Wunder

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b) Wunder anderer Wundertäter

Jünger und Apostel: Jesus überträgt den Jüngern Wundervollmacht (Mt 10,8; vgl. Mt 16,17f.). Lk 10,17–20 stellt ihre Wunderkraft ausdrücklich fest. Sie scheitern nur an Dämonen (Mk 9,18.28f.). – Solange der Glaube trägt, kann Petrus über das Wasser gehen (Mt 14,28–31). Überhaupt kann der Glaube bei allen Menschen Wunder wirken (Mk 9,23; 11,23f.; Lk 17,5f.). – Die Apostel vollziehen laut der Apg Therapien, Erweckungen und Strafwunder; Naturwunder fehlen. – In Röm 15,18f. nennt sich Paulus ein charismatisches Medium der Wunderkraft Christi. Heilkraft, Wunderkraft und prophetische Rede gehören nach 1 Kor 12,9f. zu den Charismen (vgl. Jak 5,14–16).

Fremde Wundertäter: Das Wirken des fremden Exorzisten wird in Mk 9,38–40 gutgeheißen, da er im Namen Jesu handle. Kritischer liest sich Mt 7,22: Wer im Namen Jesu Wunder tut, aber Gottes Willen missachtet, wird nicht ins Himmelreich kommen. Die Söhne der Pharisäer können laut Mt 12,27par. Lk 11,19 wie Jesus exorzieren und tun es wie er in göttlicher Vollmacht.1 An einem Exorzismus scheitern dagegen die sieben magisch begabten Skeuassöhne und werden mit einem Strafwunder belegt (Apg 19,13–17).

3 Von Satan und satanischen Mächten werden Wunder kolportiert, die denen Jesu und der Apostel zum Verwechseln ähnlich sehen. Zu diesen Mächten gehören Pseudochristusse und -messiasse (Mk 13,6.22parr.), der röm. Kaiser und der Statthalter von Kleinasien (2 Thess 2,9; Apk 13,4.12–14).

c) Wunder an Jesus und den Aposteln

Das NT berichtet auch von Wundern, die an Jesus und den Aposteln vollzogen werden. Die Berichte stellen ihre besondere Bedeutung heraus oder verdeutlichen, unter wessen Schutz sie stehen. Die Wunderformen sind Angelophanien, Metamorphosen, Führungs- und Rettungswunder sowie Totenerweckungen.

Epiphanien finden sich insbesondere zu Beginn und am Ende des Lebens Jesu. Engel kündigen die Geburt Jesu und des Täufers an (Mt 1,19–25par. Lk 1,11–17.26–38; Lk 2,8–20)1, schützen Jesus und seine Familie vor dem Zugriff des Herodes (Mt 2,13–23). Eine Theo- und Pneumatophanie offenbart bei der Taufe Jesu dessen Gottessohnschaft (Mk 1,9–11parr.). Engel erscheinen den Frauen und Jüngern an Jesu Grab (Mk 16,1–8parr.). – Joh 1,1–18 kennzeichnet das gesamte Wirken Jesu, des Schöpfungs-Logos, als Epiphanie Gottes.

2 Mk 9,2–13 schildert die Verklärung als Metamorphose (V. 2: metemorphóthe). Sie ist eine halböffentliche Offenbarung Jesu als Gottessohn (V. 7). Die Verklärung bereitet die nachösterlichen Christophanien vor.

3 Mehrere Führungswunder bietet Mt 2,1–23 (Magier aus dem Orient; Bewahrung des Jesuskindes). Auch die Reise der Familie Jesu nach Bethlehem lässt sich als stille göttliche Führung verstehen (Lk 2,1–7).

Entrückungen begegnen in Joh 6,21b (Entrückung am Ende des Seewandels), in Apg 8,39f. (Philippus), in 2 Kor 12,1–4 (Paulus) und in Apk 4ff. (Thronvision des Sehers Johannes). Bei Lk beschließt eine Entrückung (Himmelfahrt Jesu) die Ostervisionen (Lk 24,50–53; Apg 1,9–11; vgl. Mk 16,19).

Natur- und Rettungswunder: Das Osterwunder lässt sich als Befreiung aus dem Grab interpretieren (Mk 16,1–8parr.). Mt 28,2 erwähnt ein Erdbeben als begleitendes kosmisches Zeichen. Apg 5,17–25, 12,3–17 und 16,23–40 berichten von der Befreiung der Apostel aus Gefängnissen, zum Teil in Kombination mit kosmisch-apokalyptischen Zeichen (Apg 16,26).2

Kosmisch-apokalyptische Zeichen begleiten Tod und Auferstehung Jesu (Mt 27,45–28,2)3 und werden für die Parusie angekündigt (Mk 13,24–27parr.).

d) Wunder in den Apokryphen

Apokryphe Wundertexte sind oftmals fragmentarisch und haben legendarischen oder erbaulichen Charakter.1 Berichtet wird vom Jesuskind, das in kindlicher Unreife Therapien und Strafwunder wirkt; magisch muten Überlieferungen an, denen zufolge selbst Jesu Windeln und sein Badewasser Heilkraft hatten.2 Das Jesuskind wird von Tieren und Götterbildern angebetet.3 Wundertaten des erwachsenen Jesus fehlen jedoch weitestgehend. Man spürt den Texten eine Freude am unterhaltsamen, illustrierenden Erzählen ab; historische Glaubwürdigkeit oder theologische Reflexion sind nicht von Interesse. – Ein Textbeispiel ist die Erweckung eines verunglückten Spielkameraden (Junge auf dem Dach):

(1) Wiederum spielte Jesus nach vielen Tagen auch mit anderen Kindern auf dem Söller eines Hauses. Eins der Kinder jedoch stürzte hinab und starb. Als das die anderen Kinder sahen, gingen sie nach Hause. Sie ließen Jesus als einzigen zurück. (2) Und die Eltern des Toten kamen, machten Jesus Vorwürfe und sprachen: „Du hast unser Kind hinabgeworfen!“ Jesus aber antwortete: „Ich habe das Kind nicht hinabgeworfen!“ (3) Während jene tobten und schrieen, stieg Jesus vom Dach hinunter, stellte sich zum Leichnam und rief mit lauter Stimme: „Zenon, Zenon (denn so hieß er), stehe auf und sage, ob ich dich hinabgeworfen habe!“ Und der stand auf und sprach: „Nein, Herr!“ Und als sie es sahen, staunten sie. Und Jesus sprach abermals zu ihm: „Lege dich wieder zur Ruhe!“ Und die Eltern priesen Gott und beteten das Jesuskind an.4

Das Petrusevangelium (EvPetr 9,35–11,45; ca. 1. Hälfte 2. Jh. n. Chr.) schildert, anders als die ntl. Evangelien, den eigentlichen Wundervorgang:

(9,35) In der Nacht, in der der Herrentag anbrach, als die Soldaten jeweils zu zweit Wache hielten, erscholl eine laute Stimme im Himmel. (36) Und sie sahen, wie die Himmel geöffnet wurden und zwei strahlend leuchtende Männer von dort herabkamen und sich dem Grab näherten. (37) Jener Stein aber, der vor der Tür lag, zog sich von selbst rollend teilweise zurück und das Grab öffnete sich und beide jungen Männer gingen hinein. (10,38) Als jene Soldaten nun (dies) sahen, weckten sie den Zenturio und die Ältesten, denn auch sie waren geblieben, um Wache zu halten. (39) Und als sie berichteten, was sie gesehen hatten, sahen sie wiederum, wie drei Männer aus dem Grab herauskamen, wobei zwei den einen unterstützten und ein Kreuz ihnen folgte. (40) Und der Kopf der zwei reichte bis zum Himmel, der des von ihnen Geführten überragte die Himmel. (41) Und sie hörten eine Stimme von den Himmeln, die fragte: „Hast du den Gestorbenen gepredigt?“ (42) Und eine Antwort wurde gehört vom Kreuz: „Ja.“ (11,43) Sie überlegten nun miteinander, wegzugehen und dies dem Pilatus zu sagen. (44) Und als sie noch berieten, erschienen die Himmel wieder geöffnet und ein Mensch kam herab und ging ins Grab. (45) Als sie dies sahen, eilten die um den Zenturio nachts zu Pilatus und verließen das Grab, das sie bewachten. Und sie berichteten alles, was sie gesehen hatten, und sagten voll großer Angst: „Er war wirklich Gottes Sohn.“5

Die apokryphen Wundertexte bieten tendenziell eine fiktionale Anpassung Jesu an bekannte Wundertäter und Heroen der religionsgeschichtlichen Umwelt. Die Zeichenfunktion der Wunder auf das Wirken Gottes spielt keine Rolle.6


Form Vorkommen Akteure Besonderheiten
Heilungswunder/Therapien Evangelien, Apg Jesus, Kranke, z.T. Jünger und Helfer Betonung des physischen Aspekts (gilt für alle Gattungen)
Exorzismen synEvv., Apg Jesus, Kranke, Dämon Wunder als Machtkampf
Totenerweckungen Evangelien, Apg Jesus, Toter, Angehörige sparsamer Gebrauch; Skepsis der Augenzeugen (außer Lk 7)
Geschenkwunder Evangelien Jesus, Jünger, andere Zeichen messianischer Fülle
Normenwunder Evangelien Jesus, Kranke, Gegner Vollmachtsfrage; Motive der Ablehnung Jesu
Natur- und Rettungswunder Evangelien, Apg Jesus, Jünger/Apostel Furchtmotiv
Strafwunder Apg 5; 13; 19 Apostel, Gegner, Augenzeugen Strafwunder fehlen in den Evangelien
Epiphanien Evangelien, Apg Gott, Engel, Christus, Geist, Adressaten Klären die Bedeutung Jesu Christi
Metamorphosen synEvv., 1 Kor 15 Gott, Jesus, Jünger physisch-leiblicher Aspekt
Führungswunder/Entrückungen Himmelfahrt; Mt 2,1–23; Apg 8 Gott, Geist, Jesus, Jünger; Apostel u.a. Klären die Bedeutung Jesu; lenken die Mission
Kosmisch-apkl. Zeichen Mk 13parr.; Mt 27f.; Apg; 2 Petr 3; Apk Jesus, Augenzeugen; Apostel (Apg); satanische Mächte beschränkt auf Tod und Auferstehung Jesu, Parusie und Weltende
Prophet. Zeichenhandlungen Feigenbaum, Fisch-Wunder, Stater-W. Jesus, Jünger Prophetische Ansage steht im Fokus

Vergleich traditioneller Wundergattungen

 

1.7 Wunderspezifische Termini

Der Abschnitt klärt zentrale Fachtermini, welche die religionsgeschichtliche Einbettung der Wunder Jesu betreffen (Charisma, Dämonen, Magie, Zauberei, Schamanismus), solche, die mit der Wundererfahrung zu tun haben (Mythos, Spiritualität, Mystik) und solche, welche die historische Wahrheitsfrage betreffen (Rationalismus, weiche Fakten sowie Faktualität und Fiktionalität).

1.7.1 Charisma

Charisma meint umgangssprachlich die Ausstrahlungs- und Überzeugungskraft eines Menschen. Der biblische, maßgeblich von Paulus geprägte Begriff bezeichnet eine besondere Gabe der Gnade (gr. cháris) bzw. des Heiligen Geistes (gr. pneumatikón, Röm 12,3–8; 1 Kor 12,1–11). Jesus gilt als der Geistträger schlechthin: Er ist vom Geist gezeugt (Lk 1,35; Mt 1,18.20), erhält ihn bei der Taufe (Mk 1,9–11parr.), er ist immun gegen satanische Übergriffe (Mt 4,1–11parr.), entwickelt Überzeugungskraft und mehr, was zum Gelingen seines Auftrags beiträgt.1 Deutlich wird an Jesus die polarisierende Wirkung von Charisma (→ 2.4.1).

1.7.2 Dämonen

Dämonen (gr. daimónia) sind, etymologisch betrachtet, Wesen, welche den Menschen das göttlich bestimmte Schicksal zuteilen (gr. daíomai, zuteilen).1 Sie sind demnach Mittlerwesen zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre, Engeln und Geistern vergleichbar.2 Die terminologische Vielfalt3 signalisiert die umstrittene Personhaftigkeit der Mittlerwesen.4 – Im Textbeispiel rettet ein Dämon Apollonius von Tyana das Leben (Philostrat, VitApoll 4,44,5–16):

„Man hatte sich gegen ihn einen Ankläger verschafft, der schon vielen zum Verderben geworden war und zahlreiche Olympische Siege dieser Art vorzuweisen hatte. Dieser Mann hielt eine Anklageschrift in der Hand, die er wie ein Schwert gegen Apollonius schwang, mit den Worten, sie sei ganz scharf gewetzt und werde ihn dem Verderben preisgeben. Als nun Tigellinus dieses Schriftstück auseinanderrollte, fand er darin nicht die geringste Spur einer Schrift vor, sondern sah nur ein unbeschriebenes Buch vor sich. Er kam deshalb auf den Gedanken, dass hier ein Dämon im Spiel sei. Ein ganz gleicher Vorgang soll sich auch später unter Domitian ereignet haben.“5

Das AT hält Dämonen für Gott unterstellte Boten.6 Dämonenglaube wird weithin abgelehnt.7 Engel und Dämonen werden unterschieden (Dan 8f.; vgl. Gen 6,1–4 als Dämonen-Ätiologie). Für Philo von Alexandria sind Dämonen unkontrollierbare Mächte, die Gutes und Schlechtes bewirken (Gig 16–18; Somn 1,141). Josephus sieht in ihnen gequälte Totengeister sündiger Menschen bzw. Rachegeister Ermordeter (Bell 7,185; Ant 13,317). Die frühjüdische Apokalyptik verortet sie im kosmischen Dualismus von Licht und Finsternis (1 QS 3,25; 4,9ff.).

Im NT gelten Dämonen als Handlanger Satans, die für Krankheiten, Verführung, Irrlehre und die Lügenpropaganda des röm. Imperiums verantwortlich sind.8 Die Unterscheidung der Geister ist daher eine existenzielle Aufgabe im frühen Christentum (1 Kor 12,10; 1 Joh 4,1). Jesu Exorzismen sind das Fanal des kosmischen Endkampfes zwischen Gott und Satan nach dessen Entmachtung im Himmel; der Heilige Geist überwindet die Dämonen in Exorzismen (Mt 12,28).9

1.7.3 Magie und Zauberei

„Ich träume davon, dass die Magie wieder Einzug in die Medizin hält und diese sich mehr auf ihre Wurzeln besinnt. Der Placeboeffekt ist keine Täuschung, sondern eine Bestärkung des Patienten […]. Wenn Menschen etwas Zauber brauchen, um sich zu motivieren, warum geben wir ihnen den nicht?“1

Antike Magie ist eine schriftbasierte, aus Persien stammende Wissenschaft.2 Ihr Spektrum reicht von Astrologie, Pharmakologie und Volksmedizin bis hin zu Liebes- und Schadenzauber (→ 1.6.9e). Die Magie hatte eigene, von der antiken Medizin nicht anerkannte Heilmethoden, wie Medizincocktails, magische Formeln, Handauflegung, Berührung und performatives Wort. Magie stößt in der Antike nicht nur auf Akzeptanz. Sie gilt vielerorts aufgrund undurchsichtiger Praktiken und fragwürdiger Wirkungen als dämonische Zauberei;3 mágos (Magier) und goétes (Gaukler, Zauberer, Scharlatan) werden mitunter synonym verwendet.4 Das röm. Zwölftafelgesetz (5. Jh. v. Chr.) stellt Schadenzauber unter Strafe.5 Apollonius von Tyana und andere Wundertäter stehen unter Magieverdacht (VitApoll 8,7.2f.; Josephus Bell 2,262f.; Ant 20,92.167f.).

Die Unterscheidung zwischen Magie und religiös anerkannten Wunderpraktiken fällt schwer. Merkmale der Magie sind das Gottesbild (Gott ist manipulierbar; synkretistisches Denken) und die Erfüllung fragwürdiger Wünsche wie Schadenzauber6 auf Bestellung (weiter → 2.3.4). – Dtn 18,9–12 verbietet Zauberei, Wahrsagerei, Totenbeschwörung und Ähnliches mehr. Die Apg bietet intensive Magierpolemik. Die Apostel überwinden die Magier mithilfe des Heiligen Geistes und demonstrieren damit ihren Wahrheitsanspruch.7

Schriftliche, meist fragmentarisch erhaltene Zeugen antiker Magie sind Zauberbücher, Zauberpapyri, Zaubersprüche, Amulette, ‚Voodoo‘-Püppchen und Fluchtäfelchen (lat. defixiones) aus dem 1. Jh. v. Chr. bis zum 4. Jh. n. Chr.8 Ägyptische Priester verfassten im Rahmen des ägyptischen Tempelkults (‚Haus des Lebens‘) Rezepturen für magische Anwendungen.9 Sie arbeiteten in hell.-röm. Zeit im gesamten Römischen Reich als Magie-Dienstleister. Das methodische Spektrum umfasst Schaden- und Beziehungszauber, Nekromantie, das Herbeirufen jenseitiger Mächte (Invokation), Dämonenbeschwörung, medizinische Maßnahmen (etwa gegen Fieber), die Herstellung von Amuletten, Kleinwunder (Unsichtbarmachen, verriegelte Türen öffnen, Spielglück u.ä.) und (Traum-)Visionen. Apg 19,19 berichtet von der demonstrativen Verbrennung wertvoller Zauberbücher.

1.7.4 Schamanismus

Ein Schamane ist ein „Zauberpriester, bes. bei asiat. u. indones. Völkern, der mit Geistern u. den Seelen Verstorbener Verbindung aufnimmt.“1 Religionsgeschichtlich betrachtet, sind Schamanen bzw. Medizinmänner Mittler zwischen Menschen und Gottheiten in ‚primitiven‘ Stammesgesellschaften.2 Sie stellen Kontakt mit jenseitigen Mächten her, um deren Kräfte für menschliche Belange zu nutzen. Die Kontaktaufnahme erfolgt mittels (Opfer-)Riten, Musiktherapie, Jenseitsreisen in Trance und Totengeleit. Ziel ist es, von Dämonen geraubte Seelen zurück in die zugehörigen Körper zu holen, um eine innere Harmonie im Menschen zu erreichen und dadurch Heilung zu bewirken.

1 Sam 28 verurteilt Jenseitskontakte als Verstoß gegen das Erste Gebot. Die schamanische Praxis der ‚Hexe‘ von Endor hat zwar Erfolg – der Geist des verstorbenen Propheten Samuel kommt zurück –, König Saul als Auftraggeber wird jedoch bestraft.3 Antike Heiler und Visionäre wie Epimenides (7. Jh. v. Chr.), Pythagoras (6. Jh. v. Chr.), Empedokles (5. Jh. v. Chr.), Apollonius von Tyana (1. Jh. n. Chr.) und Alexander von Abonuteichos (2. Jh. n. Chr.) gelten in der Forschung als Schamanen. – Zur schamanischen Deutung Jesu → 3.3.3.

1.7.5 Mythos
a) Klassische Definition

Der Duden definiert Mythos als „Sage und Dichtung von Göttern, Helden und Geistern [der Urzeit] eines Volkes“ bzw. als „legendär gewordene Gestalt od. Begebenheit, der man große Verehrung entgegenbringt.“1 Im Fokus stehen hier die gr. Götter- und Heldensagen. Ihre Merkmale sind die Personifizierung abstrakter, unbegreiflicher oder bedrohlicher Naturmächte, die Durchlässigkeit zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre und die posthume Deifizierung wichtiger Gestalten der geschichtlichen Frühzeit. Mythen sind historisch nicht verifizierbar, transportieren aber das Selbstverständnis antiker Kulturen. – Auch biblische Wundertexte werden zum Teil als supranaturale Mythen gewertet; ihr Wahrheitsgehalt wird daher auf einer übertragenen Sinnebene gesucht (→ 3.2.3).

b) Moderner Mythosbegriff

Den poetischen Charakter des Mythos arbeitet Kurt Hübner heraus:

„Der Mythos ist ein weitgehend kohärentes Erfahrungssystem; es beruht auf Grundvorstellungen, mit denen das Seiende und Wirkliche im allgemeinen aufgenommen, geordnet und gedeutet wird.“1

Als poetische Wirklichkeitsdeutung verweise er auf metaphysische oder tiefenpsychologische Wahrheiten und arbeite menschlichen Urängsten entgegen. Für Klaus Berger sind Mythen Reminiszenzen an göttliche Epiphanien und Hinweise auf verborgene göttliche Zeichen in der Welt.2 Mythen sind nicht irrational, sondern folgen, so Berger, einer eigenen Logik, die um die Erfahrung verdichteter Wirklichkeit und göttlicher Macht kreist. Von hier aus ergebe sich eine neue Perspektive auf die Alltagswirklichkeit.3

c) Mythos als Gattungsbegriff

Konstante Formelemente einer literarischen Gattung ‚Mythos‘ fehlen. Mythische Elemente begegnen in unterschiedlichen Literaturgattungen und darüber hinaus in nicht-literarischen Bereichen. Sie thematisieren jenseits des historisch Beweisbaren den Grenzübertritt zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre. Ihr Zweck ist es, soziokulturelle Gegebenheiten ätiologisch zu erklären bzw. die Bedeutung bestimmter Menschen für eine bestimmte Gesellschaft und Kultur hervorzuheben. Ein historischer Wahrheitskern des Erzählten bleibt davon unberührt.