Das geringste Nachlassen der Aufmerksamkeit

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Das geringste Nachlassen der Aufmerksamkeit
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Klaus Ulaszewski



Das geringste Nachlassen der Aufmerksamkeit





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Inhaltsverzeichnis





Titel







Motto







Gott







Hilde







Tommy







Konrad







Worte







Der Vater







Dinge, die das Leben liegen lässt







Ein schmaler Grat







Die Prozedur







Theater







Stigma







Zeichen







Hinweise







Impressum neobooks







Motto




Schrauben wir die Haut fest



um gewappnet zu sein gegen die Blutsauger



die sich an meine Adern heranmachen




Karel Appel





Gott




»Was hast du getan?«, ging sie ihren Vater an.



»Wovon sprichst du?«, erwiderte der Vater.



»Du weißt genau, wovon ich spreche!«, betonte sie.



»Nein, das weiß ich nicht!«, entgegnete der Vater.



»Du lügst«, zischte sie zornig.



»Was fällt dir ein, mich einen ...?«



»Weil es stimmt«, fiel sie ihrem Vater ins Wort.



»Das verstehst du nicht.«



»Ja, vielleicht, aber wegen dir ist Konrad fort!«



»Damit habe ich nichts zu tun«, beteuerte der Vater.



»Doch, das hast du.«



»Nein, das ist Unsinn.«



»Ist es nicht.«



»Schluss damit. Es reicht jetzt. Thema beendet«, befahl der Vater verärgert.



»Es reicht noch lange nicht«, widersprach sie und beschwor ihren Vater. »Hol’ ihn zurück!«



»Was denkst du dir?«



»Du kannst das.«



»Ich will das nicht hören.«



Sie erhob ihre Stimme. »Ich weiß, dass du das kannst!«



Der Vater schnaubte. »Bist du verrückt geworden? Du bringst uns noch in Teufels Küche.«



»

Du

 hast ihn weggeschickt und

du

 kannst ihn zurückholen!«, schrie sie jetzt mit sich überschlagender Stimme.



»Hör auf, um Gottes Willen, sei still!«, schrie jetzt auch ihr Vater und drohte seiner Tochter mit erhobener Hand.



»

Du

 sprichst von Gott?«, erwiderte sie verächtlich. »Gäbe es einen und wäre er gerecht – er würde dich hassen!«





Hilde




Früher hatte er sie aus dem Schlaf gerissen und Nächte durchwachen lassen. Sie würde diesen Traum niemals mehr loswerden, das war ihr bewusst. Mit zunehmendem Alter und wachsender Gelassenheit verlor er jedoch an Bedeutung und schlaflose Nächte wurden seltener. Überhaupt erfolgte die Wiederkehr ihrer Träume in immer größeren Abständen, was sie überwiegend pragmatisch, aber auch etwas wehmütig zur Kenntnis nahm. Irgendwann einmal schliefe sie, - und das galt ihr alles andere als ein Trost - ohne es zu bemerken, unausweichlich und für immer, traumlos.



Noch leicht benommen langte sie zur Seite und tastete auf dem Nachttischchen nach der Armbanduhr. Es war noch früh am Morgen, aber schon zu spät, um wieder in den Schlaf zu finden. Sie wartete geduldig, bis ihr die Nacht aus den Augen gewichen war und folgte den im Licht der Morgendämmerung schimmernden Konturen des Kleiderschranks. Noch einen Moment lang sammelte sie sich für den vor ihr liegenden Tag, dann gab sie sich einen Ruck. Gleich würde Tommy sie besuchen kommen und es erforderte einige kosmetische Anstrengungen, bis sie sich vorzeigbar fühlte. Sie stieg aus dem Bett, stellte sich auf die Füße und verharrte so für einen Augenblick. »Guten Morgen Hilde Hagenah, du bist noch immer da«, rief sie sich zu, verlachte sogleich ihre Kauzigkeit und verschwand im Bad. Zurück im Schlafzimmer stellte sie sich vor den Küchenstuhl, der ihr seit Jahren als Garderobenablage diente und ergriff nach und nach ihre Kleidung, die sie, wie jeden Abend vor dem Schlafengehen, dort abgelegt hatte. Als Letztes zog sie die Strickjacke von der Rückenlehne und warf sie sich locker über die Schultern. Sie schlüpfte in die Hausschuhe und ging hinüber in die Küche, wo sie die vorbereitete Kaffeemaschine anknipste. Dann öffnete sie die Wohnungstür und bückte sich nach der Tageszeitung, die ihr Hausmeister Kreutzinger seit Jahren allmorgendlich auf die Fußmatte schleuderte. Zurück in der Küche warf sie die Zeitung auf den kleinen Esstisch und freute sich diebisch, wenn sie eine freie Fläche traf und nicht Brille, Stifte oder sonstige Utensilien auf den Boden kickte, was durchaus passieren konnte.



Sie bereitete ihren üblichen Kaffee zu, mit frischer Milch, ohne Zucker, goss den Rest in die Thermoskanne und setzte sich an den Tisch. Während sie die Überschriften nach vielversprechenden Artikeln überflog, putzte sie mit der herunterhängenden Tischdecke die Brillengläser. Bis zum gemeinsamen Frühstück mit Tommy, der versprochen hatte, frische Brötchen mitzubringen, studierte sie aufmerksam die vorgemerkten Artikel.



Selbst in ihrem Alter besaß sie noch ein scharfes und unbestechliches Denkvermögen, wofür sie - wem auch immer - dankbar war. Auch ihre Erinnerungsfähigkeit ließ keine Wünsche offen, was sie auf das beinahe lebenslange Lernen von Texten zurückführte. Es war erst wenige Jahre her, dass sie eine Spielzeit lang die Milliardärin Claire Zachanassian aus Dürrenmatts ›Der Besuch der alten Dame‹ verkörperte. Und noch immer fühlte sie sich sämtlichen Texten und Rollen der Weltliteratur gewachsen.



Aber seit einiger Zeit beunruhigten sie erste gesundheitliche Probleme. Nichts Ernstes, jedoch fragte sie sich, wie lange sie ihr Leben in der Wohnung wohl noch führen könnte, so wie bisher, selbstständig und alleine. Ein Altenheim war undenkbar, kam nicht in Frage. Jemandem zur Last fallen wollte sie genauso wenig und für eine Hilfe fehlte ihr das Geld. So suchte sie nach Alternativen. Vor einiger Zeit hatte sie ein Inserat neugierig werden lassen: ›Achtung Künstler! Veteranen suchen Weggefährten für Alters-WG! Einzigartiges Kerkerzimmer im alten Amtshof wartet auf neuen Insassen!‹. Sie kannte den Amtshof. Es gab dort eine kleine Bühne, auf der sie vor vielen Jahren einmal ein Gastspiel gegeben hatte. Augenblicklich erinnerte sie sich wieder an die inspirierende Atmosphäre, die das über 100 Jahre alte Klinkergeb

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