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Kunstprojekt (Mumin-)Buch

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a) Explikative Fussnoten

Eine erste Funktion der Fussnoten in den Muminbüchern besteht darin, Begrifflichkeiten zu klären. So etwa in Trollvinter, wo erörtert wird, was ein evakuierter Igel ist: „*En evakuerad igelkott är en igelkott som mot sin vilja förflyttats från sitt hem och inte ens hunnit ta tandborsten med sig. Förf. anm.“ (TV 41) „*Ein evakuierter Igel ist ein Igel, der gegen seinen Willen seine Wohnung verlassen musste und nicht einmal genügend Zeit hatte, um seine Zahnbürste mitzunehmen. Anmerkung der Autorin.“ (WM 44). In Farlig midsommar wird etwa die Bedeutung erwähnter Gegenstände erklärt: „*En pott är en liten, djup vattensammling, typisk i Finland. Förf. anm.“ (FM 11) „*Ein Pott ist eine kleine, tiefe Wasseransammlung, typisch für Finnland. Anmerkung d. Autors.“ (SM 10). Auch spezielles, für Kinder allenfalls unverständliches Vokabular wird erläutert: „*Gör om det! Förf. anm.“ (FM 137) „,Noch einmal!‘ Anmerkung d. Autors“ (SM 160) ist ebenfalls in Farlig midsommar in einer Fussnote zu lesen, die sich auf das Wort „Dacapo“ bezieht, welches die Zuschauer nach der Vorstellung begeistert ausrufen. Auch in Pappan och havet werden Begrifflichkeiten dargelegt oder bestimmte Tätigkeiten erläutert. Pappan och havet nimmt jedoch insofern eine Sonderstellung ein, als es das einzige Buch ist, in dem die Fussnoten formelhaft gestaltet sind und durchwegs mit „I Sverige…“ „In Schweden“ beginnen. Inhaltlich beziehen sich die Anmerkungen ausschliesslich auf die Unterschiede zwischen dem Finnlandschwedischen und der Standardsprache. Mit anderen Worten, es wird auf dialektale Unterschiede hingewiesen: „*I Svergie skulle de ha sagt lånnor istället. Förf. anm.“ (PH 23) „*In Schweden hätten sie stattdessen ‚lånnor‘ gesagt.“

b) Dialogische Fussnoten

Eine zweite Gruppe von Fussnoten bilden diejenigen, welche den Adressaten direkt ansprechen, also dialogischen Charakter haben. In Trollvinter wird an einer besonders tragischen Stelle in einer Fussnote allzu traurigen Lesern geraten, auf eine bestimmte Seite vorzurücken: „*Om läsaren börjar gråta, se hastigt å sid. 45. Förf. anm.“ (TV 44) „*Sollte der Leser hier weinen müssen, schnell S. 130 aufschlagen.“ (WM 47). In Muminpappans memoarer verwendet sogar der fiktive Autor Pappan Fussnoten in seinem Werk: „*Om ni nu verkligen läser genom mina memoarer föreslår jag att ni börjar om från början igen.“ (MM 13) „*Wenn ihr nun wirklich meine Memoiren durchlest, schlage ich vor, dass ihr nochmals von vorne beginnt“, rät er seinen Lesern am Ende des Vorworts. Es handelt sich um die einzige Fussnote, die nicht signiert ist. Auch werden die Leser dazu angehalten, sich bei Verständnisproblemen Hilfe zu holen. Folgendes Beispiel stammt aus Trollkarlens hatt: „*Om du vill ha reda på vad bisamråttans löständer blev förvandlade till, kan du ju fråga din mamma. Hon vet nog. – Förf. anm.“ (TH 57) „*Wenn du wissen willst, in was das Gebiss des Bisams verwandelt wurde, kannst du ja deine Mutter fragen. Sie weiss es bestimmt. – Anm. d. Autors“ (DM 64). Diese Fussnoten sind instruktiver Art und provozieren einen Diskurs über die Handhabung der Erzählung und so über den Prozess der Rezeption.

c) Informierende Fussnoten

Schliesslich liefert die dritte Gruppe von Fussnoten Hintergrundinformationen zu den einzelnen Charakteren, das heisst, sie sind informierender Natur. So etwa in Muminpappans memoarer, wenn eine neue Figur eingeführt wird: „*Ett Rådd-djur är ett litet djur som råddar, vilket betyder att fnatta omkring med stor fart och tanklöshet medan man stjälper ut och tappar så mycket som möjligt. – Förf. anm.“ (MM 36) „*Ein Schusseltier ist ein kleines Tier, das herumschusselt. Das heisst, dass es mit grosser Zerstreutheit durch die Gegend flitzt und dabei so viel wie möglich auskippt und fallen lässt. Anmerkung d. Autors“ (MWJ 39). Auch in Trollkarlens hatt erfährt man dank den Fussnoten viel über die Eigenheiten einzelner Figuren, beispielsweise über die Kleidungsgewohnheiten eines Hemuls: „*) Hemulen gick alltid klädd i en klänning som han ärvt av sin moster. Jag misstänker att alla hemuler går i kjol. Det är konstigt, men det är så. – Förf. anm.“ (TH 27) „*Der Hemul lief immer in einem Kleid herum, das er von seiner Tante mütterlicherseits geerbt hatte. Vermutlich tragen alle Hemule Röcke. Sehr eigenartig, aber so ist es nun mal. Anm. d. Autors.“ (DM 29). Oder über die Angewohnheit der Snorkar, bei starken Gefühlsregungen ihre Farbe zu verändern: „*) Snorkar förändrar ofta färg vid sinnesrörelse. – Förf. anm.“ (TH 41) „*Bei heftigen Gemütsbewegungen pflegen die Snorks die Farbe zu wechseln. Anmerkung d. Autors“ (DM 44).

In allen drei Gruppen ist die Fussnote „[…] der Ort, kommentierend auf den Haupttext Bezug zu nehmen, also von einem bestimmten Aussen indexikalisch in den Text hineinzuwirken.“1 Daher ist die Fussnote ein ideales Werkzeug, um Polyphonie zu erzeugen, indem eine weitere narrative Instanz eingeführt wird, durch die einzelne Aspekte der Erzählung kommentiert werden. Genauer werden Begrifflichkeiten geklärt oder Zusatzinformationen zu einzelnen Figuren geliefert. Ausserdem offenbarte sich die Fussnote als Ort, in dem ein Dialog mit dem Leser gesucht wird. Die mannigfaltigen Funktionen der Fussnoten zeigen, dass sie zentraler Bestandteil der Erzählung sind und daher in keinem hierarchischen Verhältnis zum Haupttext stehen.

Ferner wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Fussnote immer auch ein grafisches Gestaltungselement darstellt, das sich am Rand der Buchseite befindet. So ist sie eine Art visualisierter Souffleurkasten, die jedoch nicht die Charaktere der Fiktion, sondern die Leser mit Informationen versorgt. Oder wie Uwe Wirt festhält:

[…] Sie ist ein referenzieller Zeiger – eine „graphische Geste“, die an den Rand des Textes verweist. Dadurch bewirkt die Fussnote zugleich eine Differenzierung von Rahmen, das heisst, sie zieht eine Grenze in den Text ein und macht – in funktionaler Analogie zum Bühnenrahmen – verschiedene Ebenen sichtbar.2

4.6. Klappentexte

Gérard Genette beschreibt in seinen Ausführungen zum Klappentext (Waschzettel) in erster Linie dessen Karriere vom aussertextuellen Epitext (Mitteilung an die Presse) zum flüchtigen Peritext (Beilage für die Kritik und später für jedermann) und schliesslich in den dauerhaften Peritext (Umschlag). Dabei betont er die stetige Rangerhöhung.1 Genette definiert den Klappentext wie folgt: „[…] ein kurzer Text (üblicherweise zwischen einer halben und einer ganzen Seite), der durch ein Resümee oder jedes andere Mittel auf meistens lobende Weise das Werk beschreibt, auf das er sich bezieht […].“2 Nach dem Titel auf der Vorderseite verrät der Klappentext also Genaueres zum Inhalt. Sowohl dem Titel als auch dem Klappentext ist die Aufgabe zuteil, den potenziellen Leser zum Lesen respektive zum Kaufen zu animieren, indem besonders spannende Aspekte hervorgehoben werden. Ferner wird der Klappentext vor allem zur Rezeptionssteuerung instrumentalisiert. Sämtliche Muminbücher sind mit einem Klappentext auf der Rückseite ausgestattet. Beim folgenden Beispiel handelt es sich um den Klappentext von Farlig midsommar:

Där kommer en teater på drift och med den driver mumin-

familjen in i en midsommarnatt som är full av trolldom

och överraskning, av nya vänner och fiender.

Vet ni att hattifnattar kommer ur frö och att man måste

så dem på midsommarnatten? Har ni nånsin borrat hål

genom ert eget golv eller sett en självlysande parkvakt?

Och är ni medvetna om hur hemskt farligt det är att vissla

på teatern?

Det här är berättelsen om vad som hände i den

magiska månaden juni samma år som det eldsprutande

berget rörde på sig och Mumintrollets mamma gjorde sin

vackraste barkbåt. (FM, Klappentext)

Da kommt ein umherdriftendes Theater und mit diesem gleitet die Mumin-

familie hinein in eine Mittsommernacht voller Zauber

und Überraschung, neuer Freunde und Feinde.

Wisst ihr, dass Hattifnattar aus Samen entstehen und dass

man sie in der Mittsommernacht säen muss? Habt ihr schon einmal ein Loch

durch euren eigenen Boden gebohrt oder einen leuchtenden Parkwärter gesehen?

Und seid ihr euch bewusst, wie gefährlich es ist, im Theater zu pfeifen?

Dies ist die Geschichte darüber, was in dem magischen Monat Juni geschah

im gleichen Jahr wie der feuerspeiende Berg sich bemerkbar machte und

Mumintrollets Mama ihr schönstes Rindenschiffchen fertigte.

Der Text besteht aus drei Absätzen mit unterschiedlichen Funktionen. Der erste Absatz informiert quasi als Einstieg grob über die Grundzüge der Handlung. Vor allem auf das „Was?“, „Wo?“ und „Wann?“ der Erzählung wird eingegangen. Des Weiteren werden neue Bekanntschaften angedeutet, mit gut gesinnten wie auch schlecht gesinnten Figuren. Im zweiten Absatz wird der potenzielle Leser mit konkreten Fragen angesprochen und so eine Interaktion aufgebaut. Die Fragen machen auf spannende Punkte aufmerksam und wecken die Neugierde. Im letzten Abschnitt wird schliesslich nochmals auf die Handlung eingegangen. Mit „Det här är berättelsen om […]“ „Dies ist die Geschichte darüber […]“ wird die Interpretationsrichtung klar festgelegt und die wichtigsten Punkte der Erzählung nochmals betont. Technische, kritische wie aber auch explizit lobende Kommentare fehlen in diesem Klappentext jedoch gänzlich.

 

Auch bei den übrigen Klappentexten handelt es sich um kurze Zusammenfassungen des Inhalts. Sie sind zwischen sieben und 15 Zeilen lang. Wie im obigen Klappentext werden die Leser teilweise mit konkreten Fragen direkt angesprochen oder es werden Aufforderungen an sie gerichtet. So steht am Ende des Klappentexts von Kometen kommer „Följ med!“ (KK, Klappentext) „Komm mit!“ als expliziten Aufruf an den Leser, den Figuren auf ihren Abenteuern zu folgen. Hinweise, die eine bestimmte Leseart provozieren, finden sich ebenfalls in anderen Klappentexten. Bei Trollvinter lässt die Formulierung „Den här boken handlar om […]“ (TV, Klappentext) „Dieses Buch handelt von […]“ keine Zweifel betreffend des Schwerpunkt des Inhalts. Muminpappans memoarer besitzt einen Klappentext, der gar subtil auf das Element der Parodie hinweist, indem mit einem Augenzwinkern auf den Wahrheitsgehalt von Pappans Ausführungen eingegangen wird: „Kanske har han skarvat lite, men det måste man för att en bok ska bli spännande…“ (MM, Klappentext) „Vielleicht hat er etwas übertrieben, aber das muss man, damit ein Buch spannend wird…“ In Pappan och havet betont der Klappentext, dass die beschriebenen Veränderungen alle Figuren betreffen, mit Ausnahme von Lilla My, und nicht nur Pappan, wie der Titel vermuten lässt. Durch derartige Hinweise kann der Klappentext ein tieferes Verständnis des Texts fördern.

4.7. Zusammenfassung

In den Muminbüchern findet sich das gesamte Spektrum an paratextuellen Rahmungselementen: So zeigt sich eine facettenreiche Verwendung unterschiedlicher Titel und Kapitelüberschriften. Sie variieren von äusserst konkret bis abstrakt. Mit einer Widmung erhalten die einzelnen Bücher zusätzlich eine individuelle Wertsteigerung, indem sie einen Blick erhaschen lassen in das private Umfeld Tove Janssons. Prologe und Epiloge stimmen auf die jeweilige Erzählung ein, in Wort und Bild. Sie sind ganz zentrale Orientierungshilfen und eröffnen Einblicke in die Strukturen und die Stimmung des Narrativs, die ansonsten verborgen bleiben würden. Ferner wird durch die Fussnoten die für Janssons Erzählen typische Polyphonie erzeugt. Die Fussnoten problematisieren, ergänzen oder erklären Aspekte der Erzählung und tragen so zu einem tieferen Verständnis bei. Eine letzte untersuchte Kategorie bilden die Klappentexte. Wie die Titel dienen die Klappentexte dazu, das Interesse potenzieller Leser zu wecken. Der Inhalt wird dabei auf möglichst ansprechende Art und Weise kurz zusammengefasst.

Die untersuchten paratextuellen Rahmungselemente weisen, so die Ausgangsalge, den Text als Buch aus. Dies erwies sich insofern als zutreffend, als dass die Analyse eine Instrumentalisierung des Paratexts offenbarte, welche über die reine Rezeptionssteuerung hinausgeht. Vielmehr scheint der Paratext als „Schwelle“ der Ort, an dem Jansson mit dem Buch als Kunstwerk spielt, indem sie es auf unterschiedliche Weise rahmt. Durch seinen stark selbstreferenziellen Charakter reflektiert der Paratext die Gemachtheit von Literatur und deren materielle Erscheinungsform als Buch. Damit demonstriert Jansson in erster Linie Folgendes: „Kunst ist nicht nur zur Selbstbeobachtung, sondern auch zur Selbstrahmung durch den Akt der Selbstinszenierung fähig.“1 Der paratextuelle Rahmungsapparat ist dabei immer an die jeweilige Erzählung angepasst, betont deren individuellen Charakter als Kunstwerk. In diesem Sinne kann von den Muminbüchern nicht als einem Gesamtkunstwerk gesprochen werden. Der Paratext erhält von Lesern nicht selten lediglich geringe Aufmerksamkeit, ja wird oft gar gänzlich ignoriert. Im vorliegenden Fall ist der Paratext jedoch zentraler Teil der Konstruktion des Kunstwerks und verfügt daher über eine solch grosse Relevanz, dass dabei keinesfalls von einem Beiwerk gesprochen werden kann.

5. Wort – Bild – Buch: zur Buchgestaltung

Ein grosses rundes Loch klafft auf dem Cover von Hur gick det sen? Zwei Figuren öffnen, scheinbar unter grosser Kraftanstrengung, dessen gezeichneten Deckel. Sie machen so den Blick ins Buchinnere frei. Vor einem hellblauen Himmel mit weissen Wolken blicken Mymlan und Mumintrollet heraus. Über der Perforation ist bogenförmig einerseits der Autorname in schwarzer Blockschrift zu lesen, andererseits der Untertitel boken om Mymlan, Mumintrollet och lilla My „Das Buch über Mymlan, Mumintrollet und lilla My“ in einer weissen Schreibschrift. Unterhalb der Perforation ist in grossen, gelben Lettern zu lesen Hur gick det sen? „Wie ging es dann?“. Weiter ist ganz unten auf dem Cover eine Milchkanne abgebildet, auf der der Name des Verlags steht. Sie wird an einer Schnur von Lilla My durch das Bild gezogen. Die Milchkanne ist ein zentrales Element der Handlung. Denn die Hauptaufgabe des Protagonisten Mumintrollet besteht darin, die Milch zu seiner Mutter zu bringen. Die rote Farbe des Covers erinnert an den Vorhang eines Theaters.

Die Rückseite des Buchs zeigt eine Tür. Durch ein kleines Fenster darin blickt ein grosses Augenpaar hinaus. Weiter ist oberhalb der Türklinke eine kleine Öffnung in Form eines runden Lochs zu sehen, durch das man ebenfalls hinein- respektive hinausblicken kann. An der Tür hängt ein Schild, auf dem in kindlich anmutender Schrift zu lesen ist: „Kommer straks“ „komme gleich“. Neben der Tür hängt ein Schlüssel, ebenfalls mit einem Schild versehen. Dem Schild ist in der gleichen Schrift zu entnehmen, dass es sich dabei um den Schlüssel zum Muminhaus handelt (schw. Muminhuset). Ein mit weissen Steinplatten gepflasterter Weg führt zur Tür. Auf dem Weg erkennt man von hinten respektive im Profil, drei Figuren, die diese Tür voller Erwartung betrachten. Als Leser blickt man ihnen quasi über die Schultern, befindet sich ebenfalls vor dem Eingang oder Ausgang des Buchs.

In der Einleitung zur vorliegenden Arbeit wurde bereits darauf hingewiesen, dass gerade Hur gick det sen? als Paradebeispiel für künstlerische Buchgestaltung gilt. Die Anmerkungen zum Umschlag des wohl berühmtesten Bilderbuchs Tove Janssons belegen dies abermals. Darauf zeigt sich ein Spiel mit Schriftarten, Formen und Farben, das sich zu einem künstlerischen Ganzen zusammenfügt. Dabei wird die Fiktionalität des Inhalts wie auch die Gegenständlichkeit des Mediums thematisiert: Die theatralen Elemente, also etwa die Präsentation der dramatis personae oder Lilla My als „Nummerngirl“, rufen die Gemachtheit des Inhalts in selbstreferenzieller Art und Weise in Erinnerung. Durch die Perforationen wird die blosse Materialität des Buchs auf schier brachiale Weise in Szene gesetzt, indem diese bewusst zerstört wird. Sie ermöglichen nicht nur einen Blick ins Buch hinein, beziehungsweise hinaus, sondern betonen gezielt dessen Dreidimensionalität. Kurz: Bereits diese knappen Ausführungen zur Umschlagsgestaltung offenbaren eine differenzierte und intensive Auseinandersetzung mit dem Buch als Artefakt.

Die Wurzeln der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Buch als Medium und auch als künstlerische Form datiert Christoph Schulz auf den Beginn des 20. Jahrhunderts.1 Ausserdem konstatiert er, dass dies vor allem für Künstlerbücher bezeichnend sei, wie dem folgenden Zitat zu entnehmen ist:

Das Charakteristische an Künstlerbüchern ist demnach weniger, dass Künstler ihre Bücher mit anderen Themen füllen, als Schriftsteller es tun, sondern dass ihnen die Reflexion des Umstands, dass es sich bei dem Werk tatsächlich um ein Werk in Buchform handelt, immanent ist und somit einen zentralen Aspekt ihrer Semantiken darstellt.2

Das Bücher-Machen sei schliesslich in den 1960er-Jahren zu einer eigenen Disziplin der bildenden Kunst geworden. Dabei ging es darum

[…] die Eigenheiten und Spezifika der medialen Form und der materiellen Struktur des Buches als Voraussetzung für die Vermittlung eines etwaigen Inhalts analytisch zu explorieren, dessen Möglichkeiten auszuloten und diese gezielt künstlerisch einzusetzen.3

Der physischen Erscheinung des Buchs wird demnach eine grosse Bedeutung zugesprochen. „Boken som estetiskt objekt, dess fysiska form och attribut som storlek och format, omslag, färgverkan, den grafiska formgivningen och layouten, fungerar som bärare av budskap och uttryck.“4 „Das Buch als ästhetisches Objekt, dessen physische Form und Attribute wie Grösse und Format, Umschlag, Farbwirkung, die grafische Formgebung und das Layout, fungieren als Träger von Bedeutung und Ausdruck.“, betont in diesem Sinne auch Elina Druker in ihrer Abhandlung Modernismens bilder (2008). Damit erwähnt sie Aspekte, die laut Johnny Kondrup der analytischen und deskriptiven Bibliografie angehören. Im Gegensatz zur enumerativen Bibliografie, welche einen Katalog über Literatur erstellt, widmet sich Bibliografie in einem analytisch-deskriptiven Sinn dem Buch als Artefakt.5

Auf dieser Grundlage werden nachfolgend die beschriebenen Elemente in ausgewählten Werken Janssons untersucht. Mit dem Ziel zu eruieren, welche Gestaltungselemente in den Werken Janssons genau eingesetzt werden und in welchem Verhältnis sie stehen. Geleitet von der übergeordneten Frage nach den Säulen einer spezifischen Buchästhetik.

Das Buch ist der Sache nach vollkommen, wenn es angenehm zu lesen, köstlich anzuschauen ist; kurz, wenn der Übergang von der Lektüre zur Betrachtung, und wiederum von der Betrachtung zur Lektüre, ohne grosse Hindernisse erfolgt und es nur unmerklicher Umstellungen des leicht sich anpassenden Auges bedarf.6

Derart definiert Paul Valéry in Die beiden Tugenden des Buches (1995) das ideale Buch, sowohl was dessen Funktionalität wie auch Ästhetik betrifft. Diesem Gedanken folgt die nachfolgende Analyse. Valéry spricht von der Buchseite als Gemälde, das als Ganzes betrachtet werden soll. Bonnie Mak weist in diesem Zusammenhang auf das steigende Interesse an der Buchseite hin: „As interest in the printed book has grown over the last fifty years, so too has interest in its particular version of the page.“7 Stehe jedoch das Buch als Artefakt im Mittelpunkt, so merkt Carlos Spoerhase dazu kritisch an, seien die Beobachtungen zur Buchästhetik bis heute theoretisch auf die zweidimensionale Doppelseite begrenzt.8 Mit anderen Worten, es wurde bis anhin vielmehr die Textgestaltung untersucht als die Buchgestaltung. Er postuliert weiter: „Ein Buch hat mehrere Dimensionen: Linie, Fläche, Raum. Wie diese beschrieben, diskutiert und bewertet werden, prägt immer auch unseren Blick auf und unsere Beschäftigung mit Literatur.“9 Damit legt er in seinen Betrachtungen den Fokus auf die Dreidimensionalität des Buchs. Nachfolgend wir ebenfalls von der Buchseite als künstlerisch komponiertes Ganzes ausgegangen. Darüber hinaus wird jedoch in Anlehnung an Spoerhase evaluiert, inwiefern das Buch in seiner Stofflichkeit als zentraler Bestandteil der Gestaltung miteinbezogen wird.

Das Analysematerial umfasst sowohl die Muminbücher als auch die Bilderbücher. Während sämtliche Bilderbücher des Korpus in die Analyse miteinbezogen werden, wurde für die Muminbücher exemplarisch Kometen kommer ausgewählt. Es handelt sich dabei um eines der Muminbücher, welches in drei edierten Versionen existiert und umfassende Änderungen erfahren hat. Damit wird die Untersuchung von Gestaltungsaspekten im Rahmen einer Diskursanalyse möglich, die das Kunstwerk in seinen unterschiedlichen Formen vergleichbar macht. Es geht darum, im Sinne Don McKenzies jeder edierten Version ihren Status als Kunstwerk einzuräumen und zu zementieren: „Definitive editions have come to seem an impossible ideal in the face of so much evidence of authorial revision and therefore of textual instability. Each version has some claim to be edited in its own right, with a proper respect for its historicity as an artefact […|.“10

Agneta Rehal-Johansson beschäftigt sich in ihrer Arbeit zwar mit den unterschiedlichen Versionen der Muminbücher. Dabei konzentriert sie sich jedoch, wie bereits im Forschungsüberblick erwähnt, auf die inhaltlichen Veränderungen und ignoriert dabei die mannigfaltigen Formen, welche die verschiedenen Ausgaben gestaltungstechnisch annehmen, weitestgehend. Im Unterschied zu Boel Westin, die von den „Originalausgaben“ ausgeht und auch lediglich diese Versionen berücksichtigt, sind die jüngsten Versionen Rehal-Johanssons Ausgangspunkt. Westin betrachtet jedes Muminbuch als eigenständiges Kunstwerk, jedoch ebenfalls hauptsächlich auf der inhaltlichen Ebene. Eine Ausnahme ist etwa das Kapitel über Trollvinter. Darin geht sie auf die bedeutungsvolle Beziehung von Text und Bild ein. Kurz: Weder Boel Westin noch Agneta Rehal-Johansson widmen sich in ihren Analysen der Muminbücher dem Buch als Artefakt auf einer dezidiert materiellen Ebene. Dabei erscheint gerade dies im Falle Janssons besonders spannend. Einerseits aufgrund ihrer multiplen Künstlerpersönlichkeit, andererseits aufgrund ihrer Arbeitsweise beziehungsweise den mehrfachen Umarbeitungen der Bücher.

 

Die Analyse der Bilderbücher geschieht chronologisch. Die Untersuchungskriterien sind paratextuelle Elemente nach Genette wie der Buchumschlag, die Titelseiten und, im Falle von Kometen kommer, Klappentexte. Damit knüpft die Analyse an das vorherige Kapitel an, der Fokus ist nun jedoch auf visuelle Aspekte verschoben. Ferner wird anhand ausgewählter Beispiele das Seitenlayout untersucht. Genauer handelt es sich dabei um buchgestalterische Aspekte betreffend die Beziehung von Text und Bild, Schriftsetzung, Typografie, und den Miteinbezug des Buchs als Objekt in das Gestaltungskonzept. Dabei handelt es sich um Aspekte, welche unter dem Begriff „Makrotypografie“ zusammengefasst werden. Die turbulente Herausgebergeschichte von Kometen kommer wird einleitend ebenfalls kurz geschildert, um dieses Muminbuch in seiner unterschiedlichen Materialität zu kontextualisieren.