Free

Anna Karenina, 2. Band

Text
Mark as finished
Font:Smaller АаLarger Aa

23

Dolly wollte sich bereits niederlegen, als Anna im Nachtkostüm bei ihr eintrat.

Im Laufe des Tages hatte diese mehrmals Gespräche über Herzensangelegenheiten begonnen, aber stets, nachdem sie einige Worte gesprochen, wieder inne gehalten. „Später, allein unter uns, wollen wir alles besprechen. Ich habe dir soviel zu sagen,“ hatte sie geäußert.

Jetzt waren sie allein, doch Anna wußte nicht, wovon sie sprechen sollte. Sie saß am Fenster, auf Dolly blickend, fand aber, in ihrem Geiste all den unerschöpflich scheinenden Stoff zu ihren Gesprächen über Geistiges durchmusternd, nichts.

Es schien ihr in dieser Minute, als ob alles schon gesagt wäre.

„Was macht denn Kity?“ sagte sie, schwer aufseufzend und im Gefühl einer Schuld Dolly anblickend. „Sag' mir die Wahrheit, Dolly, zürnt sie mir nicht?“

„Sie zürnen? Nein“ – sagte Darja Aleksandrowna lächelnd.

„Aber sie haßt, verachtet mich?“

„O nein; doch du weißt ja, Eines läßt sich nicht vergeben.“

„Ja, ja,“ sagte Anna, sich abwendend und durch das geöffnete Fenster schauend. „Aber ich war nicht schuld! Wer war denn schuld? Was heißt denn schuldig? Konnte es anders kommen? Wie denkst du darüber? Wäre es möglich gewesen, daß du nicht die Frau Stefans wurdest?“

„Wahrhaftig; ich weiß nicht. Aber sage du mir doch das?“

„Ja, ja, wir waren indessen noch nicht mit Kity fertig. Ist sie glücklich? Er ist ein schöner Mann, wie man sagt.“

„Das will wenig sagen, daß er schön ist. Ich kenne aber keinen besseren Menschen.“

„Ach, wie froh bin ich! Ich bin sehr froh! Es will wenig sagen, daß er ein schöner Mann ist,“ wiederholte sie.

Dolly lächelte.

„Erzähle mir doch etwas von dir selbst! Wir haben uns so viel zu erzählen. Ich sprach auch mit“ – Dolly wußte nicht, wie sie ihn nennen sollte; es war ihr peinlich, ihn Graf oder Aleksey Kyrillowitsch zu nennen.

„Mit Aleksey“ – sagte Anna, „ich weiß, daß Ihr miteinander gesprochen habt. Aber ich wollte dich offen fragen, was du von mir, über mein Leben denkst?“

„Wie kann ich das so plötzlich sagen? Ich weiß es wahrhaftig nicht.“

„Nein, nein, du mußt es mir dennoch sagen. Du siehst ja mein Leben. Doch vergiß nicht, daß du uns im Sommer siehst, wo du gekommen bist, und wir nicht allein sind. Wir aber kamen zeitig im Frühjahr hierher und haben vollständig einsam gelebt, und werden auch einsam weiter leben; etwas Besseres wünsche ich gar nicht. Stelle dir aber auch vor, daß ich allein lebte, ohne ihn; und dies wird kommen. An allem sehe ich, daß dies sich oft wiederholen wird, daß er die Hälfte seiner Zeit außerhalb des Hauses zubringen wird,“ sprach sie, aufstehend und sich näher zu Dolly setzend.

„Natürlich,“ unterbrach sie Dolly, welche ihr entgegnen wollte, „natürlich mit Gewalt werde ich ihn nicht zurückhalten! Ich halte ihn gar nicht! Jetzt sind die Rennen; seine Pferde laufen; er reitet mit. Ich freue mich sehr darüber. Aber was denkst du über mich, stelle dir meine Lage vor. Was soll man dazu sagen?“ Sie lächelte. „Wovon hat er denn mit dir gesprochen?“

„Er sprach über das, wovon ich selbst sprechen will und ich kann leicht sein Anwalt sein. Er sprach davon, ob keine Möglichkeit vorhanden sei, und es nicht gehe, daß“ – Darja Aleksandrowna stockte, „man deine Lage verbessern könnte. Du weißt, wie ich sie betrachte. Aber gleichwohl, wenn möglich, muß geheiratet werden“ —

„Das heißt, eine Ehescheidung!“ sagte Anna, „weißt du, daß das einzige Weib, welches in Petersburg zu mir gekommen ist, Betsy Twerskaja gewesen ist? Du kennst sie ja? Au fond c'est la femme la plus dépravée qui existe. Sie stand in einem Verhältnis zu Tuschkjewitsch, in der schmählichsten Weise ihren Mann hintergehend. Diese nun sagte mir, daß sie mich nicht mehr kennen wollte, so lange mein Verhältnis ein illegales bleibe. Denke nicht etwa, daß ich Vergleiche anstellte. Ich kenne dich, mein Herz, doch ich denke unwillkürlich an sie. Was hat dir denn Aleksey gesagt?“ wiederholte sie.

„Er hat mir gesagt, daß er leide, deinetwegen und seinetwegen. Vielleicht wirst du sagen, das sei Egoismus, aber es ist ein so begründeter und edler Egoismus! Er wünscht zunächst seine Tochter legitim zu machen und dein Gatte zu werden; ein Recht auf dich zu erhalten.“

„Welche Frau, welche Magd kann bis zu solchem Grade Sklavin werden, als ich es bin in meiner Lage!“ unterbrach Anna düster.

„Das Hauptsächlichste was er wünscht – er will, daß du nicht mehr leiden sollst.“

„Das ist unmöglich! Und weiter?“

„Nun, und das Loyalste – er will, daß eure Kinder einen Namen haben.“

„Welche Kinder denn?“ sagte Anna, ohne Dolly anzublicken und mit den Augen zwinkernd.

„Any und die Künftigen“ —

„Daraufhin kann er ruhig sein; ich werde keine Kinder mehr bekommen!“

„Wie darfst du sagen, daß dies nicht mehr der Fall sein könnte?“

„Deshalb nicht, weil ich es nicht will!“

Trotz ihrer hohen Erregung lächelte Anna, als sie den naiven Ausdruck von Neugier, Erstaunen und Schrecken auf Dollys Gesicht bemerkte.

„Der Arzt hat mir nach meiner Krankheit gesagt, daß“ – — – — —

„Nicht möglich!“ sagte Dolly, die Augen weit aufreißend. Für sie war dies eine jener Offenbarungen, deren Folgerungen und Ausführungen so ungeheuer sind, daß man in der ersten Minute nur fühlt, man könne sich das Ganze nicht vorstellen, werde aber noch viel darüber nachzudenken haben.

Diese Eröffnung, welche ihr plötzlich über alle jene früher für sie unbegreiflich gewesenen Familien, die nur ein oder zwei Kinder hatten, eine Erklärung gab, rief in ihr soviel Gedanken, Phantasieen und widerstreitende Empfindungen wach, daß sie nichts zu sagen wußte und nur mit weit geöffneten Augen erstaunt auf Anna schaute. Das war das Nämliche, wovon sie wohl schon geträumt hatte; aber jetzt, als sie kennen gelernt, daß es möglich sei, erschrak sie. Sie fühlte, daß dies die nur allzu einfache Lösung einer zu verwickelten Frage war.

N'est ce pas immoral!“ sagte sie nur nach einigem Schweigen.

„Inwiefern? Bedenke: Ich habe die Wahl zwischen zwei Dingen. Entweder schwanger zu sein, das heißt krank, oder der Freund und Kamerad meines Gatten zu sein, ganz wie ein Mann,“ sprach Anna in hochfahrendem und leichtsinnigem Tone.

„Nun ja, nun ja,“ sprach Darja Aleksandrowna, die nämlichen Argumente hörend, die sie selbst für sich beigebracht hatte, in ihnen aber nicht mehr die alte Beweiskraft findend. „Für dich, für andere,“ sagte Anna, als errate sie Dollys Gedanken, „kann noch ein Zweifel bestehen, für mich aber – begreife, ich bin kein angetrautes Weib! Er liebt mich so lange, als er liebt. Und womit soll ich dann seine Liebe unterhalten? Doch nur damit!“

Sie streckte die weißen Arme vor ihrem Leibe aus.

Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit, wie dies in Momenten der Aufregung zu sein pflegt, drängten sich Gedanken und Erinnerungen im Kopfe Darja Aleksandrownas.

„Ich,“ dachte sie, „habe meinen Stefan doch nicht an mich fesseln können. Er ging von mir zu anderen, und die erste, welche er für mich eintauschte, hat ihn nicht einmal damit festgehalten, daß sie stets schön und heiter war. Er verließ sie doch und nahm eine andere. Sollte Anna auch nur damit den Grafen Wronskiy fesseln und halten wollen? Wenn er das nur sucht, so wird er Toiletten und Manieren finden, die noch anziehender sind und heiterer. Mögen auch ihre entblößten Arme noch so weiß, so herrlich sein, ihr Leib in voller Schöne prangen, wie ihr erhitztes Antlitz aus diesen schwarzen Haaren heraus – er wird noch Besseres finden, so wie mein ausschweifender, beklagenswerter und doch geliebter Mann es sucht und findet.“

Dolly antwortete nicht und seufzte nur. Anna bemerkte dieses Seufzen, welches ihr Widerspruch bedeutete, und fuhr fort. Sie hatte noch Beweisgründe vorrätig die so stark waren, daß es auf sie nichts mehr zu antworten gab.

„Du sagst, daß dies nicht gut sei? Man muß aber nur bedenken,“ fuhr sie fort, „du vergißt meine Lage. Wie könnte ich Kinder wünschen? Ich spreche nicht von meinen Leiden; ich fürchte sie nicht. Bedenke aber, was werden meine Kinder sein? Unglückliche Kinder, die einen fremden Namen tragen. Allein durch ihre Geburt schon sind sie in die Notwendigkeit versetzt, sich ihrer Mutter zu schämen, ihres Vaters, sowie ihrer Geburt.“

„Aber deshalb ist ja eben die Ehescheidung erforderlich.“

Anna hörte sie nicht; sie wollte eben die nämlichen Beweisgründe erschöpfend beibringen, mit welchen sie sich selbst schon so viele Mal überzeugt hatte.

„Warum ist mir der Verstand gegeben, wenn ich ihn nicht dazu anwenden soll, keine Unglücklichen in die Welt zu setzen?“ Sie blickte Dolly an, fuhr aber ohne eine Antwort abzuwarten fort: „Ich würde mich immerdar vor diesen unglücklichen Kindern schuldig fühlen,“ sagte sie. „Wenn sie nicht da sind, sind sie wenigstens nicht unglücklich, während, wenn sie unglücklich sind, ich allein daran Schuld trage.“

Es waren dies die nämlichen Beweisgründe, welche Darja Aleksandrowna auch für sich selbst beigebracht hatte; aber jetzt hörte sie dieselben, ohne sie zu verstehen. „Wie kann man vor Geschöpfen schuldig sein, die nicht existieren?“ dachte sie bei sich, und plötzlich kam ihr in den Sinn, ob es wohl unter Umständen für ihren Liebling Grischa besser gewesen wäre, wenn er nicht lebte? Dies aber erschien ihr so wunderlich, so seltsam, daß sie den Kopf wiegte, um dieses Wirrsal kreisender, wahnwitziger Gedanken zu zerstreuen.

„Nein, ich weiß nicht, das ist nicht gut,“ sagte sie mit einem Ausdruck von Ekel auf den Zügen.

„Ja, ja, aber du darfst nicht vergessen, was du bist und was ich bin – und außerdem,“ fügte Anna hinzu, ungeachtet der Fülle ihrer eigenen Beweisgründe und der Armut derjenigen bei Dolly, gleichsam anerkennend, daß jenes nicht moralisch sei, „vergiß nicht die Hauptsache, daß ich mich jetzt nicht in der Situation befinde, in welcher du bist. Für dich ist einfach die Frage vorhanden, ob du keine Kinder mehr zu haben wünschst; für mich hingegen, ob ich sie zu haben wünsche. Darin liegt ein großer Unterschied. Du begreifst, daß ich in meiner Lage dies nicht wünschen kann.“

 

Darja Aleksandrowna erwiderte nichts. Sie empfand plötzlich, daß sie schon so weit von Anna entfernt stehe, daß es zwischen ihnen Fragen gab, in welchen sie nie mehr übereinkommen konnten, und von denen nicht zu sprechen besser war.

24

„Aber umsomehr wirst du daher deine Verhältnisse ordnen müssen, wenn es möglich ist,“ sagte Dolly.

„Ja, wenn es möglich ist,“ versetzte Anna mit plötzlich veränderter, gedämpfter und trauriger Stimme.

„Ist denn die Ehescheidung unmöglich? Man hat mir gesagt, daß dein Mann damit einverstanden ist.“

„Dolly! Ich mag nicht davon sprechen.“

„Nun, dann wollen wir es auch nicht,“ beeilte sich Darja Aleksandrowna zu sagen, indem sie den Ausdruck des Leidens auf Annas Antlitz bemerkte. „Ich sehe nur, daß du zu schwarz siehst.“

„Ich? Keineswegs! Ich bin sehr heiter und zufrieden. Du hast ja gesehen; je fais des passions Wjeslowskij“ —

„Ja, wenn ich die Wahrheit sagen soll, gefällt mir der Ton Wjeslowskijs nicht,“ sagte Darja Aleksandrowna, im Wunsche, das Thema zu ändern.

„O, keineswegs! Das kitzelt Aleksey, weiter ist es nichts; er aber ist ein Knabe und ganz in meinen Händen. Du verstehst wohl, ich leite ihn, wie ich will. Er ist ganz das, was dein Grischa ist. Dolly!“ – änderte sie plötzlich ihre Rede, „du sagst, ich blicke zu schwarz. Das verstehst du nicht. Es ist zu entsetzlich. Ich suche lieber gar nicht zu sehen.“

„Aber mir scheint, man muß dies. Man muß alles thun, was möglich ist.“

„Was ist denn möglich? Nichts! Du sagst, ich soll Aleksey heiraten, und meinst ich dächte nicht daran. Ich soll nicht daran denken!“ – wiederholte sie, und die Farbe trat ihr ins Gesicht. Sie erhob sich, reckte ihre Brust empor, seufzte tief auf, und begann dann, mit ihrem leichten Gang im Zimmer auf und abzuschreiten, bisweilen dabei stehen bleibend. „Ich soll nicht daran denken? keinen Tag, keine Stunde giebt es, in der ich nicht sänne – und mir Vorwürfe machte über das was ich denke – deshalb, weil die Gedanken hierüber von Sinnen bringen können. Von Sinnen bringen,“ wiederholte sie. „Wenn ich daran denke, so kann ich ohne Morphium schon nicht mehr schlafen. Doch gut. Wir werden ruhig sprechen. Man spricht mir von Ehescheidung. Erstens wird er in diese nicht willigen. Er steht jetzt unter dem Einfluß der Gräfin Lydia Iwanowna.“

Darja Aleksandrowna folgte, auf dem Stuhl steif emporgerichtet sitzend, mit dem Ausdruck innigen Mitgefühls auf dem Gesicht und kopfschüttelnd der hin und wieder wandernden Anna.

„Man muß versuchen,“ sprach sie leise.

„Nehmen wir an, man versucht. Was hätte das zu bedeuten?“ sagte sie; augenscheinlich war dies ein Gedanke, den sie wohl tausendmal überdacht, auswendig gelernt hatte. „Dies bedeutete für mich, die ihn haßt, sich aber nichtsdestoweniger vor ihm als schuldig bekennt – ich halte ihn dabei noch für großmütig – daß ich mich erniedrige, wenn ich ihm schreibe. Aber gesetzt, ich überwinde mich und thue dies! Entweder werde ich alsdann eine verletzende Antwort erhalten, oder die Einwilligung. Gut; ich erhalte die Einwilligung.“ – Anna befand sich gerade in einer entfernten Ecke des Gemachs und war dort stehen geblieben, sich an der Gardine des Fensters zu schaffen machend. „Ich erhalte also die Einwilligung – aber – mein Sohn? Den wird man mir ja nicht geben! Er wird wohl heranwachsen, in der Verachtung gegen mich, im Haus des Vaters, den ich verließ. Wisse, daß ich, wie mir scheint, gleich stark, aber mehr noch als mich selbst, zwei Wesen liebe, Sergey und Aleksey.“

Sie trat in die Mitte des Zimmers und blieb vor Dolly stehen, beide Hände auf ihre Brust pressend. In dem weißen Nachtgewand erschien ihre Gestalt eigentümlich hoch und voll. Sie senkte den Kopf und schaute mit feuchtschimmernden Augen von unten her auf die kleine, hagere und in ihrem geflickten Korsett im Nachthäubchen so kläglich aussehende, am ganzen Körper vor Aufregung zitternde Dolly.

„Nur diese beiden Wesen liebe ich, und doch schließt eines das andere aus. Ich kann sie nicht vereinigen und dies allein ist mir doch nur Bedürfnis. Wenn es nicht angeht, so ist mir alles gleichgültig. Alles, alles gleichgültig. Irgendwie muß es enden, und daher kann und mag ich nicht davon sprechen! Mache du mir also keine Vorwürfe und richte in nichts über mich! Du vermagst in deiner Reinheit nicht alles zu erfassen, woran ich leide.“ Sie trat heran, setzte sich neben Dolly, blickte dieser mit schuldbewußtem Ausdruck ins Gesicht und nahm sie bei der Hand. „Was denkst du? Was denkst du über mich? Verachte mich nicht! Verachtung bin ich nicht wert. Ich bin doch schon unglücklich. Wenn jemand unglücklich ist, so bin ich es,“ sprach sie und brach, sich von ihr abwendend, in Thränen aus.

Allein geblieben, betete Dolly zu Gott und legte sich in ihr Bett. Anna hatte ihr von ganzer Seele leid gethan, so lange sie mit ihr gesprochen; jetzt aber konnte sie sich nicht mehr zum Nachdenken über sie bringen. Die Erinnerungen an ihr Haus und ihre Kinder tauchten in einem eigenartigen, ihr neuen Reiz, mit einem gewissen neuen Schimmer in ihrer Vorstellungskraft auf. Diese ihr eigene Welt erschien ihr jetzt so teuer und lieb, daß sie um keinen Preis außerhalb derselben einen überflüssigen Tag hätte zubringen mögen, und sie beschloß, bestimmt morgen abzureisen.

Anna hatte mittlerweile, nach ihrem Kabinett zurückgekehrt, ein Glas ergriffen, einige Tropfen Arznei hineingeschüttet, deren hauptsächlichster Bestandteil Morphium war, und sich, nachdem sie getrunken, und noch einige Zeit unbeweglich gesessen hatte, in ruhiger und heiterer Stimmung nach dem Schlafgemach begeben.

Als sie in dasselbe eintrat, blickte Wronskiy sie aufmerksam an. Er suchte nach den Spuren des Gesprächs, welches sie, wie er wußte mit Dolly gehabt haben mußte, da sie so lange im Zimmer derselben geblieben war. Aber in ihrem Ausdruck, der zurückgehaltene Aufregung und Geheimthuerei verriet, entdeckte er nur die zwar gewohnte, ihn aber doch immer noch fesselnde Schönheit, ihr Bewußtsein davon, und ihren Wunsch, sie auf ihn wirken zu lassen. Er wollte Anna nicht fragen, was sie beide gesprochen hätten, sondern hoffte, sie werde es ihm selbst sagen. Doch sie sprach nur:

„Ich freue mich, daß Dolly dir gefallen hat. Nicht wahr?“

„Ich kenne sie ja schon lange. Sie ist sehr gut, wie mir scheint, mais excessivement terre-à-terre. Ich habe mich indessen gleichwohl sehr über sie gefreut.“

Er ergriff Annas Hand und schaute ihr fragend ins Auge. Sie lächelte ihm zu, den Blick anders auffassend.

Am anderen Morgen rüstete sich Darja Aleksandrowna trotz der Bitten ihrer Wirte zur Abreise. Der Kutscher Lewins in seinem nicht mehr gerade neuen Kaftan und dem Postkutscherhut, mit den Pferden von verschiedener Farbe, ein Wagen mit den ausgebesserten Seiten, fuhr mürrisch und entschlossen in die geöffnete, mit Sand bestreute Einfahrt.

Der Abschied von der Fürstin Barbara und den Herren war Darja Aleksandrowna unangenehm. Indem sie nur einen Tag hier geblieben war, fühlte sie sowohl, wie ihre Wirte, deutlich, daß sie einander nicht näher getreten waren, und es besser sei, wenn sie nicht mehr zusammenkämen. Nur Anna empfand Schmerz hierüber. Sie wußte, daß jetzt, mit Dollys Fortgehen, niemand mehr die Gefühle in ihrer Seele wachrufen werde, die sich bei diesem Wiedersehen in ihr geregt hatten. Diese Empfindungen wachzurufen, war ihr schmerzlich gewesen, aber gleichwohl wußte sie doch, daß sie gerade den besten Teil ihrer Seele bildeten, und daß dieser Teil ihrer Seele schnell überwuchert sein werde in dem Leben, welches sie führte.

Als sie auf das Feld hinausgekommen war, empfand Darja Aleksandrowna ein angenehmes Gefühl der Erleichterung, und sie wollte soeben ihre Leute fragen, wie es ihnen bei Wronskiy gefallen habe, als plötzlich Philipp der Kutscher selbst anfing:

„Sind die reich, so reich, und doch haben sie im ganzen nur drei Maß Hafer gegeben. Bis die Hähne schrieen, hatten sie es rein aufgefressen. Was sind denn drei Maß? Gerade zum Hineinbeißen. Jetzt kostet der Hafer bei den Hofleuten fünfundvierzig Kopeken; während bei uns den Reisenden soviel gegeben wird, als gefressen wird.“

„Ein geiziger Herr,“ bestätigte der Comptoirdiener.

„Nun, aber seine Pferde haben dir gefallen?“ frug Dolly.

„Seine Pferde, das ist richtig. Das Essen ist ja auch gut. Aber mir schien es so langweilig, Darja Aleksandrowna, ich weiß nicht, wie es Euch gegangen ist,“ sagte er, ihr sein rotes, gutmütiges Gesicht zuwendend.

„Mir ging es auch so. Werden wir denn bis zum Abend ankommen?“

„Wir müssen.“

Nachdem Darja Aleksandrowna heimgekommen war, und alles vollkommen wohlbehalten und besonders herzlich gefunden hatte, erzählte sie mit großer Lebhaftigkeit von ihrer Reise, wie man sie so gut aufgenommen habe, von der Pracht und dem guten Geschmack der Lebensweise der Wronskiy, sowie von ihren Zerstreuungen, und ließ niemand über sie zu Worte kommen.

„Man muß Anna und Wronskiy kennen – ich habe ihn jetzt besser kennen gelernt – um erkennen zu können, wie liebenswürdig sie sind,“ sprach sie, jetzt vollkommen aufrichtig, nachdem sie das dunkle Gefühl von Unzufriedenheit und Mißbehagen vergessen hatte, welches sie dort empfunden.

25

Wronskiy und Anna verlebten, in unveränderten Verhältnissen, und ohne Maßregeln für die Ehescheidung zu ergreifen, den ganzen Sommer und einen Teil des Herbstes auf dem Lande. Sie waren unter sich einig geworden, nicht von hier weggehen zu wollen, fühlten beide aber, je länger sie einsam waren, besonders im Herbste und wenn kein Besuch da war, daß sie diese Lebensweise nicht würden ertragen können und ändern müßten.

Ihr Leben war so, wie man es besser nicht wünschen konnte; reicher Überfluß, Gesundheit, ein Kind war da und beide hatten ihre Beschäftigung. Anna beschäftigte sich, wenn kein Besuch da war, mit sich selbst und sehr viel mit Lektüre von Romanen und ernsten Büchern, welche in der Mode waren. Sie verschrieb alle Bücher, von denen sie sich entsann, Günstiges in den ausländischen Zeitungen und Journalen die sie erhielt, gelesen zu haben, und las dieselben mit jener Aufmerksamkeit für das Gelesene, welche nur in der Einsamkeit vorhanden zu sein pflegt. Außerdem aber studierte sie alles, womit sich Wronskiy befaßte, nach Büchern oder Fachjournalen, sodaß er sich oft mit landwirtschaftlichen, architektonischen, ja selbst bisweilen mit sportsmännischen und Pferdezucht betreffenden Fragen an sie wandte. Er erstaunte über ihr Wissen, ihr Gedächtnis, und wünschte anfänglich, noch zweifelnd, Bestätigungen; sie fand dann auch in den Büchern das, wonach er gefragt und zeigte es ihm.

Die Einrichtung des Hospitals beschäftigte sie gleichfalls. Sie leistete nicht nur Beistand, sondern richtete vieles selbst ein, oder sann es aus. Ihre Hauptsorge aber bildete – sie selbst; insofern sie Wronskiy teuer war, insofern sie ihm alles ersetzte, was er aufgegeben hatte. Wronskiy schätzte diesen zum einzigen Ziel ihres Lebens gewordenen Wunsch – den, ihm nicht nur zu gefallen, sondern ihm auch zu dienen, aber zugleich dabei fühlte er sich doch bedrückt von den Liebesbanden mit denen sie sich bemühte, ihn zu umstricken.

Je mehr Zeit verging, wünschte er weniger sich von ihnen zu befreien und herauszukommen, als zu versuchen und zu prüfen, ob sie seine Freiheit wirklich einschränkten. Wäre nicht dieser immer stärker werdende Wunsch, frei zu sein, der, nicht jedesmal eine Scene zu haben, wenn er zu einer Gerichtssitzung, zu einem Rennen in die Stadt fahren mußte, gewesen, so würde Wronskiy mit seinem Dasein völlig zufrieden gewesen sein.

Die Rolle, welche er sich erwählt hatte, die Rolle des reichen Grundbesitzers, aus denen der Kern der russischen Aristokratie bestehen müsse, war ihm nicht nur völlig nach Geschmack, sie machte ihm sogar jetzt, nachdem er ein halbes Jahr darin gelebt hatte, ein mehr und mehr wachsendes Vergnügen. Auch sein Werk, welches ihn mehr und mehr beschäftigte und anzog, gedieh vortrefflich. Trotz der ungeheuren Summen, welche ihn das Krankenhaus, die Maschinen, die aus der Schweiz verschriebenen Kühe und vieles andere kosteten, war er sicher, daß er sein Vermögen nicht zerrüttete, sondern vielmehr vergrößerte. Wo es sich um Einkünfte, Waldverkäufe, Getreidelieferungen, Wolle, Landverpachtung handelte, war Wronskiy hart wie ein Kieselstein, und verstand es, auf den Preis zu halten. In Sachen seiner großen Landwirtschaft befolgte er, sowohl auf diesem, wie auf seinen übrigen Gütern, die einfachsten, die gefahrlosesten Methoden, und war höchst sparsam und haushälterisch in den wirtschaftlichen Kleinigkeiten. Bei aller Schlauheit und Gewandtheit seines Deutschen, der ihn in Ankäufe zu verwickeln suchte und jede Berechnung so aufstellte, daß anfangs bei weitem mehr nötig war, dann aber erwog, daß es möglich sei, das Nämliche auch billiger machen, und dabei noch einen Gewinn erzielen zu können, gab Wronskiy diesem in nichts nach.

 

Er hörte seinen Verwalter an, frug ihn aus und stimmte ihm nur dann bei, wenn das zu Verschreibende oder neu Einzurichtende das allerneueste, in Rußland noch unbekannt, und imstande war, Bewunderung zu erwecken. Im übrigen verstand er sich zu einer großen Ausgabe nur dann, wenn flüssiges Geld vorhanden war, und kümmerte sich, indem er die Ausgabe machte, um alle Einzelheiten, bestand auch darauf, nur das Allerbeste für sein Geld zu erhalten; sodaß er, demzufolge sein Vermögen offenbar nicht zerrüttete, sondern vergrößerte.

Im Monat Oktober waren die Adelswahlen im Gouvernement von Kaschin, in welchem sich die Güter Wronskiys, Swijashskiys, Koznyscheffs, Oblonskiys und ein kleiner Teil von denen Lewins befanden.

Diese Wahlen zogen infolge mannigfacher Umstände und in Anbetracht der Persönlichkeiten, welche daran teilnahmen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Man sprach viel von ihnen und bereitete sich darauf vor. Die Bewohner von Moskau, Petersburg, Fremde, die noch nicht bei den Wahlen gewesen waren, kamen zu denselben.

Wronskiy hatte Swijashskiy schon längst versprochen, dazu kommen zu wollen. Noch vorher fuhr Swijashskiy, welcher Wosdwishenskoje häufig besuchte zu Wronskiy.

Am Vorabend des nämlichen Tages war zwischen Wronskiy und Anna fast ein Streit wegen der geplanten Reise entstanden. Es war gerade die langweiligste, schwerste Zeit auf dem Dorfe, die Herbstzeit, und, auf den Kampf vorbereitet, machte Wronskiy mit einem ernsten und kühlen Ausdruck, mit welchem er vorher noch nie zu Anna gesprochen hatte, derselben Mitteilung von seiner Abreise.

Zu seiner Verwunderung nahm Anna indessen diese Nachricht sehr ruhig auf, und frug nur, wann er zurückkehren werde. Aufmerksam betrachtete er sie, da er diese Ruhe nicht begriff. Sie lächelte zu seinem Blick. Er kannte ihre Fähigkeit, sich in sich selbst zurückzuziehen, und wußte, daß dies nur dann der Fall war, wenn sie bei sich selbst etwas beschlossen hatte, ohne ihm von ihren Plänen Kenntnis zu geben. Er fürchtete dies, doch wünschte er so sehr, eine Scene zu vermeiden, daß er sich den Anschein gab zu glauben – und teilweise glaubte er es auch aufrichtig – was er ja wünschte – sie sei einsichtsvoll.

„Ich hoffe, du wirst dich nicht langweilen.“

„Ich hoffe es,“ sagte Anna, „gestern habe ich eine Kiste Bücher von Gautier erhalten. Nein, ich werde mich nicht langweilen.“

„Sie wünscht diesen Ton festzuhalten; um so besser,“ dachte er, „es wäre ja doch sonst immer ein und dasselbe,“ und fuhr, ohne sie zu einer aufrichtigen Erklärung aufgefordert zu haben, zu den Wahlen.

Es war dies zum erstenmal seit Beginn ihres Verhältnisses, daß er sich von ihr trennte, ohne sich völlig mit ihr ausgesprochen zu haben.

Einerseits beunruhigte ihn dies, andererseits fand er, daß es so besser sei. „Es wird ihr dies im Anfang, wie jetzt, etwas Unklares, Geheimnisvolles sein, aber später wird sie sich daran gewöhnen. Jedenfalls kann ich ihr alles bieten, nur nicht meine männliche Unabhängigkeit,“ dachte er.