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Anna Karenina, 2. Band

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„So fahre also zu den Bolj,“ sagte Kity zu ihrem Gatten, als dieser um elf Uhr, bevor er von Hause wegfuhr, zu ihr kam. „Ich weiß, daß du im Klub essen wirst, Papa hat dich eingeschrieben. Was machst du denn aber den Vormittag?“

„Ich will nur zu Katawasoff,“ antwortete Lewin.

„Weshalb so früh?“

„Er hat mir versprochen, mich mit Metroff bekannt zu machen. Ich will mit diesem über mein Werk sprechen; er ist ein bekannter Gelehrter in Petersburg,“ sagte Lewin.

„Ach, derselbe, dessen Abhandlung du so lobtest? Nun, und dann?“ sagte Kity.

„Will ich, vielleicht, noch aufs Gericht, in Sachen meiner Schwester.“

„Und ins Konzert?“ frug sie.

„Was soll ich allein dorthin!“

„Nein, fahre nur; dort hat man jetzt Novitäten. Sie interessierten dich doch so. Ich würde sicher hinfahren.“

„Nun, jedenfalls komme ich vor dem Essen nach Haus,“ sagte er, nach der Uhr blickend.

„Zieh deinen Gesellschaftsrock an, damit du direkt zur Gräfin Bolj fahren kannst.“

„Ist denn das so unbedingt notwendig?“

„Unbedingt! Er ist bei uns gewesen. Und was kostet es dich? Du fährst hin, setzest dich, sprichst fünf Minuten über das Wetter, stehst wieder auf und fährst fort.“

„Du glaubst nicht; ich bin dessen so entwöhnt, daß mir selbst dies schwer wird. Wie wird man es aufnehmen? Kommt da ein fremder Mensch zu ihnen, setzt sich, bleibt ohne jeden Grund länger sitzen, stört die Familie, bringt sich aus der Stimmung, und geht dann wieder!“ —

Kity lachte.

„Aber du hast doch als Junggeselle noch Visiten gemacht?“ sagte sie.

„Allerdings; es ist mir aber stets unangenehm gewesen; jetzt bin ich so davon entwöhnt, daß ich, bei Gott, lieber zwei Tage nicht essen will, als diese Visite machen. So schwer fällt sie mir. Mir scheint stets, als ob man verletzt sei und sagen wolle: ‚Weshalb bist du denn eigentlich ohne Grund hierhergekommen?‘“ —

„O nein; man fühlt sich nicht verletzt. Dafür bürge ich dir schon,“ sagte Kity, ihm lachend ins Gesicht schauend. Sie nahm seine Hand, „nun leb' wohl – fahre hin, ich bitte dich.“ Er wollte schon gehen, nachdem er ihre Hand geküßt hatte, als sie ihn zurückhielt. „Mein Kostja, du weißt wohl, daß ich nur noch fünfzig Rubel habe?“

„Nun, dann will ich zur Bank fahren, um dort Geld zu erheben. Wieviel brauchst du denn?“ sagte er mit einem ihr bekannten Ausdruck von Mißvergnügen.

„Nein doch; warte.“ Sie hielt ihn an der Hand zurück. „Sprechen wir darüber; dies beunruhigt mich. Ich, glaube doch, gebe nichts Überflüssiges aus, und doch geht das Geld nur so dahin. Wir machen Etwas nicht richtig.“

„Keineswegs,“ sagte er, sich räuspernd und von unten her auf sie blickend. Dieses Räuspern kannte sie. Es war das Zeichen hoher Unzufriedenheit bei ihm, nicht über sie, sondern über sich selbst. Er war in der That unzufrieden, doch nicht darüber, daß viel Geld gebraucht wurde, sondern daß man ihn an das erinnerte, was er in der Erkenntnis, daß Etwas nicht in Ordnung sei, zu vergessen wünschte. „Ich habe Sokoloff befohlen, den Weizen zu verkaufen und das Geld für die Mühle im voraus in Empfang zu nehmen. Geld wird jedenfalls kommen.“

„Ja, aber ich fürchte, daß überhaupt viel“ —

„Keineswegs, keineswegs,“ wiederholte er – „doch leb' wohl jetzt, Herzchen.“

„Nicht doch; ich beklage es bisweilen, daß ich auf Mama gehört habe. Wie hübsch wäre es auf dem Dorfe gewesen! Und überdies quäle ich euch alle noch und wir verschwenden Geld“ —

„Durchaus nicht, durchaus nicht. Es ist noch nicht ein einziges Mal, seit ich verheiratet bin, der Fall gewesen, daß ich gesagt hätte, es wäre anders besser, als so, wie es eben ist“ —

„Ist das wahr?“ sagte sie, ihm in die Augen blickend.

Er sprach dies, ohne etwas dabei zu denken, und nur um sie zu beruhigen. Als er aber, sie anblickend, bemerkte, daß diese ehrlichen, lieben Augen fragend auf ihn gerichtet waren, da wiederholte er das Nämliche aus ganzer Seele. „Ich vergesse sie in der That,“ dachte er, und rief sich in das Gedächtnis zurück, was sie beide so bald erwartete.

„Wird es denn bald? Wie fühlst du dich?“ flüsterte er, sie bei beiden Händen nehmend.

„Ich habe schon sovielmal daran gedacht, daß ich jetzt nichts mehr denke und nichts weiß.“

„Hast du nicht Angst?“

Sie lächelte geringschätzig.

„Nicht die Idee,“ sagte sie.

„Wenn also Etwas vorkommen sollte, ich bin bei Katawasoff.“

„Nein; es wird nichts vorkommen; denke auch du nicht daran. Ich werde mit Papa auf den Boulevard fahren; wir wollen zu Dolly; vor dem Essen erwarte ich dich. – Ach ja! Du weißt wohl, daß die Lage Dollys entschieden unhaltbar wird? Sie ist über und über verschuldet, und Geld hat sie nicht. Ich habe gestern mit Mama und mit Arseniy,“ – so nannte sie den Gatten ihrer Schwester, der Lwowa – „gesprochen, und wir haben beschlossen, dich und ihn zu Stefan zu schicken. So ist es entschieden nicht mehr möglich. Mit Papa läßt sich darüber nicht sprechen, doch wenn ihr beide“ —

„Aber was können wir thun?“ frug Lewin.

„Du wirst doch wohl zu Arseniy gehen, sprich mit ihm; er wird dir sagen, was wir beschlossen haben.“

„Nun, mit Arseniy bin ich im voraus in allem einverstanden. Ich werde also zu ihm fahren. Sollten sie gerade ins Konzert gehen, so werde ich auch mit Nataly dorthin fahren. Jetzt leb' wohl.“

Auf der Treppe hielt Lewin der alte, noch unverheiratet lebende Diener Kusma zurück, welcher den Haushalt in der Stadt verwaltete.

„Der Krasavtschik,“ dies war das Handpferd, welches mit vom Lande hereingebracht worden war, „ist beschlagen worden, er hinkt aber immer noch,“ berichtete er, „was befehlt ihr nun?“

In der ersten Zeit des Aufenthalts in Moskau hatten Lewin die vom Land mit hereingebrachten Pferde beschäftigt; er hatte sich auf diesem Gebiet so gut und billig wie möglich einrichten wollen, allein es stellte sich heraus, daß ihm seine Pferde teurer wurden, als die der Mietkutscher, und Mietkutscher nahm man noch obendrein.

„Laß ihn zum Roßarzt bringen, vielleicht ist eine Quetschung vorhanden.“

„Nun, und für den Wagen Katharina Aleksandrownas?“ frug Kusma.

Lewin wunderte sich jetzt nicht mehr, wie während der ersten Zeit seines Lebens in Moskau, daß zur Fahrt von der Wosdwishenka nach den Siwzij Wrashki ein Paar starker Pferde in den schweren Wagen hatten gespannt werden müssen, um diesen durch den kotigen Schnee ein viertel Werst weit zu bringen, worauf sie vier Stunden standen und daß er dafür fünf Rubel zahlte. Jetzt erschien ihm das schon natürlich.

„Laß den Mietkutscher ein Paar Pferde für unseren Wagen bringen,“ sagte er.

„Zu Diensten.“

Nachdem Lewin auf diese Weise, dank den Verhältnissen der Stadt, einfach und leicht eine Schwierigkeit geordnet hatte, welche auf dem Lande soviel überflüssige Mühe und Aufmerksamkeit erfordert hätte, ging er zur Freitreppe hinaus und rief einen Mietkutscher; setzte sich in den Wagen und fuhr nach der Nikitskaja. Unterwegs dachte er nicht mehr an Geld, sondern überlegte, wie er sich mit dem Petersburger Gelehrten, der sich mit Socialwissenschaft beschäftigte, bekannt machen und mit ihm über sein Buch sprechen wollte.

Nur in der allerersten Zeit hatten Lewin in Moskau jene, dem Landbewohner befremdlichen, eiteln und doch unvermeidlichen Geldausgaben überrascht, die von allen Seiten von ihm gefordert wurden. Jetzt hatte er sich jedoch schon an sie gewöhnt. Es ging ihm in dieser Beziehung so, wie es dem Trinker gehen soll: das erste Glas ging schwer, das zweite leichter – nach dem dritten aber ging es wie im Vogelschwarm.

Als Lewin das erste Hundertrubelpapier zum Ankauf der Livree eines Dieners und eines Portiers wechselte, stellte er sich unwillkürlich vor, daß diese Livreen, die niemand etwas nützten, doch unumgänglich erforderlich waren, darnach zu urteilen, wie sich die Fürstin und Kity verwunderten bei der Andeutung, man könne auch ohne Livree auskommen – daß diese Livreen ihm zwei Sommerarbeiter, das heißt, einige dreihundert Arbeitstage von der Osterwoche bis zu Fastnachten kosteten, von denen jeder voll schwerer Arbeit vom frühen Morgen bis zum späten Abend war – und dieses Hundertrubelpapier ging ihm noch schwer vom Herzen. Das folgende indessen, zum Einkauf von Lebensmitteln zu einem Essen das er seinen Verwandten gab, das ihn auf achtundzwanzig Rubel kam, ging, obwohl es in Lewin die Erinnerung daran wachrief, daß achtundzwanzig Rubel doch neun Tschetwert Hafer waren, welcher unter Schweiß und Stöhnen gemäht, gebunden, gedroschen, geworfelt, wieder ausgesät oder aufgeschüttet wurde, schon leichter fort. Jetzt aber riefen die gewechselten Scheine schon gar nicht mehr derartige Erwägungen hervor, sondern flogen wie kleine Vögel davon. Ob die Mühe, welche auf die Erwerbung des Geldes verwendet worden war, dem Vergnügen, welches der dafür erkaufte Gegenstand gewährte, wirklich entsprach, diese Erwägung war schon lange verloren gegangen. Die wirtschaftliche Erwägung, daß es einen bestimmten Preis giebt, unter welchem man das Getreide nicht verkaufen kann, war gleichfalls vergessen. Das Getreide, auf dessen Preis er so lange gehalten hatte, wurde für fünfzig Kopeken der Tschetwert billiger verkauft, als man einen Monat vorher dafür gegeben hatte. Selbst die Erwägung, daß man bei derartigen Ausgaben unmöglich ein ganzes Jahr leben könne, ohne Schulden zu machen, selbst diese Erwägung hatte keine Bedeutung mehr für ihn. Nur Eines war nötig; man mußte Geld auf der Bank haben, ohne daß gefragt wurde, woher es kam, sodaß man stets wußte, wofür man den nächsten Tag das Rindfleisch kaufen könnte.

Er hatte nunmehr auch dies bei sich beobachtet: Stets hatte bei ihm Geld in der Bank gelegen. Jetzt aber war es dort ausgegangen und er wußte nicht recht, woher nun welches nehmen. Und dies versetzte ihn, als Kity mit ihm über das Geld sprach, einen Augenblick in Verlegenheit. Dabei aber hatte er auch keine Zeit, darüber nachzudenken.

 

Er fuhr dahin, an Katawasoff und die bevorstehende Bekanntschaft mit Metroff denkend.

3

Lewin war mit seiner Ankunft hier wiederum eng mit seinem ehemaligen Universitätsfreunde, dem Professor Katawasoff in Verkehr getreten, den er seit der Zeit seiner Verheiratung nicht wieder gesehen hatte.

Katawasoff war ihm angenehm durch die Klarheit und Einfachheit seiner Weltanschauung. Lewin glaubte, daß die Klarheit dieser Weltanschauung Katawasoffs aus der Armut von dessen Natur hervorgegangen sei, Katawasoff hingegen meinte, daß die Inkonsequenz in der Denkweise Lewins aus dem Mangel an geistiger Disciplin bei diesem hervorgehe; aber die Klarheit Katawasoffs war Lewin willkommen, und der Überfluß der undisciplinierten Gedanken Lewins war Katawasoff lieb; sie trafen sich gern und debattierten dann.

Lewin las Katawasoff einige Stellen aus seinem Werke vor und sie gefielen diesem. Als gestern Katawasoff Lewin im Kolleg getroffen hatte, hatte er zu ihm gesagt, daß der bekannte Metroff, dessen Abhandlung Lewin so gut gefallen hatte, sich in Moskau befinde, und sehr interessiert sei von dem, was ihm Katawasoff über die Arbeit Lewins mitgeteilt hatte, daß Metroff morgen, um elf Uhr bei ihm, und sehr erfreut sein würde, mit ihm bekannt zu werden.

„Ihr lernt entschieden immer besser aussehen, Verehrtester; es macht einem Freude, Euch zu sehen,“ sagte Katawasoff, Lewin im kleinen Salon entgegentretend. „Ich hörte die Glocke und dachte, nicht möglich, daß er zur rechten Zeit käme – nun, wie steht es mit den Tschernagorzen? Nach der Art des Krieges“ —

„Nun?“ frug Lewin.

Katawasoff teilte ihm in kurzen Worten die letzte Nachricht mit und machte Lewin, in das Kabinett eintretend, mit einem kleinen, feisten Manne von sehr angenehmem Äußern bekannt. Dies war Metroff.

Das Gespräch drehte sich kurze Zeit um Politik, und darum, wie man in den höchsten Sphären Petersburgs die jüngsten Ereignisse betrachte.

Metroff teilte ihm aus zuverlässiger Quelle bekannte Worte mit, die bei dieser Gelegenheit vom Zaren und einem der Minister geäußert worden sein sollten.

Katawasoff hatte auch als verbürgt erfahren, daß der Zar etwas ganz anderes gesagt habe. Lewin bemühte sich, eine Situation herauszuklügeln, nach welcher diese wie jene Worte gesagt worden sein konnten, und das Gespräch über den Gegenstand wurde abgebrochen.

„Der Herr hat auch ein Buch bald fertig geschrieben über die natürlichen Verhältnisse des Arbeiters in Bezug auf den Boden,“ sagte Katawasoff, „ich bin zwar nicht Spezialist, doch hat es mir als Naturwissenschaftler gefallen, daß er die Menschheit nicht als etwas außerhalb der zoologischen Gesetze stehendes auffaßt, sondern im Gegenteil die Abhängigkeit derselben von ihrer Umgebung erkennt und in dieser Abhängigkeit die Gesetze ihrer Entwicklung erforscht.“

„Das ist sehr interessant,“ sagte Metroff.

„Ich habe eigentlich nur ein Buch über die Landwirtschaft zu schreiben begonnen, bin aber unwillkürlich, indem ich mich mit dem wichtigsten Instrument der Landwirtschaft, dem Arbeiter, beschäftigte,“ sagte Lewin errötend, „zu vollständig unerwarteten Resultaten gekommen.“

Und Lewin begann nun vorsichtig, als taste er nach Boden, seine Anschauung darzulegen.

Er wußte, daß Metroff eine Abhandlung gegen die allgemein herrschende politisch-ökonomische Wissenschaft geschrieben hatte, wußte aber nicht, bis zu welchem Grade er hoffen konnte, auf Teilnahme für seine neuen Anschauungen bei ihm zu stoßen, und konnte dies auch nicht an dem klugen und ruhigen Gesicht des Gelehrten erraten.

„Aber worin seht Ihr die besonderen Eigenschaften des russischen Arbeiters?“ sagte Metroff, „in seinen zoologischen Eigenschaften, sozusagen, oder in den Verhältnissen, in denen er sich befindet?“

Lewin sah, daß in dieser Frage schon ein Gedanke ausgesprochen war, mit welchem er nicht in Einklang stand, doch fuhr er fort, seine Idee zu entwickeln, welche darin bestand, daß der russische Arbeiter einen im Vergleich zu dem der Arbeiter anderer Völker vollkommen eigenartigen Blick für sein Land besitze, und beeilte sich, um seine Behauptung zu stützen, hinzuzufügen, daß nach seiner Meinung, dieser Blick des russischen Volkes herrühre aus dem Bewußtsein seines Berufes, die ungeheuren, noch unbebauten Gegenden im Osten bevölkern zu müssen.

„Es ist leicht möglich, in einen Irrtum zu verfallen, wenn man einen Schluß auf die allgemeine Bestimmung eines Volkes macht,“ sagte Metroff, Lewin unterbrechend. „Die Lage des Arbeiters wird stets von dessen Beziehungen zu Boden und Kapital abhängen.“

Ohne Lewin noch zu gestatten, seine Idee ganz auszusprechen, begann nun Metroff, ihm die Eigenart seiner Lehre zu erklären. Worin die Eigenart dieser Lehre bestand, begriff Lewin nicht, weil er sich gar nicht bemühte, sie zu begreifen; er sah, daß Metroff, ebenso wie die anderen, trotz seiner Abhandlung, in welcher die Wissenschaft der Nationalökonomen gestürzt wurde, auf die Situation des russischen Arbeiters doch nur vom Gesichtspunkt des Kapitals des Arbeiterlohnes und der Rente blickte.

Obwohl er nun zugestehen mußte, daß in dem östlichen, dem größten Teile Rußlands, die Rente noch gleich Null war, daß der Arbeitslohn für neun Zehntel der achtzig Millionen Einwohner nur die Ernährung in sich selbst ausdrückte, und ein Kapital noch nicht anders vorhanden sei, als in Gestalt von primitivsten Hilfsmitteln, so blickte er doch lediglich von diesem Standpunkte aus auf die gesamten Arbeiter, obwohl er in vielem gleichwohl nicht mit den Nationalökonomen übereinstimmte, und hielt seine neue Theorie vom Arbeitslohn aufrecht, welche er Lewin entwickelte.

Dieser hörte nur ungern zu und opponierte anfangs. Er wollte Metroff unterbrechen, um ihm seine Idee zu äußern, die nach seiner Meinung eine weitere Erklärung überflüssig machte, aber nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie beide in so verschiedenem Grade die Sache betrachteten, daß niemals Einer den Anderen verstehen würde, opponierte er nicht mehr, und hörte nur noch zu.

Ungeachtet dessen, das für ihn jetzt schon gar nicht mehr interessant war, was Metroff sprach, verspürte er doch ein gewisses Vergnügen, indem er ihm zuhörte. Seiner Eigenliebe wurde dadurch geschmeichelt, daß ihm ein so gelehrter Mann so gern, mit so großer Aufmerksamkeit und solchem Zutrauen zu seiner Kenntnis über den Gegenstand, bisweilen mit einem einzigen Wink auf eine ganze Seite der Sache deutend, seine Gedanken aussprach.

Er schrieb dies seiner Würde zu, ohne zu wissen, daß Metroff in der Unterhaltung mit allen seinen Bekannten besonders gern von jenem Gegenstande mit jedem Menschen, der ihm neu bekannt wurde, sprach; daß er überhaupt gern mit jedermann über eine Sache, die ihn beschäftigte und ihm selbst noch unklar war, redete.

„Doch ich werde mich verspätigen,“ sagte Katawasoff, nach der Uhr blickend, nachdem Metroff seine Darlegung soeben beendet hatte. „Ja, es ist heute Sitzung in der Gesellschaft der Freunde zum Gedächtnis des fünfzigjährigen Jubiläums Swintitschs,“ antwortete er auf Lewins Frage. „Ich habe mich an Peter Iwanowitsch gemacht, und habe versprochen, über seine Arbeiten in der Zoologie zu lesen. Kommt mit mir, es ist sehr interessant.“

„In der That, es ist Zeit,“ sagte Metroff. „Kommt mit uns, und, wenn Ihr wollt, von da aus, mit zu mir. Ich wünschte sehr, von Eurer Arbeit weiter zu hören.“

„Nein; das wird nicht gehen; sie ist noch unvollendet. Aber in die Sitzung komme ich sehr gern mit.“

„Wie, Verehrtester, habt Ihr gehört? Er gab eine ganz eigene Meinung zum besten,“ sagte Katawasoff, im Nebenzimmer den Frack anlegend.

Es begann ein Gespräch über die Universitätsfrage. Die Universitätsfrage bildete einen sehr wichtigen Gegenstand während dieses Winters in Moskau. Drei alte Professoren im Senat hatten die Meinungen jüngerer nicht acceptiert; und diese vertraten nun eine eigene Ansicht.

Diese Ansicht war entsetzlich nach dem Urteile der Einen, sie war sehr einfach und richtig nach dem der Anderen, und die Professoren hatten sich in zwei Lager gespalten.

Die Einen, zu denen Katawasoff gehörte, sahen auf der gegnerischen Seite niedrige Verleumdung und Betrug; die Anderen Kinderei und Mißachtung der Autorität.

Lewin hatte, obwohl er dem Universitätsverband nicht angehörte, schon mehrmals während seines Aufenthalts in Moskau von dieser Angelegenheit gehört und darüber gesprochen, und sich in dieser Beziehung seine eigene Meinung gebildet. Er nahm Teil an dem Gespräch, welches noch auf der Straße fortgesetzt wurde, als alle drei nach dem Gebäude der alten Universität gingen.

Die Sitzung hatte schon begonnen. An einem Tische, welcher mit Tuch gedeckt war und hinter dem sich Katawasoff und Metroff niederließen, saßen sechs Herren, und einer von ihnen, der sich dicht über eine Handschrift beugte, las etwas.

Lewin setzte sich auf einen der leeren Stühle, welche um den Tisch herum standen, und frug flüsternd einen dort sitzenden Studenten, was man lese.

Mit einem mißvergnügten Blick auf Lewin antwortete dieser:

„Eine Biographie ist es.“

Obwohl sich nun Lewin für die Biographie eines Gelehrten gerade nicht interessierte, hörte er doch unwillkürlich zu und erfuhr so manches Interessante und Neue über das Leben des berühmten Gelehrten.

Als der Lektor geendet hatte, dankte ihm der Vorsitzende und las die ihm für das Jubiläum eingesandten Verse des Dichters Ment vor, nebst einigen Worten des Dankes für diesen.

Darauf las Katawasoff mit seiner lauten, schreienden Stimme seine Schrift über die Gelehrtenthätigkeit des Jubilars.

Nachdem Katawasoff geendet hatte, blickte Lewin auf die Uhr und gewahrte, daß es schon zwei Uhr sei; er überlegte, daß er bis zum Konzert Metroff sein Werk nicht werde vorlesen können, und verspürte dazu auch gar keine Lust.

Während der Zeit des Lesens hatte er nur an die stattgehabte Unterredung gedacht, und es war ihm jetzt klar, daß, obwohl vielleicht auch die Ideen Metroffs ihre Bedeutung hatten, seine Ideen doch ebenfalls eine solche besaßen, und aufklären und zu Etwas führen könnten, wofern nur ein jeder für sich auf dem auserwählten Wege arbeite, während aus einer Veränderung dieser beiden Ideen nichts hervorgehen könne.

Nachdem sich Lewin entschlossen hatte, die Einladung Metroffs abzulehnen, begab er sich beim Schluß der Sitzung zu diesem hin. Metroff machte Lewin mit dem Präsidenten bekannt, mit welchem er über politische Neuigkeiten sprach. Hierbei erzählte Metroff dem Präsidenten das Nämliche, was er Lewin erzählt hatte, während Lewin die gleichen Bemerkungen machte, die er schon heute Vormittag geäußert hatte; zur Abwechslung indessen sprach er auch seine eigene Meinung mit aus, die ihm gerade einfiel. Hierauf begann wiederum das Gespräch über die Universitätsfrage. Da Lewin indessen alles das schon gehört hatte, beeilte er sich, Metroff zu sagen, er bedaure, von seiner Einladung nicht Gebrauch machen zu können, empfahl sich und fuhr zu Lwoff.