mit ihrem tiefen Baß. »Als Sergeant Toomer noch Dienst tat, hat es solche Sachen wie heute nicht gegeben. Und wenn mal so was geschah, hat man die Banditen immer sofort gefaßt. Aber jetzt wird im Westen ein kostbarer Schmuck nach dem andern gestohlen, und vom Fassen ist keine Rede. – Offen gestanden habe ich von unserem neuen Chefkonstabler, von dem es hieß, daß er ein so scharfer Mann sein sollte, mehr erwartet …«

In den ernsten Tadel der enttäuschten Sergeantenwitwe klang der Türklopfer, und die Hauswirtin erhob sich. »Es wird vielleicht wegen der Zimmer unten sein«, sagte sie. »Ich habe beim Kolonialwarenhändler und im Milchgeschäft hinterlassen, wenn jemand, der in mein Haus paßt, Wohnung sucht, möge man ihn mir schicken …«

Damit machte sie sich mit wuchtigen Schritten auf den Weg, und die besorgte Bessie tuschelte ihr rasch noch ein kleines Anliegen nach.

»Bitte, liebe Mrs. Toomer, wenn es wieder eine ältere Dame sein sollte, fragen Sie sie nach ihren Leibspeisen. Bei Miß Druce hat es im ganzen Hause immer schrecklich nach altem Käse und Zwiebeln gerochen …«

Unten im Flur brannte bloß eine kleine Deckenlampe, und als die Frau die letzte Treppenstufe passierte, tat sie einen raschen Griff in eine Nische, wo der Gummiknüppel des verewigten Sergeanten seinen Ehrenplatz gefunden hatte.

»Wer ist draußen?« fragte sie dann, indem sie das fleischige Ohr lauschend an die Haustür legte, und ihr bedrohliches Organ machte eigentlich jede weitere Vorsichtsmaßnahme überflüssig.

Von draußen kam halblaut eine hastige Antwort, die Mrs. Toomer plötzlich höchst aufgeregt werden ließ.

»Wer???« flüsterte sie offenbar ungläubig zurück, aber dann flog auch schon der Gummiknüppel in die nächste Ecke, und die Frau hantierte blitzschnell an Riegel und Vorlegkette.

Über die Schwelle trat ein Mann in einem triefenden Regenmantel, und mit ihm schob sich ein patschnasser großer Hund herein.

Die Sergeantenwitwe hatte kugelrunde Augen, und um ihren herben Mund zuckte es. »Wahrhaftig …« schnappte sie freudig, kaum daß sie einen raschen Blick auf das schmale, dunkle Gesicht unter der schlappen Hutkrempe geworfen hatte. »Nein – so was … – Das hätte ich mir nie träumen lassen, Sir. – Fanny hat mir doch erst unlängst geschrieben, daß Sie …«

Der Besucher legte rasch einen Finger an den Mund, und Mrs. Toomer hätte nicht Sergeantenwitwe sein dürfen, um dieses Zeichen nicht sofort zu kapieren. Sie nickte lebhaft und riß auch schon die Tür zu den unteren Stuben einladend auf, obwohl sie sonst keinen Kaiser und keinen König in diesem Zustande in ihre peinlich sauberen Zimmer gelassen hätte.

Noch dazu mit einem pudelnassen Hund …

Die Verhandlungen unten dauerten so lange, daß die lebhafte Bessie Clayton, die immer wieder nach dem nicht sonderlich schalldichten Fußboden lauschte, bereits ungeduldig wurde.

»Nach der Stimme ist es ein Mann«, flüsterte sie der völlig teilnahmslosen Alice zu. »Vielleicht bekommen wir also diesmal einen Hausgenossen. – Wenn er nett ist, hätte ich gar nichts dagegen. Eine Bude mit Witwen, alten Jungfern und solchen, die es wahrscheinlich einmal werden, ist schrecklich langweilig.« Sie neigte wiederum für eine Weile das Ohr, dann nickte sie plötzlich befriedigt. »Ich glaube, sie sind schon einig. Mrs. Toomer schneuzt sehr heftig. Wahrscheinlich erzählt sie ihm bereits von dem verewigten Sergeanten …«

 

Die Hauswirtin handhabte unten ihr Taschentuch tatsächlich sehr geräuschvoll, aber es ging nicht um den verewigten Sergeanten Toomer.

»Vielleicht ist das eine Fügung Gottes«, schluckte sie. »Ich weiß ja nicht, was ich tun soll. – Und es drückt mir das Herz ab, den Jammer mit ansehen zu müssen und nicht helfen zu können.«

»Das gewisse Wort ist also noch nicht erschienen?« fragte der Besucher, der ihrem bewegten Redestrom mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt war.

»Nein – das ist es ja eben. Er hat sich bis heute nicht gerührt, und sie wird mir sicher noch krank von diesem ewigen aufgeregten Warten. – Ich kann das alles nicht verstehen …«

Es währte noch eine weitere gute halbe Stunde, bis unten endlich die Tür ins Schloß fiel und die Hauswirtin mit roter Nase und zwinkernden Augen wie der im Eßzimmer auftauchte.

»Ich habe einen neuen Mieter aufgenommen«, sagte sie so beiläufig, nachdem sie sich gründlich geräuspert hatte.

»Wie sieht er aus?« erkundigte sich Bessie mit reger Wißbegierde, aber Mrs. Toomer schien die dringliche Frage überhört zu haben, weil sie eben wieder heftig in ihr Taschentuch trompetete. Aber dann gab sie plötzlich doch so etwas wie eine Antwort.

»Man darf bei diesem schrecklichen Wetter nicht die Nase vor die Tür stecken, ohne gleich etwas abzubekommen«, stellte sie zunächst mürrisch fest und fügte dann völlig geistesabwesend hinzu: »Ja – also – er ist groß – ich glaube grau und sieht aus wie ein richtiger Wolf. Und am liebsten hat er getrocknete Fische …«

»Getrocknete Fische – du guter Gott …« murmelte Bessie mit starren Augen. »Da war vielleicht die Lehrerin mit ihrem Käse und ihren Zwiebeln doch noch angenehmer …«