Klaus Mann - Das literarische Werk

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Dem Staatstheater, dessen Bühne du schon seit Wochen nicht mehr hattest betreten dürfen, wurde mitgeteilt, du hättest ein Autounglück gehabt. Man nahm die Nachricht mit Fassung auf und war keineswegs geneigt, ihre Richtigkeit nachzuprüfen. Fräulein Lindenthal meinte: »Schrecklich, ein so junger Bursch. Übrigens hatte ich nie besondere Sympathie für ihn. Er sah irgendwie beunruhigend aus – finden Sie nicht auch, Hendrik? Er hatte so böse Augen …«

Dieses Mal gab Hendrik seiner einflußreichen Freundin keine Antwort. Ihm graute davor, sich das Gesicht des jungen Hans Miklas vorzustellen. Es erschien ihm aber, ob er es wollte oder nicht. Da stand es vor ihm, ganz deutlich in der Dämmerung des Korridors. Die Augen waren geschlossen, auf der Stirne lag Glanz. Die trotzig vorgeschobenen Lippen bewegten sich. Was sprachen sie denn? Hendrik wendete sich ab und floh, rettete sich in den Betrieb des Tages, um die Botschaft nicht vernehmen zu müssen, die für ihn dieses strenge, vom Tode zauberhaft verschönte Antlitz hatte.

9
In vielen Städten

Die Monate vergehen, das Jahr 1933 ist vorüber; ein großes Jahr, wenn man den Journalisten glauben darf, die ihre Meinung und Gesinnung von einem Ministerium für Propaganda in Berlin diktiert bekommen; das Jahr der Erfüllung, des Triumphes, des Sieges; das Jahr, in dem die deutsche Nation erwachte, glorreich zu sich selbst und zu ihrem Führer fand.

Ein erfreuliches, glänzendes Jahr für den Schauspieler Höfgen, soviel ist sicher. Es begann mit Sorgen, aber es endete in lauter Wohlgefallen. Zuversichtlich und in bester Laune darf Hendrik, der Vielgewandte, das Jahr 1934 beginnen. Er ist der Huld der Mächtigen sicher. Auf die Gnade des Ministerpräsidenten kann er sich verlassen. Der große Mann hält über ihn seine breite, schützende Hand. Er betrachtet Höfgen-Mephistopheles als eine Art von Hofnarren und brillanten Schalk, als ein drolliges Spielzeug. Längst ist dem Schauspieler seine verdächtige Vergangenheit als Künstlertorheit verziehen. Die Negerin mit der Peitsche ist ihm vom Halse geschafft. Höfgen darf viele und schöne Rollen spielen. Er darf filmen und verdient schweres Geld. Der Ministerpräsident empfängt ihn häufig. Fast so unbefangen wie früher in das Büro des Direktors Schmitz oder des Fräulein Bernhard tritt der Komödiant nun in die Amtsräume oder in die Privatgemächer des Generals.

»Denn dir die Grillen zu verjagen,

bin ich als edler Junker hier«,

begrüßt Hendrik mit keckem Faust-Zitat den Gewaltigen. Nach all seinen blutigen und glanzvollen Geschäften weiß der Mächtige sich keine nettere Erholung, als mit dem Schalksnarren zu tändeln. Fräulein Lindenthal hätte beinah Anlaß zur Eifersucht. Aber sie ist ja gutmütig, und übrigens hat sie ihrerseits eine Schwäche für Hendrik Höfgen. Was für ein Ansehen, welchen Nimbus verschafft diesem in weiten Kreisen seine allgemein bekannte, überall besprochene Freundschaft mit dem gefürchteten Dicken!

Bewund’rung von Kindern und Affen,

wenn Euch darnach der Gaumen steht …

Hieran muß Hendrik zuweilen denken angesichts der Schmeicheleien, der devoten Liebenswürdigkeiten, mit denen die Kollegen und die Dichter, die Damen der neuen »Gesellschaft« und sogar Politiker ihn nun traktieren. Steht ihm der Gaumen wirklich nach dem zuckersüßen Gelispel des deutschen Nationalisten Monsieur Pierre Larue? Ergötzt er sich wahrhaftig an den literarisch pointierten Komplimenten des Doktor Erding, an den weltmännischen Artigkeiten des Herrn Müller-Andreä? Otto Ulrichs, dem alten Freund, gegenüber äußert er sich verächtlich über die »ganze verfluchte Bande«. Aber schmecken sie ihm nicht doch süß, all die Ergebenheitsbeteuerungen, die gehäuften Aufmerksamkeiten? Mundet nicht doch der Champagner am Tische Pierre Larues im Hotel Esplanade, geschlürft im schönen Kreise dekorativer SS-Jünglinge?

Hendrik hatte zahlreiche Freunde, es gab possierliche Figuren unter ihnen. Der Dichter Pelz zum Beispiel, für dessen höchst anspruchsvolle, schwer begreifbare, auf dunkle Art hinreißende Lyrik junge Menschen, die nun größtenteils in der Verbannung saßen, sich bis zur Verzückung begeistert hatten – Benjamin Pelz, ein kleiner gedrungener Mann mit sanften, blauen und kalten Augen, hängenden Wangen und einem dicken, grausam-lüsternen Mund, erklärte in intimer Unterhaltung, daß er den Nationalsozialismus liebe, weil dieser eine Zivilisation, deren mechanische Ordnung unerträglich geworden sei, ganz und gar vernichten werde, weil er zum Abgrund führe, den Geruch des Todes habe und unermeßliche Schmerzen ausschütten werde über den Erdteil, der im Begriff gewesen sei, halb zur tadellos organisierten Fabrik, halb zum Sanatorium für Schwächlinge zu entarten. »Das Leben in den Demokratien war ungefährlich geworden«, sprach tadelnd der Dichter Pelz. »Unserem Dasein kam das heroische Pathos mehr und mehr abhanden. Das Schauspiel, dem wir heute beiwohnen dürfen, ist das der Geburt eines neuen Menschentyps oder vielmehr: das der Wiedergeburt eines sehr alten, archaisch-magisch-kriegerischen. Welch atemberaubend schönes Schauspiel! Was für ein erregender Prozeß! Seien Sie stolz darauf, lieber Höfgen, daß Sie aktiv an ihm teilhaben dürfen!« Dabei betrachtete er Hendrik liebevoll aus seinen sanften, eisigen Augen. »Das Leben bekommt wieder Rhythmus und Reiz, es erwacht aus seiner Erstarrung, bald wird es wieder, wie in schönen, versunkenen Epochen, die heftige Bewegtheit des Tanzes haben. Für Menschen, die nicht zu sehen und nicht zu hören verstehen, könnte der neue Rhythmus wie das einexerzierte Tempo des Marschierens wirken. Dummköpfe lassen sich täuschen durch die äußere Straffheit des militant-archaischen Lebensstils. Welch grober Irrtum! In Wahrheit wird jetzt nicht marschiert, sondern getaumelt. Unser geliebter Führer reißt uns in die Dunkelheit und ins Nichts. Wie sollten wir Dichter, die wir unsere besonderen Beziehungen zur Dunkelheit und zum Abgrund haben, ihn dafür nicht bewundern? Es ist wahrhaftig nicht übertrieben, unseren Führer göttlich zu nennen. Er ist die unterweltliche Gottheit, die allen magisch-eingeweihten Völkern die heiligste war. Ich bewundere ihn grenzenlos, weil ich die öde Tyrannei der Vernunft und den spießbürgerlichen Fetischbegriff des Fortschritts grenzenlos hasse. Alle Dichter, die solchen Namen verdienen, sind die geborenen und verschworenen Feinde des Fortschritts. Das Dichten selbst ist ja Rückfall in heiligfrühe, vor-zivilisierte Zustände der Menschheit. Dichten und Töten, Blut und Lied, Mord und Hymne: das paßt zueinander. Alles paßt zueinander, was über die Zivilisation hinaus und tief hinunterreicht in die geheime, gefahrenreiche Schicht. – Ja, ich liebe die Katastrophe«, sagte Pelz, wobei er sein Antlitz mit den melancholisch hängenden Wangen nach vorne neigte und lächelte, als schmeckten seine dicken Lippen Süßigkeit oder Küsse. »Ich bin begierig auf die tödlichen Abenteuer, auf den Abgrund, auf das Erlebnis der extremen Situation, die den Menschen außerhalb der zivilisatorischen Bindungen stellt, in jene Gegend, wo keine Versicherungsgesellschaft, keine Polizei, kein komfortables Lazarett ihn mehr schützen vor dem unbarmherzigen Zugriff der Elemente und eines raubtierhaften Feindes. Wir werden dies alles erleben, verlassen Sie sich darauf, wir werden Schauerliches genießen, mir kann es gar nicht schaurig genug sein. Man ist noch immer zu zahm – unser großer Führer darf wohl noch nicht ganz so, wie er möchte. Wo bleiben die öffentlichen Folterungen? Die Verbrennung der humanitären Schwätzer und der rationalistischen Flachköpfe?« Hierbei klopfte Pelz ungeduldig mit einem kleinen Löffel gegen die Kaffeetasse, als riefe er den Kellner, der ihn auf ein Autodafé gar zu lange warten ließe. »Warum immer noch diese nicht mehr angebrachte Diskretion, diese falsche Scham, die das schöne Fest der Marterungen hinter den Mauern der Konzentrationslager versteckt?« fragte er streng. »Und verbrannt hat man, meines Wissens, bis jetzt nur Bücher, das ist doch nichts. – Aber unser Führer wird uns schon noch anderes liefern, ich verlasse mich fest auf ihn. Feuerscheine am Horizont, Blutbäche auf allen Wegen, und ein besessenes Tanzen der Überlebenden, der noch Verschonten um die Leichen!« Der Poet wurde von einer fröhlichen Zuversichtlichkeit ergriffen, was die Schrecknisse der nächsten Zukunft betraf. Mit gewählter Höflichkeit, die Hände in frommer Haltung auf der Brust gefaltet, versicherte er Hendrik: »Und Sie, mein lieber Herr Höfgen, Sie werden zu denen gehören, die am zierlichsten über Kadaver hüpfen. Sie haben das Gesicht dazu, ich sehe es Ihnen an. Sie sind ein sehr anmutiger Sohn der Unterwelt, es ist kein Zufall, daß der Herr Ministerpräsident Sie auszeichnet. Sie besitzen den echten, produktiven Zynismus des radikalen Genies. Ich schätze Sie außerordentlich, mein sehr lieber Herr Höfgen.«

Dergleichen wunderliche und fragwürdige Komplimente hörte Hendrik sich an, aasig lächelnd und mit rätselhaft schillernden Augen. – Nicht jedermann hatte so tiefe und raffinierte Gründe wie der Dichter Pelz für seine neuentdeckte Liebe zum Nationalsozialismus. Andere erklärten schlicht: »Ich bin und bleibe ein deutscher Künstler und ein deutscher Patriot, wer immer auch in meinem Vaterland regieren möge. Mir gefällt es in Berlin besser als irgendwo sonst auf der Welt, und ich habe nicht die geringste Lust abzureisen. Übrigens würde ich nirgends annähernd so viel Geld verdienen wie hier.«

Es war der dicke Charakterspieler Joachim, der sich abends am Biertisch also vernehmen ließ. Bei dem wußte man wenigstens, woran man war. Er wäre emigriert und ein temperamentvoller Antifaschist geworden, hätte man ihm nur ein fettes Angebot aus Hollywood gemacht. Dieses Angebot indessen blieb leider aus: Joachim, der zu den berühmtesten deutschen Schauspielern gehört hatte, war nicht mehr ganz auf der Höhe. Deshalb erklärte er nun mit der Miene des Biedermanns im Kreis der Kollegen: »Wo gibt es denn noch ein so gutes Bier wie hier in unserem Altdeutschen Keller. Kann mir das vielleicht jemand sagen?« Er schaute herausfordernd und etwas tückisch um sich. Sein großes, ausdrucksvolles Gesicht mit den schwammigen Backen und den kleinen, mißtrauischen Augen hatte die trügerische Gutmütigkeit des Bären, der so drollig und ungeschlacht scheint, jedoch von allen Raubtieren das grausamste ist. Schmeichler versicherten dem Charakterspieler Joachim, er habe eine entschiedene Ähnlichkeit mit dem Herrn Ministerpräsidenten. Dann schmunzelte der Mime. Hingegen wurde er furchtbar zornig, wenn ihm zu Ohren kam, jemand habe von ihm behauptet, er sei Halbjude. »Der Schuft soll herkommen!« schrie Joachim, dessen Gesicht purpurn anlief. »Ich möchte doch wissen, ob er es wagt, mir ins Gesicht hinein den frechen Schwindel zu wiederholen! So eine Gemeinheit! Einem deutschen Mann die Ehre abzuschneiden!«

 

Das schreckliche Gerücht um den Charakterspieler wollte nicht verstummen. Immer wieder wurde gemunkelt: mit einer seiner Großmütter habe was nicht gestimmt. Der deutsche Mann ließ durch Detektive feststellen, wer die infamen Verleumder waren. Mehrere Personen kamen ins Konzentrationslager, weil sie die Großmutter des Tragöden verdächtigt hatten. »Die Gemeinheit darf sich hier nicht mehr ungestraft austoben«, stellte Joachim mit Befriedigung fest. Er besuchte seine einflußreichsten Freunde und Kollegen, um ihnen noch einmal, von Mann zu Mann, ausdrücklich zu versichern, daß er für die tadellose Rasse seiner Ahnen garantieren könne. »Hand aufs Herz«, sagte Joachim zu Höfgen, dem er an einem Sonntagvormittag nicht ohne Feierlichkeit Visite machte. »Bei mir ist alles in Ordnung. Alles wie es sein soll, ich habe mir nicht das mindeste vorzuwerfen.« Er blickte mit treuen Hundeaugen von unten, wie er es zu tun pflegte, wenn er rauhe, aber herzensgute Väter spielte, die sich mit ihren Söhnen erst zanken, dann unter Tränenausbrüchen versöhnen. »Jeden, der das Gegenteil behauptet, muß ich leider einsperren lassen«, sprach mit einem schmalzigen Ton in der Stimme abschließend der deutsche Mann. »Denn wir leben in einem Rechtsstaat.« Dieser Ansicht konnte Hendrik Höfgen sich nur anschließen. Er bot dem Kollegen, der mit so lobenswertem Eifer um seine Ehre kämpfte, Zigarren und köstlichen alten Cognac an. Die Vormittagsstunde zwischen den beiden Künstlern wurde heiter und traulich. Zum Abschied umarmte Joachim den Kollegen Höfgen mit der täppischen Bewegung des Bären, der seinen Gegner in der Umschlingung erdrückt, und er bat darum, Fräulein Lindenthal herzlichst von ihm zu grüßen.

Solche Freunde hatte Höfgen nun – teils interessante Menschen wie Pelz, teils herzensgute wie Joachim. Wo aber lebten die, welche er früher seine Freunde genannt hatte? Was war aus ihnen geworden?

Barbara hatte ihm aus Paris geschrieben, daß sie wünsche, sich scheiden zu lassen. Die gerichtlichen Formalitäten wurden in Abwesenheit der beiden Ehegatten schnell und leicht durchgeführt. Es bedurfte keines besonderen Scheidungsgrundes: die Richter hatten Verständnis dafür, daß ein Mann in der Stellung und von der Gesinnung Höfgens – prominentes Mitglied des Preußischen Staatstheaters und persönlicher Freund des Herrn Ministerpräsidenten – keinesfalls mit einer Dame verheiratet bleiben konnte, die als Emigrantin im Ausland lebte, aus ihrer staatsfeindlichen Gesinnung kein Hehl machte und übrigens, wie sich neuerdings herausgestellt hatte, von unreiner Rasse war. Ihrem politisch schwer kompromittierten Vater, dem Geheimrat, jüdisches Blut nachzusagen, wagten selbst die professionellen Lügner der nationalsozialistischen Presse nicht. Was man ihm aber vorzuwerfen hatte, war womöglich noch ärger und unverzeihlicher: er hatte »Rassenschande« getrieben, seine Gattin, die Tochter des Generals, war keine einwandfreie »Arierin« gewesen. Nicht umsonst hatte Barbaras Großvater, der hohe Offizier, von dessen militärischen Verdiensten plötzlich niemand mehr etwas wissen wollte, immer verdächtig liberale Neigungen gehabt. Auch die geistige Angeregtheit der Generalin, die weit über das in Offizierskreisen übliche und statthafte Maß hinausging, erklärte sich nun auf die einfachste, aber peinlichste Weise. Der General war kein deutscher Volksgenosse gewesen, sondern ein Untermensch und Semit: Wilhelm II. hatte es wohlwollend übersehen; aber ein Nürnberger Antisemitenblatt brachte es an den Tag. Eine halbe Semitin war auch die Generalin: Das Pogromblatt konnte es beweisen. Was nützten ihr nun eine große, glanzvolle Vergangenheit, ihre fürstliche Schönheit und all ihre Würde? Ein schmieriger Skribent und ungewaschener Geselle, der in seinem Leben keinen korrekten deutschen Satz zustande gebracht hatte, durfte feststellen, daß sie nicht zur nationalen Gemeinschaft gehöre.

Barbara ihrerseits also hatte über dreißig Prozent schlechten Blutes: schon dieser Umstand würde dem deutschen Gericht als Scheidungsgrund genügt haben. Blonde Rheinländer haben Anspruch auf ein tadellos reinrassiges Eheweib. Eine Frau wie Barbara aber hätte Hendrik sich selbst dann nicht gefallen lassen müssen, wenn sie garantierte »Arierin« gewesen wäre. Es war ja eine Schande und ein offener Skandal, wie sie es trieb!

Sie hatte Paris nicht verlassen, seit sie im Februar 1933 dort eingetroffen war. Jeder, der sie von früher her kannte, mußte bemerken, daß sie verändert war. Alles Träumerische war von ihr abgefallen, und sie schien kaum noch geneigt zu wehmütigen oder heiteren Spielen. Ihr Gesicht hatte einen Zug von Entschlossenheit bekommen: er saß zwischen den Augenbrauen, er beherrschte die Stirn. Sogar ihr Gang, der ehemals schlendernd gewesen war, verriet nun eine neue Energie. So bewegt sich jemand, der ein Ziel hat und nicht ruhen will, ehe es erreicht und erobert ist.

Barbara, die sich mit kleinen Zeichnungen und schweren Büchern, mit sorgendem Interesse für ihre Freunde, mit leichten Spielen und grüblerischen Gedanken die Zeit vertrieben hatte, war aktiv geworden. Sie arbeitete in einem Komitee für politische Flüchtlinge aus Deutschland. Außerdem besorgte sie, gemeinsam mit ihrem Freund Sebastian und Frau von Herzfeld, die Herausgabe einer Zeitschrift, die sich mit den Kriegsvorbereitungen, den kulturellen und juristischen Greueln, mit dem Schmutz und der Gefährlichkeit des deutschen Faschismus beschäftigte. Sebastian und die Herzfeld waren verantwortlich für die Redaktion; Barbara hatte das Geschäftliche zu erledigen. Zu ihrer eigenen Verwunderung stellte sich heraus, daß sie nicht unbegabt und nicht ohne Geschicklichkeit für finanzielle Dinge war. Die kleine Revue mußte sich selber erhalten, sie wurde von keiner Seite gestützt. Sie erschien wöchentlich, jede Nummer in deutscher und französischer Sprache. Zunächst wurde sie nur einem engen Kreis von Abonnenten zugesandt und war nicht gedruckt, sondern hektographiert. Nach einem halben Jahr war aus den dünnen Blättern eine Zeitschrift geworden, die in allen europäischen Städten außerhalb Deutschlands ihre Freunde hatte. »In Stockholm lesen uns fünfzig Leute, und in Madrid fünfunddreißig, und in Tel-Aviv hundertundzehn«, durfte Barbara feststellen. »Mit Holland und der Tschechoslowakei bin ich ganz zufrieden. In der Schweiz muß es besser werden. Wenn wir nur einen geschickten Vertreter in Amerika hätten! Es ist alles noch viel zu wenig. Hunderttausende sollten erfahren, was wir zu sagen haben. Wir sind so arm«, sagte sie. Man hielt eine »Redaktionskonferenz« in ihrem kleinen Hotelzimmer. »Unsere Feinde geben Millionen aus, damit ihre Lügen unter die Leute kommen – und wir wissen kaum, wovon wir die Briefmarken bezahlen sollen.« Sie ballte ihre schmalen, bräunlichen Hände zu Fäusten. Ihre Augen bekamen den drohenden Blick – wie immer, wenn sie an die Verhaßten, an die »Feinde« dachte.

Verändert hatte sich auch Sebastian, der sich früher nur um die feinsten und schwierigsten Dinge bekümmert hatte. Nun bemühte er sich, einfach zu denken und einfach zu schreiben. »Der Kampf hat andere Gesetze als das hohe Spiel der Kunst«, sagte er. »Das Gesetz des Kampfes fordert von uns, daß wir auf tausend Nuancen verzichten und uns ganz auf eine Sache konzentrieren. Meine Aufgabe ist es jetzt nicht, zu erkennen oder Schönes zu formen, sondern zu wirken – soweit das in meinen Kräften steht. Es ist ein Opfer, welches ich bringe – das schwerste.« Manchmal wurde er müde. Dann sagte er: »Es ekelt mich. Es hat auch gar keinen Sinn. Die anderen sind ja doch viel stärker als wir, bei ihnen sind alle Chancen. Es ist so bitter und auf die Dauer so lächerlich, den Don Quijote zu spielen. Ich habe Sehnsucht nach einer Insel, die so weit entlegen ist, daß auf ihr all dies, womit wir uns quälen, sich auflöst und keine Realität mehr hat …«

»Die gibt es nicht!« rief ihn Barbara an. »Die gibt es nicht und soll es gar nicht geben, Sebastian! – Übrigens sind unsere Feinde gar nicht so entsetzlich stark. Sie fürchten sich sogar etwas vor uns. Jedes Wort, jede Wahrheit, die wir gegen sie sagen, tut ihnen ein klein bißchen weh und beschleunigt um eine Winzigkeit – um eine Winzigkeit, Sebastian! – ihren Untergang, der doch einmal kommt.« So zuversichtlich war sie, oder konnte sie doch scheinen, in den Augenblicken, da ihr Freund Sebastian müde wurde. »Denke dir«, erzählte sie ihm, »wir haben zwei neue Abonnenten in Argentinien, das ist doch fein; sogar das Geld haben sie schon geschickt.« Barbara verbrachte ihren halben Tag damit, Mahnbriefe an die Buchhandlungen und Vertriebszentralen in Sofia oder Kopenhagen, in Tokio oder Budapest zu schreiben wegen der kleinen Summen, die man ihr schuldig blieb. Zwischen Barbara und Hedda von Herzfeld hatte sich ein Verhältnis herausgebildet, das nicht ganz Freundschaft war, aber doch etwas mehr als nur die sachliche Beziehung zwischen zwei Menschen, die miteinander arbeiten. Barbara empfand Achtung vor Frau von Herzfeld; denn diese zeigte Energie und Tapferkeit. Sie war sehr allein, sie hatte nur ihre Arbeit. An der kleinen Revue, die sie mit Sebastian redigierte, hing sie wie die Mutter am Kind. Als das Heft zum ersten Mal gedruckt und in der besseren Ausstattung vorlag, weinte Hedda beinahe vor Freude. Sie umarmte Barbara und sagte ihr – ganz leise ins Ohr, obwohl kein Dritter im Zimmer war – wie dankbar sie ihr für alles sei. Barbara schaute lange in Frau von Herzfelds großes, weiches, flaumig gepudertes Gesicht und stellte fest: Es hatte schärfere und tiefere Züge bekommen. Sie ließen auf innere Kämpfe schließen, auf seelische Vorgänge von heftiger und bitterer Art, denen Hedda ausgesetzt gewesen war in diesem Jahr, das man gemeinsam überstanden hatte. In den ersten Wochen der Emigration hatte sie einmal den Mann getroffen, mit dem sie vor vielen Jahren verheiratet gewesen war. Vielleicht hatte sie auf diese Begegnung Hoffnungen gesetzt. Es stellte sich heraus, daß der Mann in Moskau mit einem Mädchen zusammenlebte. Nichts konnte selbstverständlicher sein als dies. Hedda war vernünftig genug, es einzusehen. Trotzdem wurde sie von der Mitteilung wie von etwas Unerwartetem getroffen und in Hoffnungen, die sie sich kaum noch eingestanden hatte, enttäuscht.

Dachte sie noch zuweilen an Hendrik? Einmal, nur ein einziges Mal, erwähnte sie Barbara gegenüber seinen Namen. »Ob es ihm gut geht?« fragte sie leise – es war spät in der Nacht, man hatte lange zusammen gearbeitet. »Ob der Betrieb ihm Spaß macht? Ob er zufrieden ist mit seinem neuen Ruhm?«

»Von wem sprichst du?« fragte Barbara zurück, ohne aufzuschauen. Frau von Herzfeld wurde ein wenig rot, während sie ironisch zu lächeln versuchte: »Nun, von wem denn wohl? Von deinem geschiedenen Herrn Gemahl …« Barbara sagte trocken: »Lebt der noch? Ich wußte gar nicht, daß es ihn noch gibt. Für mich ist er lange tot. Ich liebe nicht die Gespenster der Vergangenheit, am wenigsten so dubiose Gespenster wie dieses.« – Seitdem sprachen sie nie mehr von ihm.

Manchmal besuchte Barbara ihren Vater, der ganz allein in einer südfranzösischen Stadt am Mittelmeer wohnte. Er hatte Deutschland sofort nach dem Reichstagsbrand verlassen – zur Wut und zur Enttäuschung einer Horde von nationalsozialistischen Studenten, die sein Haus leer fanden, als sie anrückten, um dem »roten Geheimrat« mal zu zeigen, was »die wahre deutsche Jugend« von ihm dachte. Die wahre deutsche Jugend war dazu entschlossen, den weltberühmten alten Herrn durchzuprügeln, ihn dann in ein Auto zu packen und im nächsten Konzentrationslager abzuliefern. Die Bande tobte, weil sie in der Villa nur eine zitternde Haushälterin fand. Um doch etwas für die nationale Sache zu leisten und der nächtlichen Spazierfahrt einen gewissen Sinn zu geben, beutelte man die arme alte Frau ein wenig und sperrte sie in den Keller, während man sich oben in der Bibliothek vergnügte. Die »wahre deutsche Jugend« trampelte auf den Werken Goethes und Kants, Voltaires und Schopenhauers, Shakespeares und Nietzsches herum. Das ist alles Marxismus, stellten die Uniformierten angewidert fest. Als die Schriften Lenins und Freuds ins Kaminfeuer fielen, führten sie einen Freudentanz auf. Auf der Rückfahrt konnten die jungen Menschen konstatieren, daß sie schließlich doch ein paar ganz nette Abendstunden im Hause des Geheimrats zugebracht hatten. »Und wenn das alte Schwein gar noch selber dagewesen wäre«, riefen die fröhlichen Burschen, »das hätte erst eine Hetz gegeben!«

 

Der Geheimrat hatte in seinen Koffern die wichtigsten Papiere und einen geringen, aber ihm besonders lieben Teil seiner Bücherei mit sich nehmen können. Nachdem er einige Wochen auf Reisen, in der Schweiz und in der Tschechoslowakei zugebracht hatte, ließ er sich in Südfrankreich nieder. Er mietete sich ein kleines Haus, im Garten gab es ein paar Palmen und schöne Blütenbüsche, und man hatte den Blick aufs Meer.

Der alte Herr ging sehr selten aus, und er war meistens allein. Stundenlang wandelte er in seinem Gärtchen auf und ab, oder er saß vor dem Haus und konnte sich nicht satt sehen an den unendlich wechselnden Farben des Meeres. »Es ist ein so großer Trost für mich«, sagte er zu Barbara, seiner Tochter, »es tut mir so gut, dieses schöne Wasser vor mir zu haben. In all der Zeit, die ich nicht hier gewesen bin, hatte ich ganz vergessen, wie blau es sein kann: das Mittelmeer … Alle Deutschen, die den Namen verdienen, hatten Sehnsucht nach ihm, und sie haben es alle verehrt als die heilige Wiege unserer Gesittung. Nun plötzlich soll es gehaßt werden in unserem Lande. Die Deutschen wollen sich gewaltsam lösen von seiner sanften Macht und von seiner starken Gnade; sie glauben, seine schöne Klarheit entbehren zu können; sie schreien, daß sie ihrer überdrüssig sind. Aber das ist ja ihre eigene Gesittung, derer sie da überdrüssig zu sein behaupten. Wollen sie all das Große verleugnen, was sie selber der Welt geschenkt haben? Es scheint beinahe so … Ach, diese Deutschen! Wieviel werden sie noch leiden müssen, und wie schrecklich viel werden sie die anderen leiden machen!«

Das nationalsozialistische Regime hatte das Haus und das Vermögen des Geheimrats beschlagnahmt; es erklärte ihn seiner Staatsbürgerschaft für verlustig. Bruckner erfuhr es durch eine Notiz in der französischen Presse, daß er »ausgebürgert« und kein Deutscher mehr sei. Einige Tage, nachdem er diese Mitteilung gelesen hatte, begann er wieder zu arbeiten. »Es soll ein großes Buch werden«, schrieb er an Barbara, »und es wird ›Die Deutschen‹ heißen. In ihm werde ich alles zusammenfassen, was ich über sie weiß, was ich für sie befürchte, was ich für sie hoffe. Und ich weiß viel über sie, ich befürchte viel für sie, und ich hoffe, immer noch, viel für sie.«

Leidend und sinnend verbrachte er seine Tage an einer fremden und geliebten Küste. Manchmal vergingen Wochen, ohne daß er ein Wort sprach, außer einigen französischen Phrasen mit dem Mädchen, das sein Haus besorgte. Er empfing viele Briefe. Menschen, die früher seine Schüler gewesen waren und nun in der Emigration oder verzweifelt in Deutschland saßen, wandten sich an ihn um Zuspruch und geistigen Rat. »Ihr Name bleibt für uns der Inbegriff eines anderen, besseren Deutschlands«, wagte jemand aus einer bayrischen Provinzstadt ihm zu schreiben – freilich mit verstellter Schrift und ohne daß er seine Adresse verraten hätte. Solche Geständnisse und Treueschwüre las der Geheimrat halb mit Rührung, halb mit Bitterkeit. ›Und alle diese, die so empfinden und schreiben, haben mitgeduldet, mitverschuldet, daß unser Land zu dem werden konnte, was es heute ist‹, mußte er denken. Er legte die Briefe beiseite, und er öffnete wieder sein Manuskript, das langsam wuchs und reich ward an Liebe und an Erkenntnis, an Gram und Trotz, an tiefem Zweifel und einer noch hinter tausend Vorbehalten starken Zuversicht.

Bruckner wußte, daß in einer anderen südfranzösischen kleinen Stadt, die von dem Orte seines Aufenthalts noch keine fünfzig Kilometer entfernt war, Theophil Marder mit Nicoletta wohnte. Die beiden Männer hatten sich einmal auf einem Spaziergang getroffen und begrüßt, es war aber zu keiner Verabredung und zu keinem Wiedersehen zwischen ihnen gekommen. Marder war ebensowenig wie Bruckner gestimmt zum Gespräch und zur Geselligkeit. Dem Satiriker war die aufgeräumte, aggressive Schnoddrigkeit vergangen. Ihn hatte das Entsetzen über die deutsche Katastrophe verstummen lassen. Wie Bruckner saß er stundenlang in einem Gärtchen, wo es Palmen und blühende Gebüsche gab, und starrte aufs Meer. Aber Marders Augen hatten nicht den stillen, sinnenden Blick; sie waren unruhig, sie flackerten, sie irrten ratlos und trostlos über die schimmernd ausgebreitete Fläche. Seine bläulich gefärbten Lippen hatten ihre saugende und schmatzende Beweglichkeit behalten; nur bildeten sie jetzt keine Worte mehr, sondern lautlose Klagen.

Theophil, der den Kopf so aufrecht getragen hatte, saß nun in sich zusammengesunken. Die bleifarbenen Hände lagen ihm auf den mageren Knien und sahen so müde aus, als ob er sie niemals mehr würde rühren können. Er kauerte regungslos, nur seine Augen irrten und seine Lippen führten ihre jammervolle stumme Sprache. Manchmal zuckte er zusammen, als hätte ein gar zu grauenhaftes Gesicht ihn erschreckt. Dann richtete er sich mühsam auf und schrie mit einer Stimme, die nicht mehr schnarrte, sondern greisenhaft krächzte. »Nicoletta! Komm! Ich bitte dich, komm sofort!« verlangte Theophil, zugleich jammernd und drohend. Und Nicoletta trat aus dem Hause.

In ihrem Gesicht gab es jetzt einen Zug von Müdigkeit und melancholischer Geduld, der zu der kühn gebogenen Nase, dem scharfen Mund und der gewölbten Stirne nicht passen wollte. Ihre Wangen waren breiter und weicher geworden, ihre schönen und weiten Augen hatten nicht mehr jene herausfordernde Blankheit, durch die sie früher fasziniert und beunruhigt hatten. Nicoletta schien nicht mehr das eigensinnige und hochmütige Mädchen zu sein, sondern eine Frau, die viel geliebt und viel gelitten hat. Sie hatte ihre Jugend geopfert; besessen von einem Gefühl, in dem sich krampfhafte Hysterie mit einer echten Glut, einer kostbaren Ergriffenheit des Herzens verband, hatte sie ihre Jugend verschenkt an den Mann, der dort als ein Gebrochener im Sessel vor ihr lag.

»Was fehlt dir, Theophil?« fragte sie. Die musterhafte Aussprache hatte sie sich bewahrt, was sonst ihr auch verlorengegangen sein mochte in all den Jahren. »Womit kann ich dir helfen, mein Lieber?«

Er aber stöhnte, wie aus schlimmen Träumen. »Nicoletta – Nicoletta, mein Kind … Es ist so grauenhaft … Es ist viel zu grauenhaft … Ich höre die Schreie derer, die man in Deutschland foltert … Ich höre sie ganz deutlich, der Wind trägt sie über das Meer … Die Folterknechte spielen Grammophon während der infernalischen Prozeduren, das ist ein gemeiner Trick, sie stopfen ihren Opfern Kissen vor den Mund, damit die Schreie erstickt werden … Aber ich höre sie doch … Ich muß alles hören. Gott hat mich gestraft, indem er mir das empfindlichste Ohr unter den Sterblichen gab … Ich bin das Weltgewissen, und ich höre alles. Nicoletta, mein Kind!« Er klammerte sich an sie. Seine gepeinigten Augen irrten über die südliche Landschaft, deren Frieden sich ihm mit schauerlichen Figuren belebte. Nicoletta legte ihm die Hand auf die heiße und nasse Stirn. »Ich weiß es, mein Theophil«, sprach sie mit der sanftesten Exaktheit. »Du hörst alles, und du durchschaust alles. Du mußt der Welt Rechenschaft geben von deinem Wissen: das würde für dich und für die Welt sehr von Vorteil sein. Du solltest schreiben, Theophil! Du mußt schreiben!«

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