Free

Kunstprojekt (Mumin-)Buch

Text
Mark as finished
Kunstprojekt (Mumin-)Buch
Font:Smaller АаLarger Aa

Kathrin Hubli

Kunstprojekt (Mumin-)Buch

Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

[bad img format]

Kathrin Hubli

Universität Zürich

Deutsches Seminar

Abteilung für Nordische Philologie

Schönberggasse 9

CH-8001 Zürich

https://orcid.org/0000-0001-6639-7790

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2016 auf Antrag der Promotionskommission (Prof. Dr. Klaus Müller-Wille (hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak) als Dissertation angenommen.

DOI 10.2357/9783772056550 BNPh 62 (2019)

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0092-8


Inhalt

  Danke/Tack!

  1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität 1.1. Das Eintreten des Künstlerbuchs in der Moderne und die Bemühungen um eine neue Bilderbuchästhetik 1.2. Materie – Material – Materialität 1.3. Material turn in der Tove-Jansson-Forschung? 1.4. Disposition und Korpuswahl

 2. Zur Inszenierung des „Machens“2.1. Sammeln – archivieren – dokumentieren: zum Untersuchungsmaterial2.2. Konzeptionelle Arbeiten2.2.1. Konzeptionelle Arbeiten: Inhalt2.2.2. Konzeptionelle Arbeiten: Buchgestaltung2.2.3. Zusammenfassung2.3. Textproduktion2.3.1. Lyrik2.3.2. Prosa2.3.3. Zusammenfassung

 3. Zur Inszenierung des Schreibens3.1. Muminpappans memoarer3.1.1. „Muminpappans memoarer“ als Metatext3.1.2. „Muminpappans memoarer“ als Buch im Buch3.1.3. Zusammenfassung3.2. Farlig midsommar3.2.1. Das Theater3.2.2. Die Inszenierung3.2.3. Zusammenfassung3.3. Pappan och havet3.3.1. Schrift in der Krise3.3.2. Der Wissenschaftler3.3.3. Zusammenfassung

 4. Das Buch als Artefakt4.1. Titela) Thematische Titelb) Rhematische Titel4.2. Widmungen4.3. Kapitelüberschriftena) Deskriptive Kapitelüberschriftenb) Abstrakte Kapitelüberschriften4.4. Epiloge/Prologe4.4.1. Visuelle Prologe4.5. Fussnotena) Explikative Fussnotenb) Dialogische Fussnotenc) Informierende Fussnoten4.6. Klappentexte4.7. Zusammenfassung

 5. Wort – Bild – Buch: zur Buchgestaltung5.1. Muminbücher: Kometen kommer – zur Editionsgeschichte5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografiea) Umschlagsgestaltungb) Titelseitenc) Layout5.2.1. Zusammenfassung5.3. Die Bilderbücher5.3.1. Hur gick det sen?5.3.2. Vem ska trösta knyttet?5.3.3. Den farliga resan5.3.4. Zusammenfassung

  6. Die Buchkünstlerin Tove Jansson: Zusammenfassung und Fazit

  Siglenverzeichnis

  Abbildungs- und Rechtsnachweis

 BibliografiePrimärliteraturSekundärliteraturHandschriftliches Material

Danke/Tack!

Die Arbeit an meiner Dissertation ermöglichte mir, mein Interesse für das Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur wissenschaftlich zu vertiefen, viele spannende Menschen zu treffen und an inspirierende Orte zu reisen. Dafür bin ich unendlich dankbar.

Dem Betreuer und der Betreuerin der Arbeit, Prof. Dr. Klaus Müller-Wille und Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak, verdanke ich jede erdenkliche Unterstützung und viele spannende Diskussionen, die meine Dissertation positiv beeinflussten. Jede Phase dieser Arbeit wurde intensiv und professionell betreut. Die Abteilung für Nordische Philologie der Universität Zürich bot mir während der ganzen Zeit ein unterstützendes und inspirierendes Arbeitsumfeld. Für die Förderung des Forschungsprojekts und die grosszügige Unterstützung der Publikation der Dissertation möchte ich mich beim Schweizerischen Nationalfond und bei der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien bedanken.

Meiner Familie danke ich für die emotionale Unterstützung, nicht nur während der Arbeit an der Dissertation, sondern auch in den vielen Jahren davor, als dieses Ziel noch in weiter Ferne schien. Meinem Partner gebührt ebenfalls Dank für ganz viel Rückenwind und Motivation.

Zürich, Mai 2019 Kathrin Hubli

1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität

Abb. 1:

Illustrierte Seite aus Hur gick det sen.

Die Figuren in Tove Janssons Bilderbuch Hur gick det sen? rennen oder hüpfen in schwindelerregendem Tempo durch das Buch, sodass einem dessen Materialität ins Auge springt. Abbildung 1 zeigt den Querschnitt eines Baumstamms, umrahmt von einem Himmel in dramatischem Purpur, von Blitzen durchzogen. Der Baum, so ist dank des Querschnitts zu erkennen, ist das Zuhause der Hattifnattar. Um dies überdeutlich zu machen, prangert am Baumstamm ein weisses Schild mit der Aufschrift: „Hattifnattarnas hus i genomskärning“ „Das Haus der Hattifnattar im Querschnitt“.1 Wie in einer Geisterbahn bietet sich dem Betrachter ein Einblick in einen engen Raum voller furchteinflössender Gestalten. Zahlreiche Hattifnattar, bekanntlich elektrisch aufgeladen, sitzen dicht gedrängt in dem engen Raum. Eine grössere Gruppe befindet sich auf der linken Seite. Rechts sitzen drei Hattifnattar auf Stühlen in einer Runde beisammen, auf ihrem Schoss jeweils eine Tasse. Sie scheinen die Lampe, die über ihnen hängt und den Innenraum hell erleuchtet, mit Strom zu speisen. Mumintrollets und Mymlans Weg führt sie mitten durch diesen bedrohlichen Ort. Die beiden sind auf der rechten Seite zu sehen, wie sie dem Haus der Hattifnattar voller Panik entfliehen. Danach scheinen die beiden ebenfalls elektrisiert, was in der Darstellung bei den Konturen der Figuren deutlich wird, die in Zickzackform gemalt sind. Dadurch vibrieren sie förmlich.

Querschnittsbilder, so schreibt Elina Druker, wurzeln historisch in der wissenschaftlichen Forschung, wo sie als pädagogische Hilfsmittel dienen.2 Mit ihrer Hilfe werden Sachverhalte veranschaulicht, die nicht direkt sichtbar sind. Im Bilderbuch attestiert Druker ihnen folgende Funktionen: „Genomskärningsbilden i bilderboken har två skilda men angränsande funktioner. Den avslöjar inre, osynliga konstruktioner och visar hur större kroppar eller objekt konstrueras.“3 „Das Querschnittsbild im Bilderbuch hat zwei verschiedene, aber aneinander angrenzende Funktionen. Es offenbart innere, unsichtbare Konstruktionen und zeigt, wie grössere Körper oder Objekte konstruiert sind.“ Abbildung 1 zeigt gar in mehrfacher Hinsicht einen Schnitt: Der (Quer-)Schnitt des Baums ist eine Illusion, während sich mit den Löchern in den Seiten, dem wohl auffälligsten Gestaltungsmittel von Hur gick det sen?, tatsächliche Schnitte im Papier finden. Somit offenbart das Querschnittsbild ebenfalls in mehrfacher Hinsicht normalerweise Verhülltes, wie dies, wie eben erläutert, die Tradition der Querschnittsbilder vorsieht. Neben dem Sichtbarmachen weist Juliane Vogel im folgenden Zitat noch auf einen weiteren Aspekt hin, der das Schneiden beinhaltet. Das Schneiden steht für eine Auseinandersetzung mit dem Gegenstand und für eine Demonstration einer Kontrolle über denselben:

 

Wenn statt des Fleisches Papier oder Zelluloid unter das Messer gerät, dann scheinen jene fundamentalen Probleme gelöst, der sich die moderne Geschichte des Schreibens in der Auseinandersetzung mit ihren Objekten zu stellen hatte. Diese lässt sich als eine Geschichte jener Bemühungen lesen, vor allem den Körper durch das Schneiden zu beherrschen […].4

Durch den Querschnitt des Baums wird im Inneren des Buchs ein weiterer Innenraum offenbar. Dieser ist wie ein Theaterraum gestaltet, mit den Hattifnattar als Zuschauer. Mymlan und Mumintrollet, die Schauspieler, sind dem Theater bereits wieder entflohen. Das Heim der Hattifnattar verfügt als Theater gar über einen gekennzeichneten Eingang (schw. ingång) und Ausgang (schw. utgång). Ferner ist der Boden farblich hervorgehoben, was dessen Eindruck als Bühne stärkt. Mit der überdimensional grossen Lampe ist schliesslich gar eine Theaterbeleuchtung gegeben. Durch diesen (Quer-)Schnitt wird der Inhalt des Buchs bewusst als Fiktion entblösst. Das Material des Baums, Holz, hat diesbezüglich zusätzliche Symbolkraft, ist es doch gleichzeitig auch das Material, aus dem das Buch im weitesten Sinne besteht. Schnitte sind ausserdem in Form von Löchern präsent, die sich auf beiden Seiten der Doppelseiten befinden. Der Eingang und der Ausgang sind tatsächlich durchlässig, perforiert. Mymlan und Mumintrollet preschen durch die Perforationen von Seite zu Seite. Die Perforationen eröffnen einen Weg durch das Buch, welcher in besonderem Masse dessen Dreidimensionalität betont und so ebenfalls die Gegenständlichkeit des Buchmediums. Links neben dem Haus der Hattifnattar schlägt ein Blitz in einen weiteren Baum ein, bringt so das Material sinnbildlich zum Bersten. Somit veranschaulicht das Bild eine Selbstthematisierung der Materialität des Buchs, von Literatur und Buchgestaltung als Kunstform, welche der Konzeption des gesamten Buchs zugrunde liegt. So zeigt Abbildung 1 keineswegs das einzige Querschnittsbild im Buch. Ein weiteres Beispiel ist die Darstellung des Inneren eines Staubsaugers. Besagte Selbstthematisierung wird jedoch im Bild auf die Spitze getrieben, das eine Figur (Verleger, Theaterdirektor oder Regisseur) mit einer Schere zeigt, die, so suggeriert das Bild, dafür eingesetzt wird, um die erwähnten Löcher in das Buch zu schneiden.5

Das skizzierte künstlerische Spannungsfeld aus der Fusion unterschiedlicher Talente und der Experimentierfreudigkeit mit Materialität und Medium soll in der vorliegenden Arbeit daher fruchtbar gemacht werden, um Fragen zum Buch als Artefakt, zur Reflexion von Literatur als Kunstform, betreffend kreativer Strategien und künstlerischem Selbstverständnis zu erörtern. Mit anderen Worten wird eine Perspektive eingenommen, die durch den material turn in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die Literaturwissenschaft miteingeschlossen, herbeigeführt worden ist und den Blick für Aspekte der Materialität in jüngster Zeit wieder geschärft hat.

1.1. Das Eintreten des Künstlerbuchs in der Moderne und die Bemühungen um eine neue Bilderbuchästhetik

Aussagen von Tove Jansson selbst betreffend ihrer Einordnung in Kunst- und Literaturgeschichte finden sich lediglich wenige. Im Buch Meddelande (Mitteilung) spricht sie sich in einem Briefauszug klar gegen eine soziale Tendenzkunst aus, bekennt sich deutlich zum Credo l’art pour l’art.1 „Hon värdesatte självständighet, var mycket jagcentrerad i sin konstsyn och ställde sig kritisk också till betydande nya ideologier“ „Sie schätzte Selbstständigkeit, war sehr ich-zentriert in ihrer Kunstauffassung und stellte sich auch gegen bedeutende neue Ideologien kritisch“, schreibt Tuula Karjalainen.2

In Literaturgeschichten wird Tove Jansson zusammen mit Astrid Lindgren und Lennart Hellsing als eine der wichtigsten Reformer, als Repräsentantin der modernen skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur, des Modernismus, genannt. Alle drei debütierten im Jahr 1945, das als Wendepunkt in der skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur gilt. Das Kriegsende führte zu mehr Wohlstand und einem Anstieg der Geburtenrate. Gleichzeitig begann der Glaube an Autoritäten zu wackeln und liberale Ideen erstarkten. Vor allem auch, was die Vorstellungen vom Kind und von Kindheit, Erziehung und Bildung betraf. Vielerorts wurden Bibliotheken ausgebaut. Das Kinderbuch erhielt so eine gänzlich neue Relevanz. Der Markt vergrösserte sich enorm. In der Folge fokussierten sich Verlage vermehrt explizit auf die Sparte Kinder- und Jugendliteratur. Konkret spricht man von ca. 500 Titeln pro Jahr, die nach Kriegsende publiziert wurden. Damit einher ging eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur, die ebenfalls rapide zunahm und sich professionalisierte.3

Das Attribut „modern“ beinhaltet nach Lena Kåreland Innovationen, was die Sprache, den Stil und die Themenwahl betrifft.4 Bis heute ist Lindgrens Pippi Långstrump Symbolfigur dafür. Sie ist die personifizierte kindliche Sehnsucht nach Freiheit und Rebellion und damit ein direkter Angriff auf bestehende Normen.5 In Skandinavien wird als Modernismus bezeichnet, was ansonsten unter dem Begriff Avant-garde zusammengefasst wird.6 Der Begriff Avant-garde beziehungsweise avantgardistisch bezeichnet Autoren, Künstler, Intellektuelle, welche die Grenzen des als „normal“ bezeichneten sprengen.7 „Att vara modern innebär ett skärpt tidsmedvetande, ett strävan att befinna sig mitt i nuet, att utnyttja och konstnärligt uttrycka de mest avancerade erfarenheterna, även med risk att spränga den estetiska formen.“ „Modern zu sein beinhaltet ein scharfes Zeitbewusstsein, ein Streben danach, sich mitten im Jetzt zu befinden, die fortschrittlichsten Erfahrungen auszunützen und künstlerisch auszudrücken. Auch mit dem Risiko, die ästhetische Form zu sprengen.“, definiert Kåreland.8 Modernismus als Begriff birgt dabei ein Bestimmungsproblem, wie immer wieder von verschiedenster Seite betont wird. „Eine Definition dieses vagen Begriffs ist schwierig, weil er nur eine Sammelbezeichnung für alle modernen, amimetischen literarischen Strömungen seit Baudelaires Lyrik ist.“, so etwa Thomas Seiler.9 Kåreland verfasste mit ihrer Arbeit Modernismen i barnkammaren. Barnlitteraturens 40-tal (Der Modernismus im Kinderzimmer. Die 40-er Jahre der Kinderliteratur) eine Monografie, welche sich explizit mit der Kinderliteratur in dieser Zeit auseinandersetzt. Auch sie beschreibt Modernismus als einen äusserst heterogenen Begriff, der einerseits als konkrete Zeitperiode (Kåreland definiert die Zeitperiode mit 1890–1950 äusserst weit), andererseits mehr als eine Bewegung, eine Lebenseinstellung verstanden werden könne.10Anders formuliert: Modernismus ist einerseits ein Produkt der industriellen Revolution, von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt, andererseits ein ästhetischer Begriff.11

Als ästhetischer Begriff spiegelt sich Modernismus deutlich in den Künsten: Musik, Malerei und Literatur. Die Avant-garde beziehungsweise im hiesigen Kontext eben der skandinavische Modernismus zeichnet sich als eine Zeit aus, in der Kunst als Erkenntnisinstrument verstanden wurde. Man begriff die künstlerische Arbeit als „eine Tätigkeit, die durch ihre handwerkliche Komponente eine Brücke zwischen Intellekt und Materie bildet“.12 Die Künstler der Avant-garde wenden sich bewusst den materiellen Aspekten von Kunst zu.13

Diese Ideologien ebneten den Weg für das Buch als Artefakt. Einen konkreten Ausdruck fand dies etwa in den Künstlerbüchern, den artist's books. Johanna Drucker bezeichnet dies als „[…] the quintessential 20th-century artform. Artist’s books appear in every major movement in art an literature […].“14 Elina Druker zeigt in ihrer Arbeit Modernismens bilder (2008), wie im Skandinavien der 1940er- und 1950er-Jahre eine neue Bilderbuchästhetik heranwächst.15 Einer ihrer zentralen Ausgangspunkte dabei ist die Vorstellung vom Buch als ästhetisches und physisches Objekt.16 Konkret bedeutet dies, das Buch wird nun in seiner physischen Form künstlerisch erforscht. Dabei werden auch Wörter, Buchstaben und Farben als konkrete Objekte behandelt. Ausserdem erwähnt sie, wie die Suche nach einer Bildsprache dazu führte, dass die Formsprache des Bilderbuchs breiter wurde. Die Idee des Bilderbuchs als Kunstform etablierte sich: „Bilderboken upplevdes som ett alternativt medium, en möjlig plats för formexperiment utan de krav som vuxenlitteraturens eller bildkonstens fält kunde innebära.“ „Das Bilderbuch wurde aufgefasst als ein alternatives Medium, ein möglicher Platz für Formexperimente, ohne die Ansprüche, die die Literatur für Erwachsene oder die Bildkunst beinhalten.“ Dass zahlreiche Bilderbuchkünstler dieser Zeit ebenfalls in Nachbardisziplinen wie etwa der Bildkunst etabliert waren, stützt laut Druker diesen Schlusssatz.17 Auch Jansson betätigte sich bekanntermassen nicht nur als Schriftstellerin, sondern ebenfalls als Malerin, Karikaturistin und Illustratorin. Ihr bildnerisches Schaffen ist ebenso facettenreich wie das literarische. Selbst sah sie sich gar in erster Linie als Malerin.

1.2. Materie – Material – Materialität

Seit den 1960er-Jahren proklamieren die unterschiedlichen turns (linguistic turn, pictorial turn, medial turn, um bloss einige wenige zu nennen) immer wieder neue Paradigmenwechsel quer durch die verschiedensten Disziplinen.1 Obwohl Karl Pfeiffer noch in den 1980er-Jahren äussert: „Gleichwohl scheint der Begriff Materialität aus herrschenden Wissenschaftsparadigmen ausgesperrt.“2, wurde in diesem Geist in jüngerer Zeit ebenfalls der material turn ausgerufen. Michel Foucault und Jacques Derrida und deren Kritik an der Metaphysik wird dabei ein bedeutender Anteil an der Konjunktur des Begriffs „Materialität“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften zugesprochen.3 Martin Schubert definiert in Materialität in der Editionswissenschaft (2010) gleich im ersten Satz, was der material turn beinhaltet:

Das Interesse der Geistes- und Kulturwissenschaften am Material und an Materialität ist in den letzten Jahren stetig gewachsen, und zwar so sehr, dass bereits von einem material turn gesprochen wurde. Aus dem ursprünglichen Bestreben, die in Anthropologie, Geschichtswissenschaften und Kunstgeschichte lange geringgeachtete Materialität der Dinge neu in den Fokus zu rücken, haben sich vielfältige Zugänge entwickelt.4

Der material turn ist also ein umfassender Perspektivenwechsel, durch den der bislang vernachlässigte Aspekt der Materialität neue Beachtung findet. „Turns lenken die Aufmerksamkeit[…] auf interne Bedingungen des ,intellektuellen Feldes.‘“5, postuliert Doris Bachmann-Medick. Christiane Heibach und Carsten Rohde sehen turns gar als die Konsequenz eines Bewusstseins für blinde Flecken der eigenen Wissenschaft und als Ausdruck durchlässiger Grenzen zwischen den Wissenschaften.6 Sie formulieren:

[…] die Wissenschaften nähern sich in ihren jeweiligen materiellen und immateriellen Präferenzen sukzessive einander an und verlassen ihre jeweils angestammten Positionen: Für die Geisteswissenschaften bedeutet das die Hinterfragung der Prämierung des immateriell-hermeneutischen Denkens, für die Naturwissenschaften eine Infragestellung der Konkretheit ihrer Erkenntnisse über materielle Objekte durch die Reflexion auf die immateriellen Bedingungen ihrer Theoriebildung.7

Wie bereits erwähnt, geht es bei turns also um eine Erweiterung der Blickwinkel und nicht um ein neues Themengebiet, wobei sich die Gebiete der unterschiedlichen Disziplinen nicht selten zu überschneiden beginnen. Im Falle des material turn, so betont Andreas Reckwitz, mute besagte Neuausrichtung jedoch durchaus paradox an, da sich Kulturtheorien ja gerade in Opposition zu materialistischen Ansätzen gebildet hätten.8 Gleichzeitig hebt er jedoch hervor, dass die Idee des material turn eine Gemeinsamkeit verschiedenster Disziplinen darstellt:

Theorien der Medientechnologien, Artefakttheorien, Raumtheorien und Affekttheorien […] haben allesamt einen grundsätzlichen Anspruch: darauf hinzuweisen, dass die sozio-kulturelle Welt „immer schon“ durch mediale Technologien, durch Artefaktkonstellationen, durch räumliche Arrangements sowie durch Affiziertheiten und Affizierungen strukturiert ist und nur so ihre Form erhält. Das Argument, das sie alle zusammenhält, ist das eines material turn.9

Die ideologische Grundlage des material turn bildet ein reformiertes Verständnis des Begriffs „Material“. Konkret meint dies die hierarchische Beziehung zwischen den Begriffen „Material“ und „Form“. „Im engeren Sinne bezeichnet Material den Ausgangsstoff jeder künstlerischen Gestaltung“, referiert Monika Wagner im Handbuch Ästhetische Grundbegriffe (2010). Der Begriff „Material“ meint im Unterschied zu „Materie“ „nur solche natürlichen und artifiziellen Stoffe, die zur Weiterverarbeitung vorgesehen sind.“

 

Eine derartige Definition impliziert ein Verständnis von Material als etwas, das zwingend verarbeitet, erst zu einem Kunstwerk gemacht werden muss. Bereits in der Antike stand „Material“ in einem hierarchischen Verhältnis zu Begriffen wie „Form“ und „Idee“, „den Inbegriffen schöpferischer Gestaltung.“ „Bis um 1800 war Material im Sinne eines physischen Stoffes negativ konnotiert. Es gehörte der niedersten Sphäre des Alltags an, die in der künstlerischen Gestaltung zum Verschwinden gebracht werden sollte.“10 Sigrid Köhler und Martina Wagner-Egelhaaf betonen diesen Aspekt ebenfalls:

Die Perspektivierungen, denen auf diese Weise [durch den material turn] Raum gegeben wird, erlauben es jedoch nicht nur, die kulturellen Kodierungen und Medialisierungen des Materials zu fokussieren, um Hierarchien und Semantiken des Stofflichen zu beschreiben, sondern sie rufen philosophiegeschichtliche Materiekonzepte auf […].11

Nicht nur muss „Material“ weiterverarbeitet werden, es soll ausserdem danach auch nicht mehr zu erkennen sein beziehungsweise die Gemachtheit des Produkts soll nicht mehr zu erkennen sein. Anders der Begriff der Form. „Form ist ein geistiges Prinzip und erscheint gegenüber der Materie als vorrangig und höherwertig.“12 Materie hingegen sei zu verstehen als physikalischer Stoff allein, im Sinne einer materia prima, wie sie Aristoteles denkt. Und Materialität bezeichnet schliesslich das „materielle Ding-Sein der Dinge.“ „Die begriffliche Trias von Materie, Material und Materialität lässt sich in dieser Reihung als Abfolge zunehmender kultureller Konzeptionalisierungen lesen, oder in Gegenrichtung als Reihe wachsender Realisierung.“13 Durch den material turn wird das Material jedoch nicht mehr kaschiert, sondern im Gegenteil inszeniert und explizit ins Blickfeld gerückt. Die beschriebene Hierarchie zwischen Material einerseits und Form andererseits wird aufgelöst.

Entsprechend bezeichnet Thomas Strässle die Befreiung vom „Primat der Form“ als eines von drei methodisch-theoretischen Anliegen in der aktuellen Materialitätsdebatte.14 Die Sichtweise ist gar eine diametrale. Form wird „als variable Grösse und Ergebnis materialer Eigenschaften“ gesehen. „Material“ wird so zu einer „autonomen ästhetischen Kategorie.“15 Es erhält also einen künstlerischen Wert. Durch einen solchen neuen Materialbegriff wird es erst möglich „Kunstwerke jüngeren Datums in ihrer genuin materialen Konstitution und Exposition lesbar zu machen.“ Daraus ergibt sich das zweite Anliegen, welches Strässle formuliert, nämlich ein Bewusstsein für die Bedeutung des materiellen Trägers, des Mediums, der die „Bedeutungsspielräume des Aufgeschriebenen, Dargestellten und Übermittelten überhaupt erst bedingt und damit zumindest mitbestimmt.“16 „So verstanden, lässt sich Material nicht mehr nur als ablösbarer Träger einer Form oder einer Idee begreifen, sondern es ist mit diesem unauflöslich verbunden.“17 Diese konzeptionelle Verknüpfung von Material und Form ist Ausdruck der bereits erwähnten Auflösung der Hierarchie zwischen den beiden Begriffen. Als Drittes stellt Thomas Strässle schliesslich mit dem Hinweis auf Judith Butlers Bodies that matter (1993) ein Materialitätsdenken fest, welches dem Material „jegliche ,Vorgängigkeit‘ abspricht und es im Gegenzug als Produkt performativer diskursiver Praktiken liest.“18

Bis anhin betreffen die Ausführungen die Wertsteigerung, die der Begriff „Materialität“ im Zuge des material turn erfahren hat. Die konkrete Funktionalisierung des Begriffs konzentriert sich in der Materialitätsdebatte jedoch bei Weitem nicht nur auf rein physische Aspekte. Vielmehr wird der Begriff ebenfalls auf abstrakteren Ebenen verwendet. Christoph Kleinschmidt macht bezüglich der Begriffsbestimmung von Materialität zwei komplementäre Positionen aus:

So verstehen viele Positionen unter Materialität eine „konkrete Stofflichkeit“, „Dinglichkeit und Körperlichkeit“. Andere sprechen hingegen von der „Gegenwärtigkeit von Dingen“, begreifen Materialität also gerade nicht als ein „vordergründig Stoffliches“, sondern als ein „Erscheinen“, „absolute Präsenz“, „Augenblick“, „Widerstand“, und „Beharren“.19

So denkt etwa Dieter Mersch in Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis (2002) Materialität nicht als etwas hauptsächlich Physisches, sondern etwas, „was sich von dort her erst ereignet: Erscheinen, das kein ‚Etwas‘ beinhaltet, keine Erscheinung-als, sondern vornehmlich ein ‚Wirken‘, das geschieht.“20 Dagegen betrachtet Erika Greber et al. in Materialität und Medialität von Schrift (2002) das Schriftzeichen „in seiner Eigenwertigkeit, seine visuelle und haptische Materialität, eine Konkretheit, Dinglichkeit und Körperlichkeit.“21 Und Erika Fischer-Lichte konstatiert für die Theaterwissenschaft: „Die theatralen Elemente in ihrer spezifischen Materialität wahrzunehmen heisst also, sie als selbstreferentielle, sie in ihrem phänomenalen Sein wahrzunehmen.“22 Christian Benne äussert sich zum Inhalt des Materialitätsbegriffs für die Literaturwissenschaft wie folgt:

Sich auf die Seite der Materialität zu schlagen heisst, Stellung zu beziehen gegen den Idealismus, gegen alle Vorstellungen eines bereinigten und idealen Texts, gegen den „Geist“ oder die blosse Ergründung der ästhetischen Normen des literarischen Texts. Auf der anderen Seite richtet sich Materialität auch gegen die Auffassung, dass Texte unabhängig von ihrer Rezeption und dem kulturellen Kontext ihrer Produktion existieren […].23

Entsprechend wird in der vorliegenden Arbeit ein breit gefasster Materialitätsbegriff verwendet, der konkret stoffliche Aspekte beinhaltet, die beispielsweise bei der viel gelobten Buchgestaltung Tove Janssons evident werden. Ferner beinhaltet er ebenfalls das Machen von Literatur als Kunst in ihrer Materialität – also das physische Arbeiten –, was sich etwa in spezifischen Arbeitspraktiken wie auch poetologische Reflexionen dieser Thematik zeigt. Der geschilderte Materialitätsbegriff wird ausserdem vor dem Hintergrund einer Prozessualität betrachtet, welche Tove Janssons Schaffen inhärent ist. Dies belegt etwa die turbulente Herausgebergeschichte der Muminbücher, ein Kunstprojekt, welches sich während über 20 Jahren stetig erweitert und erneuert hat. Mit anderen Worten, Materialität wird in der vorliegenden Arbeit als ein dynamisches, veränderliches Konzept verstanden, was wiederum mit der erwähnten Prozessualität einhergeht.