Klaus Mann - Das literarische Werk

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Tilly seufzte und ließ die Hand ihrer Mutter los.

Frau von Kammer war in allen gesellschaftlichen Dingen von Sensibilität und prompt reagierendem Taktgefühl. Jetzt aber dauerte es ziemlich lange, bis sie es verstand und sich klarmachte, daß sie in der Gesellschaft, der sie sich, ihrer Herkunft und Erziehung wie ihrer Neigung nach, zugehörig fühlte, unerwünscht war. Nur sehr allmählich begriff sie, daß es bei den reichen, alteingesessenen, hochachtbaren Familien einfach als anstößig galt, mit der Regierung des eigenen Landes überworfen zu sein. Wenn es sich um ein sozialistisches Regime gehandelt hätte, mit dem man nicht auskommen konnte, wäre dies entschuldbar und selbst ehrenvoll gewesen.

Marie-Luise sah sich fallengelassen von denen, die sie als »Menschen meinesgleichen« zu bezeichnen pflegte, und sie litt darunter. Keineswegs hatte sie vorgehabt, sich von ihrer eigenen Gesellschaftsschicht zu lösen, als sie Deutschland verließ. Nicht ohne Schrecken mußte sie nun konstatieren, daß genau dies es war, was sie getan hatte. Sie fühlte sich sehr allein – so allein wie noch niemals zuvor im Leben. Mit wem sollte sie reden, wenn die »Menschen ihresgleichen« auf die Unterhaltung mit ihr keinen Wert mehr legten? Sie verstand nur ihren Jargon, keinen anderen. Sowohl die Leute »aus dem Volke« als auch die Intellektuellen drückten sich für die Ohren Marie-Luisens in fremden Zungen aus. Manchmal versuchten ein Briefträger, ein Handwerker oder die Gemüsefrau gutmütig, sie ins Gespräch zu ziehen. Sie hatten wohl davon gehört, daß diese deutsche Dame sich mit den neuen Machthabern in ihrem Lande nicht recht vertrug. Die meisten waren geneigt, Frau von Kammer, weil sie Emigrantin war, für eine Jüdin zu halten, trotz ihrem echt von Seydewitzschen Aussehen. Der Briefträger und die Gemüsefrau drückten ihre Empörung aus über all das, was man den Israeliten jetzt antat – dort »draußen«, im Reich. Ein Handwerker, der die Wasserleitung in der Wohnung reparierte, ging so weit, zu erklären: »Aufhängen sollte man den Hitler!« Alle waren sich darüber einig, daß es eine Schmach und eine Schande sei, und daß »bei uns in der Schweiz« dergleichen niemals geduldet würde. »Die sollten es nur probieren!« rief drohend die Gemüsefrau mit ihrer behindert-gutturalen Stimme. Es waren sehr brave Leute, von einem ruhigen, anständigen Selbstbewußtsein. Sie gefielen Marie-Luise. Trotzdem wußte sie nicht, in welchem Tone sie ihnen antworten sollte. Sie lächelte starr und befangen. »Ja, ja, es ist wohl nicht alles ganz so, wie es sein sollte«, bemerkte sie, konventionell und floskelhaft.

Es war bitter, allein zu sein. Nun empfand Frau von Kammer es mehr denn je, daß zwischen ihr und den beiden Töchtern ein wahrhaft herzliches, spontan vertrauensvolles Verhältnis sich niemals hatte herstellen wollen. Sie schrieb lange Briefe nach Paris, an Marion. Aber diejenigen, in denen von ihren Gefühlen und Nöten die Rede war, schickte sie niemals ab, sondern nur die anderen, welche von der Wohnungseinrichtung oder von einem Abend im Stadttheater erzählten. Marions Antworten – mit einer großen, zugleich energisch beschwingten und fahrigen Schrift bedeckte Zettel – waren selten mehr als ein paar launig-barocke Redensarten, aphoristische Wutausbrüche gegen die Nazis oder wirre Andeutungen, das Pariser Leben betreffend. – Susanne sendete aus dem Internat pflichtgemäß ihre wöchentlichen Berichte; sie waren stets trocken gehalten, ihr Inhalt schien befriedigend, es fehlte ihnen jeder Hauch von Phantasie, jeder Atem von Zärtlichkeit.

Und Tilly? Sie lebte in der Nähe der Mutter und schien weiter von ihr entfernt zu sein als die beiden abwesenden Töchter. Marie-Luise wußte kaum, mit wem ihr Kind seine Tage verbrachte. Von den Schreibmaschine- und Stenographiestunden konnte ihre Zeit keinesfalls ganz ausgefüllt sein. Tilly schien neue Bekannte, vielleicht Freunde zu haben. Frau von Kammer hörte sie am Telefon plaudern und Verabredungen treffen. Es waren wohl Emigranten – Marie-Luise wußte, daß es ihrer ziemlich viele in Zürich gab. Tilly traf sich mit ihnen in den Kaffeehäusern. Niemals brachte sie einen dieser Menschen in die Mythenstraße. Frau von Kammer konnte dies als Rücksicht auffassen. Immerhin hätte das Kind ja einmal fragen können, ob die Mama einen ihrer neuen Bekannten bei sich zu empfangen wünsche. Wahrscheinlich würde Marie-Luise abgelehnt haben. Sie empfand kein Bedürfnis, Leute zu sehen, mit denen sie wohl kaum mehr gemeinsam hatte außer eben ein Gefühl: die Antipathie gegen die Nazis. Fraglich blieb nur – dachte Frau von Kammer – ob ihr ein Deutschland, das so, wie diese Emigranten sich’s wünschten, regiert war, erträglicher gewesen wäre als das Dritte Reich. Man durfte vermuten, daß die meisten jener Exilierten »Radikale« waren – ein Begriff, mit dem die Geheimratswitwe vage, aber keineswegs erfreuliche Vorstellungen verband. Da traf man sich also abends, in einer Wohnung, wo es gewiß recht unordentlich aussah, oder im Café, und diskutierte bösartig über die Revolution. Ein laut redender, reichlich Alkohol konsumierender Kreis – malte Marie-Luise sich aus – und eine von der Gesellschaft war also ihre Tochter Tilly. Manchmal mochte es ja recht angeregt zugehen; es wurde gelacht, Frau von Kammer hatte schon so lange nicht mehr laut und herzlich lachen hören. Aber nein: ihr Milieu war dies entschieden nicht … Da war, immer noch, die Einsamkeit besser.

Die Einsamkeit war nicht gut. Auf die Dauer wurde es fast unerträglich, durch die Straßen dieser schönen, sommerlichen Stadt zu gehen und zu niemandem sagen zu können: »Schau, wie die Flügel der Möwen heute wieder in der Sonne leuchten!« Oder: »Mir kommt es vor, als wäre der See heute noch blauer, als er gestern war.«

Das Leben in Zürich war heiter. Die schöne und reiche Stadt schien ihre Bürger – oder die Fremden, die in den gepflegten Hotels an der Bahnhofstraße, an den Seeufern logierten – vergessen lassen zu wollen, was im großen, tragischen Nachbarlande täglich, stündlich an Jammervollem und Bösem, an Schauerlichem und Gemeinem geschah. Zürich strahlte. An den freundlich bebauten, höchst zivilisierten Ufern seines Sees hatten Wohlstand und Biederkeit sich niedergelassen. In diesen besonnten Juniwochen meinte man, hier nur glückliche Menschen zu sehen; die Unglücklichen zeigten sich nicht. Die Badeanstalten am See waren überfüllt wie die eleganten Konditoreien, die Hotelterrassen, die Cafés, die populären Biergärten. Wohin man schaute – braungebrannte, lachende Gesichter. Junge Leute gingen in Nagelstiefeln und Leinenhosen umher, schwer beladen mit ihrem Rucksack und doch leichten Schrittes; sie kamen von Bergtouren, oder sie brachen gerade zu Exkursionen auf. Bei »Sprüngli« oder bei »Huguenin«, an der Bahnhofstraße, saßen die Mädchen und ihre Burschen in weißen Segelkostümen neben den alten Amerikanerinnen. Im Garten des Hotels »Baur au Lac« schmachtete die Zigeunerkapelle ihre Nachmittagsmusik; auf dem Paradeplatz klingelten munter die hübsch blau lackierten Trambahnwagen; die großen Limousinen aber glitten in vornehmer Stille über die Avenuen, Plätze, Brücken und Quais; denn: »in Zürich wird nicht gehupt, aber vorsichtig gefahren« – wie breite Spruchbänder an den Stadteingängen und an einigen Verkehrszentren mahnend verkündeten. Auf die Nerven des Publikums wurde jede erdenkliche Rücksicht genommen …

Liebenswürdig stand der Sommer dieser schönen Stadt zu Gesichte, wie einer hübschen Frau das lichte Kostüm, der breitrandige Strohhut stehen. Die Luft war mild und sehr weich; man meinte sie wie eine Liebkosung auf der Haut zu spüren. Die Konturen der Seeufer verschwammen in einem zartblauen, fast violetten Dunst. Es herrschte Föhnstimmung. Der warme Wind kam vom Gebirge her. Frau von Kammer hatte ein wenig Kopfschmerzen. Sie konnte den Föhn nicht vertragen.

Seit gestern hatte sie mit niemandem gesprochen, außer ein paar Worte mit dem Mädchen, das vormittags kam, um die Wohnung sauberzumachen. Tilly war verreist: »Ein paar Bekannte« – wie sie sich mit verletzender Ungenauigkeit ausdrückte – hatten sie zu einer Tour eingeladen. Nach dem einsamen Abendessen spazierte Frau von Kammer ziellos durch die Straßen: über den Paradeplatz, die Bahnhofstraße hinauf bis zum Bahnhof; die Bahnhofstraße wieder hinunter bis zum See; über die Quaibrücke bis zum Bellevueplatz. Sie überlegte, ob sie in ein Kino gehen sollte; aber das würde ihre Kopfschmerzen nur noch verschlimmern.

Auf dem Platz vor dem Stadttheater hatte sich ein Lunapark etabliert; ein Miniaturprater mit »Attraktionen«, Karussells, einer Bierhalle, Russischem Rad, Achterbahnen, Würstelverkäufern und Schießbuden. Von dort her kam der schöne, erregende Lärm, der immer zu den Rummelplätzen zieht: das Kreischen der Kinder und Frauen von all den schaukelnden, fliegenden, kreisenden, durch Finsternis gleitenden, ins Wasser stürzenden Folterstühlen, auf denen merkwürdigerweise Menschen sich freiwillig und zum Vergnügen niederlassen; die monoton-eindringliche Litanei der Ausrufer und Anpreiser, das Geknatter der Schießgewehre, der grölende Chorgesang der Bezechten; die Musik von drei Karussells, unbarmherzig gegeneinander ankämpfend. Es kamen auch die unverkennbaren und unwiderstehlichen Rummelplatzgerüche: Schmalzgebackenes, Türkischer Honig, Schweiß, Brathuhn, Schießpulver, scharfes Parfüm des Zirkus, Erbrochenes, kleine Kinder, Bier, noch einmal Türkischer Honig; und es kam, mit Geräuschen, Gerüchen und flirrenden Lichteffekten, der ganze Zauber, den diese Stätten auf den Einfachsten wie auf den Verwöhntesten üben.

Vor dem Russischen Rad war das Gedränge am dichtesten. Marie-Luise floh in eine Nebengasse des Barackendorfes, fand sich vor einer Bude und dachte: ›Ich kann ebensogut eintreten und die Attraktionen besichtigen. Hier gibt es zu sehen den »größten Menschen der Erde«, »den finnischen Goliath« – warum denn nicht, es kostet bloß fünfzehn Rappen.‹

 

Drinnen herrschte feierliches Halbdunkel. Es befanden sich nur wenig Menschen in dem scheunenartig weiten Raum. Die Stille hier war erstaunlich; eine verwesende Samtportière schien, mit beinah magischer Kraft, jeden Laut von draußen fernzuhalten. Die Augen der Besucherin mußten sich erst an das rötliche Dämmerlicht gewöhnen. Nicht ohne Mühe tappte sie sich zu den schmalen, lehnenlosen Bänken. Marie-Luise glaubte zu bemerken, daß außer ihr noch zwei Kinder anwesend waren, ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen; sie saßen eng aneinandergerückt und hielten sich an den Händen gefaßt. Ihre Münder waren weit geöffnet wie ihre Augen. Sie sahen gar nicht belustigt aus, sondern eher verängstigt.

In der Tat gab es Anlaß genug, sich zu fürchten. Das Erschreckende an dem jungen Mann, der vor dem öden Scheunenparkett auf dem Podium stand, war nicht so sehr seine schier unglaubliche Körperlänge, sondern die unbeschreibliche, ungeheure, wahrhaft bestürzende Traurigkeit seines Gesichtes. Es war eine sehr runde, sehr kleine, rote, babyhaft verhutzelte, von zahllosen Fältchen melancholisch durchzogene Miene: Marie-Luise meinte noch nie so eine hoffnungslos verzagte gesehen zu haben. Über dem leer-verzweifelten Blick waren die gewölbten Brauen drollig mit dem Kohlestift nachgezogen wie bei einem Clown. Auch die Tracht des Riesen hatte humoristischen Charakter: grünes Tirolerhütchen über der gräßlichen Babyfratze; grell karierte, zu enge Hosen; kurzes rotes Bolerojäckchen. Umso respektabler war der Herr gekleidet, der neben ihm stand und ihm kaum an die Brust reichte, obwohl er einen Zylinderhut trug. Im Gehrock, mit weißen Gamaschen und weißen Handschuhen, sah er wie ein etwas schäbiger Diplomat aus. Mit einem zierlichen, leichten Stab – wie Dirigenten oder Zauberkünstler ihn benützen – wies er, nachlässig-anmutig, auf den Trauerriesen. »Mein junger Freund ist der größte Mensch der Erde«, erklärte der Herr im Gehrock mit müde näselnder Stimme. »In weitem Abstand«, fügte er verächtlich hinzu, »folgt der sogenannte Riese Jack, zweieinhalb Zentimeter kleiner als mein junger Freund.« – Die Aussprache des Eleganten hatte einen feinen, unbestimmbar exotischen Akzent. »Mein junger Freund …« fuhr er fort, »äh …« Und nun schien er vor Langeweile schlechterdings nicht weiterzukönnen. Er gähnte ungeniert und verstummte mehrere Sekunden lang – ehe er einen frischen Anlauf nahm und hastig weiter berichtete: »Mein junger Freund ist zu Helsingfors in Finnland geboren.« Das Wort »Helsingfors« servierte der Gehrock wie eine besondere Delikatesse, alle Vokale auf eine höchst elegante und übrigens völlig willkürliche Art verändernd. »Seine beiden Eltern hatten normale Größe, seine Geschwister waren eher etwas zu klein, er selber war schon im zarten Alter von vierzehn Jahren zwei Meter lang, seine Verlobung mußte auseinandergehen, weil die Braut sich auf die Dauer vor seinem Körpermaß ängstigte, mein junger Freund ist physisch und geistig völlig gesund, seine Lieblingsspeise ist die bekannte dänische rote Grütze, willst du nicht ein Liedchen singen, Gustav?« Der Herr ließ den Zeigestab sinken, wandte sich angewidert von seinem Schützling ab, und, ohne auch nur Goliaths Kopfnicken abzuwarten, verließ er mit hastig trippelnden Schritten, als hätte man ihn beleidigt, das Podium. Der lange Gustav hub zu singen an:

»Muß i denn, muß i denn

zum Städtele hinaus …«

Die Stimme des armen Riesen kontrastierte verblüffend mit dem Format seines Körpers. Es war eine schrecklich kleine, durchaus verkümmerte Stimme, was sich da hören ließ; eine zwergische Stimme – hoch, dünn und piepsend. Ein mißzufriedener Säugling gibt so winzige greinende Töne von sich. »Zum Städtele hinaus …« wiederholte weinerlich die Mißgeburt, und Marie-Luise dachte: ›Warum singt er wohl gerade dieses Lied? Vielleicht ist es seine Lieblingsmelodie, oder er kennt gar keine andere … Schrecklich: er kennt wohl keine andere; dieses Lied ist gewissermaßen alles, was er kann und hat …‹

»Und du, mein Schatz, bleibst hier …«

An dieser Stelle kam aus dem dunklen Hintergrund der Scheune ein leiser Schrei. Eine Dame hatte ihn ausgestoßen; nun erhob sie sich hastig; ein klein wenig schwankend bewegte sie sich auf die Ausgangstür zu. Da war es an Marie-Luise, leise zu schreien. Sie erkannte die Dame, es war eine alte Freundin, die schöne Tilla Tibori, eine Schauspielerin.

Auch Frau von Kammer sprang auf. »Nicht möglich«, rief sie, »du hier, Tilla!« Marie-Luise küßte Tilla auf beide Wangen, hinter ihnen wimmerte das Wunder von Helsingfors noch einmal: »Und du, mein Schatz, bleibst hier …« Nun sang er also nur noch für die beiden Kinder in der ersten Reihe. Diese übrigens hatten, während Marie-Luise und Tilla sich umarmten, ein schrilles kleines Kichern hören lassen – sei es, weil sie die Kußzeremonie zwischen den Damen drollig fanden; sei es, weil der Riese sie amüsierte. Die Kinder, in der Scheune mit Goliath allein gelassen, rückten noch enger aneinander und flüsterten sich zu: »Uii … Jetzt wird’s fein!« – als sollte der Hauptspaß nun erst beginnen, während die Veranstaltung in Wahrheit doch schon ihrem Ende zuging.

Die Freundinnen standen im Freien; Lärm, Geruch und billiges Gefunkel des Volksfestes empfingen sie. Marie-Luise und Tilla hatten es eilig, den Bezirk des Rummelplatzes hinter sich zu lassen. Zunächst waren sie beide viel zu überrascht von dieser Wiederbegegnung – nach so vielen Jahren! Und in so groteskem Milieu! – um Zeit zur Gerührtheit zu finden. Als sie aber die stillere Seepromenade erreicht hatten, legten sie sich gegenseitig die Arme auf die Schultern und betrachteten sich. Beide mußten denken: ›Mein Gott, die Ärmste – sie ist auch nicht jünger geworden. Und ein Übermaß an Verkehr scheint sie auch nicht gerade zu haben, wenn sie sich alleine zu so traurigen Belustigungen begibt …‹

Marie-Luise und Tilla waren als Schulmädchen in Hannover gute Freundinnen gewesen, obwohl Tilla mehrere Jahre jünger als die kleine von Seydewitz war. Sie hieß damals noch nicht Tibori – diesen Namen hatte sie sich erst zugelegt, als sie zur Bühne ging – sondern Hamburger. Ihrem Vater gehörte das größte Warenhaus am Ort. Die Hannoveraner Gesellschaft hatte den intimen Verkehr zwischen den jungen Mädchen – ein Umgang, der vom alten General Seydewitz nicht nur geduldet, sondern geradezu protegiert wurde – als etwas anstößig empfunden. Hamburgers waren zwar respektable Leute, auch wohlhabend; aber die kleine Tilla sah eben doch unerlaubt orientalisch aus mit ihren weiten, mandelförmig geschnittenen, dunklen, verführerisch feuchten Augen. Marie-Luise ihrerseits, spröd und ziemlich ungelenk, wie sie war, adorierte die reizbegnadete Freundin.

Erst als Tilla anfing, in Berlin Erfolg zu haben, und Marie-Luise den Professor von Kammer heiratete, begann die Entfremdung. Wie lang war das her? »Long long ago«, wie die Tibori nun konstatierte. Ihre Stimme hatte noch den vollen, süßen und tiefen Klang; nur schien jetzt ein Unter- und Nebenton von Klage mitzuschwingen. Wie alt mochte die Schauspielerin sein? Marie-Luise rechnete geschwind, mit jener grausamen Genauigkeit, die Frauen stets haben, wenn sie das Alter ihrer Freundinnen kontrollieren. Sie kam zu dem Resultat: mindestens vierundvierzig. Dafür sah sie fabelhaft aus. Immer noch war sie die auffallend attraktive Erscheinung – hochelegant, in ihrem leichten, dunkelblauen, mit schwarzem Schleier etwas phantastisch drapierten Kostüm, la belle Juive, immer noch, bei deren Anblick Herren animiert mit der Zunge schnalzen. Aber gewisse Schärfen gab es nun doch in Tillas schönem Gesicht – wie die aus echter Sympathie und leichter Schadenfreude gemischte Aufmerksamkeit der älteren Freundin konstatierte – der dunkelrot gefärbte, große, stark geschwungene Mund wurde an den Winkeln von zwei müden kleinen Falten gesenkt; die Haut schien ein wenig angegriffen, matt und flaumig geworden, und die Beweglichkeit der etwas zu großen Nüstern hatte einen nervösen Charakter – den Charakter eines unruhigen, nach erregenden Gerüchen gierigen Schnupperns bekommen.

Sie gingen, Arm in Arm, die Seepromenade entlang, weg von der Stadt. Die Bogenlampen wurden seltener, streckenweise lag der Weg im Dunkel, von den Bänken, die diskret zwischen den Gebüschen verborgen lagen, flüsterten die Liebespaare, ihre gedämpften Gelächter vermischten sich mit dem monotonen, ganz leisen Plätschern des Sees. Die Freundinnen blieben stehen und schauten über das Wasser. »Hübsch, wie drüben auf dem anderen Ufer die Lichter allmählich ausgehen«, sagte Marie-Luise. »Und wie die letzten sich im Wasser spiegeln …«

Beide mußten daran denken, wie oft sie früher – Arm in Arm wie jetzt – durch eine milde Nacht wie diese spaziert waren – und Wasser hatte es damals wohl auch gegeben, und Lichter, die sich darin spiegelten. »Es ist wirklich beinah dreißig Jahre her …« sagte eine von ihnen; vor einer halben Stunde hatten sie die erschreckende Zahl einander noch nicht eingestehen wollen. Und Tilla, nach einer großen Pause: »Es ist, um schrecklich sentimental zu werden … Ich fürchte, wir sind es schon. Gehen wir lieber in ein Café.«

Im Garten des Cafés »Terrasse« war es noch ziemlich voll. Unter den Bäumen hatte man bunte Lampions angebracht; es sah nach Italienischer Nacht aus, nach »garden party«, und mondäner sommerlicher Geselligkeit. – »Hier ist es ja wirklich ganz nett«, bemerkte Marie-Luise, die sich neugierig und befangen umschaute. »Warum sollte es denn nicht ganz nett sein?« lachte Tilla. »Bist du denn noch nie hier gewesen?« – Darauf Marie-Luise, etwas beschämt: »Nein – zufällig noch nicht … Ich glaube, meine Tochter kommt manchmal her«, fügte sie mit einem gewissen Stolz hinzu. Tilla wurde vom Nachbartisch gegrüßt. »Es sind Kollegen von mir«, erklärte sie. »Mit einigen von ihnen habe ich noch voriges Jahr in Frankfurt zusammen gespielt. Die sind jetzt hier, am Schauspielhaus, engagiert.« – ›Da haben wir also die »Emigrantenkreise«‹, dachte Marie-Luise. ›So arg sehen sie gar nicht aus. Ob Bekannte von Tilly darunter sind?‹

Nun erst – sie waren schon über eine Stunde zusammen – begannen die Freundinnen so recht, sich auszufragen: »Was treibst du in Zürich? Wie lange bist du schon hier?« Tilla berichtete, seit einem Vierteljahr habe sie alle ihre Energien darauf konzentriert, perfekt Englisch zu lernen. – »In Zürich?« wunderte sich Marie-Luise. London sei ihr zu teuer gewesen, erklärte Tilla. »Hier lebe ich – bei einem Freund.« Dabei lief eine leichte Röte über die flaumige, strapazierte Haut ihres schönen Gesichtes. Sie senkte die Lider mit den langen, starren künstlichen Wimpern und betrachtete interessiert ihre langen, silbrig-rosa gefärbten Fingernägel. Zwischen den Augenbrauen trat plötzlich ein angestrengter, gequälter Zug hervor. »Es ist zu dumm«, sagte sie, leise und dunkel – ihre Stimme hatte jetzt einen seltsam hohlen Ton – »es ist zu dumm: wirklich. Man hat nichts zurückgelegt, einfach gar nichts. Man hat gut verdient«, rief sie und hatte ein heiseres kleines Lachen. »Man hat noch besser gelebt – und nun sitzt man da!« Mit einer weiten, theatralisch stilisierten Armbewegung, welche durch die schwarze Schleierdraperie auf ihrem Kostüm besonders effektvoll gemacht wurde, schien sie andeuten zu wollen, wie man nun »dasäße«. Die Kostbarkeit ihrer Toilette, die wunderbare Herrichtung ihres Gesichtes verloren im Zusammenhang mit ihren Worten und dem Klang ihrer Stimme den Charakter des Selbstverständlichen, nachlässig Eleganten, den sie zunächst vortäuschten. Alles, was an Tilla Tibori noch schön war, wirkte nun wie das Ergebnis harter, permanenter Anstrengungen; der Gewinn eines langen, wahrscheinlich oft qualvollen Kampfes. »Ein Agent will mich nach Hollywood bringen, sowie mein Englisch gut genug ist«, sagte sie noch, etwas hastig. »Nun – man muß alles versuchen …«

»Und du?« erkundigte sie sich dann. »Wir reden ja nur von mir, das ist langweilig. Warum bist du denn eigentlich von Deutschland weg, du, mit deiner garantiert reinen Rasse?«

Marie-Luise schwieg ein paar Sekunden lang, als müßte sie sich erst besinnen, warum sie eigentlich von Deutschland fort war. Schließlich sagte sie nur: »Das war doch ganz selbstverständlich. Ich bin die Frau eines Juden gewesen. – Und glaubst du denn, daß ich mich von meinen erwachsenen Töchtern verachten lassen wollte?« – Sie erschrak sofort selber ein wenig darüber, daß sie diesen Satz ausgesprochen hatte. Er war aufrichtiger, als sie jemals zu reden – und als sie meistens zu denken wagte. Tilla hatte ein zweites Glas Portwein für sie bestellt. Frau von Kammer, an Alkohol nicht gewöhnt, spürte die Wirkung.

›Wie wunderbar hochmütig sie jetzt aussieht!‹ fand ihre Freundin. ›Genau dieses Gesicht hat sie als junges Mädchen gemacht, wenn eine Lehrerin oder Kameradin sie geärgert hatte und sie mit ihrem vernichtenden Achselzucken zu sagen schien: Was könnt ihr mir anhaben? Was soll ich mich mit euch abgeben? Ich bin die Baronesse von Seydewitz!‹

 

»Du mußt mir von deinen Töchtern erzählen«, bat die Schauspielerin. »Marion ist doch sicher schon eine große Dame. Und wie heißt die zweite?« – »Tilly«, sagte Marie-Luise. »Ja, mein guter Alfred mochte den Namen, und mir machte es Freude, sie nach dir zu nennen.« – »Hoffentlich bringt es ihr Glück«, sagte Frau Tibori, plötzlich merkwürdig ernst, den Blick starr geradeaus gerichtet.

Nach einer Pause war es Marie-Luise, die wieder zu sprechen begann. »Haben wir uns denn gar nicht mehr gesehen und nicht einmal korrespondiert, seit Tilly geboren ist?« Beide waren erstaunt, auch beschämt. »Jetzt wird das anders«, versprachen sie sich. »Mein Gott, was muß erst alles passieren, damit zwei alte Dinger wie wir – die wir doch wahrhaftig mal zueinander gehört haben – sich wiederfinden!«

»Nächstens werde ich dir meine Tilly vorstellen«, verhieß Marie-Luise. »Ein famoses Mädel. Sie ist gerade für ein paar Tage in Arosa, mit Freunden.«

Tilly war keineswegs nach Arosa gefahren, vielmehr nach Berlin. Ihre Unruhe, ihre Angst um Konni waren übermäßig groß geworden; es kam keine Nachricht von ihm, sie wußte nicht, wo er war, nicht einmal, ob er noch lebte; dies war nicht auszuhalten, keine Folter konnte ärger sein. Den Warnungen ihrer neuen Züricher Freunde zum Trotz entschloß sie sich zu der Reise.

Es war merkwürdig, am Anhalter Bahnhof anzukommen; den Potsdamer Platz wiederzusehen, die Tiergartenstraße, den Kurfürstendamm. Tilly ward das Gefühl nicht los, daß sie träume. Vielleicht, weil sie in so vielen Nächten während der letzten Wochen von all dem geträumt hatte. Wie fremd – wie vertraut schaute die Gedächtniskirche sie an! Das Warenhaus »Kadewe« am Wittenbergplatz, die Kinos und Cafés der Tauentzienstraße, die staubigen Bäume wie traumfremd, wie traumvertraut! Sie war kaum vier Monate fort gewesen, es hatte sich nichts verändert. – Es hatte sich alles verändert. Sogar der Himmel über Berlin sah anders aus als früher; er war glasig erstarrt – schien es Tilly – und er schickte ein fahles Licht.

Ihr Aufenthalt war kurz und übrigens völlig ergebnislos. Sie logierte bei einer Freundin, die ihrerseits in Beziehung zu den Genossen stand. Mit diesen traf sich Tilly, an dritter Stelle, nachts, unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln. Einen der jungen Männer hatte sie schon früher durch Konni kennengelernt: er war Student der Philosophie und trug eine große Hornbrille im kindlich weichen, rosigen Vollmondgesicht. Der andere schien ein strebsamer, gescheiter Proletarier zu sein; der Anzug kleinbürgerlich-korrekt; die Miene von einem verbissenen, fast drohenden Ernst. Sie stellten sich als Fritz und Willy vor, sprachen mit gedämpften Stimmen – obwohl man sich in einer leeren, vielfach verschlossenen, isoliert gelegenen Wohnung befand – und hatten die nervöse Gewohnheit, ständig um sich zu blicken, zuweilen, mitten im Satze, jäh aufzuspringen und zur Tür zu eilen, um festzustellen, ob sich hinter ihr jemand verbarg.

Von ihnen erfuhr Tilly, daß Konni sich im Konzentrationslager Oranienburg befinde; der Student mit dem runden Gesicht hatte ihn einmal besuchen können und versicherte: »Es geht ihm leidlich. Man hat ihn verhältnismäßig wenig geprügelt.« – »Verhältnismäßig wenig …« wiederholte Tilly und schüttelte langsam den Kopf. »Es ist unfaßbar … unfaßbar …« Sie sagte es mit einer ganz leisen Stimme. Dann fragte sie schüchtern: »Wie lange, glauben Sie, wird man ihn dort behalten?« Die jungen Männer, die sich Fritz und Willy nannten, sahen sich an und hatten beide ein kaum merkbares Lächeln, das gutmütigen Spott und etwas Bitterkeit ausdrückte. Endlich sagte der Proletarische: »Wenn man das wüßte …«

Es gab ein Schweigen. Endlich stand Tilly auf, machte ein paar Schritte durchs Zimmer und erklärte: »Ich muß ihn sehen.« Da erwiderten die beiden wie aus einem Munde: »Das geht nicht.« Sie könne ihren Konni keinesfalls besuchen – setzten sie der armen Tilly auseinander. Sie sei der Gestapo sehr wohl bekannt; sei denunziert worden; man argwöhne, daß sie bei der Sache mit den Flugblättern im Universitätsgebäude mitgemacht habe. Tilly warf ein: »Das ist aber Unsinn!« Und der Philosophiestudent: »Darauf kommt es nicht an. – Ich gebe Ihnen den Rat: Hauen Sie ab! Fahren Sie möglichst schnell dorthin, woher Sie gekommen sind!« Es klang barsch, beinah unfreundlich. »Hier können Sie nichts nützen, nur schaden. Die illegale Arbeit ist nicht jedermanns Sache; dazu braucht man mehr als die rechte Gesinnung, und sogar mehr als nur Courage; nämlich: Erfahrung; Training – wie zu einem Sport.« Versöhnlicher fügte er hinzu, da er das Mädchen mit den Tränen kämpfen sah: »Wenn ich den Konni wieder mal sehen sollte, werde ich ihm erzählen, daß Sie hier gewesen sind; daß Sie an ihn denken. – Vielleicht lassen sie ihn doch bald raus …« sagte er tröstlich, gerührt durch den Anblick von Tillys zitterndem Kinn und ihren Augen, die naß wurden.

Frau von Kammer wunderte sich darüber, daß ihre Tochter durchaus nicht braungebrannt und frisch, vielmehr recht blaß und erschöpft von ihrem Ausflug zurückkam. – Tilly berichtete dem H.S., nach Prag, über ihre mißglückte Reise. »Du hast also recht gehabt« – da er sie in allen seinen Briefen »Du« nannte, hätte sie es unhöflich gefunden, ihn mit »Sie« anzureden – »es war sinnlos. Ich habe den Konni nicht sehen können. Die Nazis zeigen ihre Opfer nicht her. Berlin hat sich schrecklich verändert. Ich war nur drei Tage dort und habe fast die ganze Zeit geweint.«

Während sie das Briefcouvert schloß, dachte sie – zum wievielten Male?: ›Was mag das wohl für ein Mensch sein, dieser H.S.? Ist er groß oder klein? Blond oder schwarz? Wie heißt er? Ist er ein intimer Freund von Konni?‹

›Was mag das wohl für ein Mensch sein, dieses Mädchen?‹ dachte Hans Schütte. Er wohnte mit seinem Freund Ernst zusammen in einem recht engen Zimmer. Das Zimmer kostete hundertzwanzig Tschechenkronen im Monat. Es lag unbequem, etwas außerhalb der Stadt, in Košire. Man brauchte vom Zentrum aus zwanzig Minuten mit der Trambahn. Die Trambahn fuhr eine trostlos lange Vorstadtstraße hinunter: die Pilsener Straße. Hans und Ernst lernten es allmählich, auch ihren tschechischen Namen auszusprechen; er lautete: Plzeňská.

Hans war fünfundzwanzig, Ernst siebenundzwanzig Jahre alt. Ernst war Sozialdemokrat gewesen und hatte in Berlin ein gutes Auskommen gehabt, erst als Schupo, dann als Privatchauffeur eines sozialdemokratischen Polizeipräsidenten. Er war ein nett aussehender Bursche von slawischem Gesichtstyp, wie man ihn in Berlin häufig findet. Hans war kleiner und stämmiger als Ernst: mit rundem Schädel, auf dem er das dichte, dunkle Haar kurz geschoren trug; runden, gutmütigen, etwas vortretenden braunen Augen.

Er hatte keiner Partei angehört, war aber mit den Kommunisten in Verbindung gewesen und hatte mit ihnen zusammen manchmal »ein Ding gedreht«, wie er es nannte. Das heißt: er hatte sich gelegentlich an kleinen Aktionen gegen die Nazis oder am Saalschutz bei Versammlungen beteiligt. Er war brauchbar und tapfer; aber er konnte sich nicht unterordnen und mußte sich immer wieder sagen lassen, daß er »keine Disziplin« habe. Wenn man ihn aufforderte, in die Partei einzutreten, erklärte er: »Das ist nichts für mich. Ich passe in keine Organisation. Überhaupt bin ich kein Politiker. Mir fällt nur auf, daß es in dieser Welt sehr viel Dreck gibt. Ich weiß noch nicht recht, wie man den am besten wegschafft. Oft möchte ich am liebsten alles zusammenhauen. Es gibt zuviel Scheiße.«