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II.

Das Fenster verfärbt sich langsam dunkel. Dann erscheint ein Balken, der zuerst dünn ist, dann immer deutlicher wird, er sieht stabil aus, vertrauenswürdig, sicher. Dann der Hauch eines zweiten Balkens, erst hauchzart, fast zerbrechlich, er könnte noch eine Illusion sein, vielleicht eine optische Täuschung, doch plötzlich wird er zunehmend kräftiger. Schließlich ist er genauso breit wie der erste. Stabil. Vertrauenswürdig. Sicher.

Mir wird schwindelig. Ich setze mich auf den Rand der Badewanne und schließe die Augen. Nein, nein, nein. Doch, doch, doch.

Ja, ja, ja.

Ist es das, was ich wollte? Ist es das wirklich? Ich greife nach der Gebrauchsanweisung und lese sie zum bestimmt hundertsten Mal, ich kann den Text schon nahezu auswendig, wie ein seltsames Mantra: „Wenn sich in dem Fenster neben dem Kontrollfenster ein gleichartiger Balken bildet, sind Sie mit 98 %-iger Wahrscheinlichkeit schwanger. Bitte wenden Sie sich an Ihren Frauenarzt.“ Und was soll der in diesem Fall tun, frage ich mich? Mir beruhigende Worte ins Ohr flüstern, mich davon überzeugen, dass jetzt alles gut werden wird, für immer? Oder mir gar Vorwürfe machen, wenn Sie sich nicht 100 %-ig sicher waren, warum haben Sie dann nicht aufgepasst, plötzlich stehen nur noch Wahrscheinlichkeiten im Raum, drängen sich um mich herum wie ungebetene Besucher: 98 %, 100 %, wer plant sein Leben schon auf diese Weise, sind wir nicht fast alle Produkte des Zufalls? Doch ich weiß, dass ich mir sicher gewesen bin, für einen Moment war ich mir so sicher wie noch nie zuvor in meinem ganzen Leben. Ich wollte Mutter werden. Ich auch.

Jan wusste, dass ich keine Leute sehen wollte, ich wollte einfach keine Fragen beantworten müssen. Ich funktionierte nicht mehr, ich war wie ein kaputtes Radio, irgendetwas war noch zu hören, aber an sich war alles nur noch ein großes Rauschen. Doch wir waren zum jährlichen Geburtstagsbrunch bei Timo eingeladen, und dort gingen wir bisher immer gemeinsam hin. Da Jans Blick flehentlich war, ließ ich mich schließlich breit schlagen, obwohl ich die Nacht mit brennenden Augen verbracht hatte und mein Körper weiterhin an jeder Ecke schmerzte.

Timo wohnt mit seiner Freundin Christine zusammen, beide hangeln sich seit Jahren von Job zu Job, um über die Runden zu kommen. Im karg möblierten Wohnzimmer versteckte ich mich hinter dem Bücherregal, aber wurde dort trotzdem von Christine ausfindig gemacht, auf bestimmte Dinge ist im Leben einfach Verlass, auch wenn es immer weniger werden. Wie es mir ginge, was ich so machte, welche Bücher ich gerade schriebe? Ich erzählte einsilbig, da ich ihren geifernden Blick auf mir spürte, sie wollte von meiner Niederlage hören, weil auch ihr Leben eine einzige Niederlage ist, früher engagierte sie sich in den unterschiedlichsten linken Gruppierungen, war auf Demonstrationen, ließ sich zusammen schlagen, weil sie einer Sache dienen wollte, heute schreibt sie Radiobeiträge über die neuesten Eskapaden irgendwelcher B-Promis, um ihre Stromrechnung bezahlen zu können. Wir sind nicht mehr länger politisch, wir müssen überleben, wir, die Generation der Ängste und vergessenen Träume. Und wir haben uns mit unserer eigenen Bedeutungslosigkeit beinahe abgefunden, sie stößt uns nur noch selten auf.

Als ich schließlich nicht mehr weiterredete, erhob sie ihr gewohntes Klagelied. Dass ihre Auftraggeber so spät zahlten. Dass sie nicht wisse, wovon sie nächsten Monat leben solle. Dass ihre Krankenkasse jetzt eine Nachprüfung von ihr wolle. Wie stellen die sich das alle vor, ich fühle mich ständig wie auf der Kippe, kann es nicht mal ein bisschen Normalität und Entspannung geben, heulte sie, ich habe das alles so satt, am liebsten würde ich alles hinschmeißen und irgendwo im Urwald leben und endlich die Sachen machen, die mich wirklich interessieren. Wenn du das willst, warum tust du es dann nicht, brach es plötzlich aus mir heraus, dich kotzt das doch alles schon seit Jahren an, aber du änderst nichts daran, du stehst immer nur da und jammerst, meinst du, es wird irgendwas besser, wenn du jammerst, glaubst du das wirklich? Wie meinst du das, flüsterte sie mit waidwundem Blick, was willst du denn damit sagen?

Die anderen Gäste blickten sich bereits zu uns um, es war, als stünde ich plötzlich auf einer Bühne, sie waren alle begierig zu hören, was ich zu sagen hatte – ob das so war, weil ihnen Christines Wehklagen selbst auf die Nerven ging oder weil sie ihre Situation nur zu gut aus eigener Erfahrung kannten, vermag ich nicht zu sagen. Im Hintergrund sah ich kurz Jans Gesicht aufleuchten und sofort wieder verschwinden, als sei er ein Leuchtturm an einem dunklen Strand, dann wandte ich mich wieder Christine zu, die immer noch an meinen Lippen hing, ich meine, dass du endlich Konsequenzen ziehen solltest, spuckte ich ihr entgegen, man kann doch nicht ständig alles mit sich machen lassen und sein ganzes Leben lang unglücklich sein, oder gefällt dir diese Rolle etwa, man könnte fast den Eindruck bekommen, wenn man dich so sieht, die kleine Märtyrerin.

Christine schluckte, sprachlos, und ich drehte mich um und stürzte auf die Wohnungstür zu, niemand stellte sich mir und meiner Selbstgerechtigkeit in den Weg, alle starrten mich nur wortlos an. Was glotzt ihr denn so blöd, schrie ich, das musste doch mal gesagt werden, oder etwa nicht, ich warf die Tür hart ins Schloss und jagte die Treppe hinunter, das erste Mal seit Wochen fühlte ich so etwas wie Lebendigkeit in mir aufsteigen, ein freudig pulsierendes Lodern. Als ich unten angelangt war, ging plötzlich die Haustür auf, und eine Frau betrat den Flur, ein wollenes Bündel auf dem Arm tragend, das wie ein Haufen schmutziger Wäsche aussah, aber sie balancierte es so vorsichtig, als handele es sich um die Kronjuwelen, sie steuerte auf die Treppe zu und hob dabei den Kopf ein wenig, so dass ich ihr Gesicht sehen konnte. Ich erkannte sie, es war Julia, auch sie ist ein regelmäßiger Gast auf Timos Geburtstagsfeier, im vorigen Jahr hatte sie mit Jan und mir zu den letzten gehört, und wir waren danach noch irgendwo tanzen gegangen, auch jetzt wirkten ihre Augen müde, als sie mir zunickte, doch sie sah gleichzeitig älter aus, irgendwie verändert, auf der Straße hätte ich sie wahrscheinlich kaum erkannt. Ich begrüßte sie, meine Stimme mit einem Mal laut und aufgekratzt, aber Julia hielt sich den Zeigefinger an die Lippen, nicht, raunte sie, sie ist gerade eingeschlafen. Und da identifizierte ich, um was es sich bei dem Bündel auf ihrem Arm handelte, es war ein Baby, sein Gesicht rot und knotig, die Lider fest geschlossen, unter dem Wollmützchen lugten ein paar Haare hervor, ich sah Julia überrascht an, und sie zuckte lächelnd, fast entschuldigend die Schultern, wir hatten uns ein Jahr nicht gesehen, und sie hatte in dieser Zeit ein Kind bekommen, doch bevor ich etwas sagen konnte, schlug die Kleine plötzlich die Augen auf und blickte mich an.

Ihre Pupillen waren blau und mit hellbraunen Punkten gesprenkelt und ihr Blick tief, sehr tief, als komme er aus einer anderen Zeit. Sie betrachtete mich ruhig und gleichzeitig neugierig, und mit einem Mal wurde auch ich sehr ruhig, als falle etwas in mir an seinen richtigen Platz, als ordne sich etwas, und ich verspürte plötzlich eine tiefe Befriedigung in mir aufsteigen, so wie früher als Kind, als ich mein Spielzeug nach meinen ganz eigenen Kriterien in die Kisten einsortierte. Gott sei Dank, sie hat keinen Hunger, flüsterte Julia, aber ich hörte sie kaum, ich sah nur die Augen ihrer Tochter und fragte mich, was sie wisse und ob ich das auch einmal gewusst und nur vergessen habe, wenn das so sein sollte, wollte ich es wieder erfahren, diese Reinheit, diese klare Unschuld, dieses sanfte Schweben, ich wollte augenblicklich meine Zähne in diese verbotenen Früchte schlagen und mir ihren Saft übers Kinn tropfen lassen, verschwenderisch, maßlos, ich wollte meine Verletzungen nicht mehr länger spüren, jede Sekunde, wie einen tief im Fleisch steckenden Dorn. Doch da schloss die Kleine ihre Lider wieder, als habe sie mich nun genug teilhaben lassen, und Julia entschuldigte sich, sie wolle nun nach oben, zu den anderen, ob ich nachkommen würde? Ich antwortete nicht, sondern setzte meinen Weg einfach fort, trat allein auf die Straße hinaus, wo mir der Abend entgegen jubelte, und in mir war es plötzlich ganz hell und groß und weit.

Jan kam kurze Zeit nach mir nach Hause und blickte mich böse an, was hast du dir dabei gedacht, du kannst Christine doch nicht so vor den Kopf stoßen, sie war völlig aufgelöst, hat nur noch geheult und ließ sich gar nicht beruhigen, und mich haben alle angestarrt, als ob ich nicht ganz dicht sei, bin ich wahrscheinlich auch nicht, denn ich bin ja mit dir zusammen, nicht wahr? Er schüttelte fassungslos den Kopf, ich verstehe ja, dass es dir nicht gut geht, aber musst du das an anderen auslassen, unseren Freunden, Christine hat dir doch gar nichts getan, warum tust du so etwas?

Doch ich ließ seine Vorwürfe an mir abperlen, ich tänzelte stattdessen vor ihm auf und ab und fachte auf diese Weise seine Wut weiter an, hörst du mir überhaupt zu, siehst du eigentlich noch irgendetwas anderes als dich selbst? Statt einer Antwort trat ich plötzlich einen Schritt auf ihn zu, und überrascht wich er zurück, so nah waren wir uns seit Monaten nicht gewesen, und das plötzliche Aufbrechen dieser Trennung warf ihn für einen Moment sichtlich aus der Bahn, doch ich folgte ihm, und so führten wir einen seltsamen Tanz durch das Zimmer auf, einen Schritt zurück, einen Schritt vor, einen Schritt zurück, einen Schritt vor. Was willst du, schien sein Blick zu sagen, kannst du nicht einfach nur normal sein? Diesen Blick wollte ich in jenem Moment jedoch nicht auf mir spüren, ich wollte Lebendigkeit und keine Vorwürfe, ich wollte nach vorne sehen und nicht hinter mich, und so packte ich Jan, drückte ihn gegen die Wand und meine Lippen auf seine. Er wehrte sich, wollte mich von sich stoßen, doch dann wurde er mit einem Mal ganz weich, gab nach, ich öffnete seinen Mund mit meiner Zunge, und wir küssten uns, sanken nach unten, auf den Boden, und saugten uns aneinander fest, ich zog ihm seine Jacke aus, ließ meine Hände unter sein T-Shirt gleiten und krallte mich an seinen Hals, er roch gut, immer noch. Und dann öffnete ich seine Hose, befreite ihn aus seinem Gefängnis und atmete ihn ein. Als ich mich auf Jan bewegte, sah ich, wie er mich kurz mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Verzückung anblickte und dann wieder die Augen aufeinander presste wie ein Kind beim Versteckspielen. Ich sehe dich nicht, also siehst du mich auch nicht. 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, ich kooomme.

 

Danach lagen wir lange nebeneinander, still. Und in mir öffnete sich etwas. Und schloss sich wieder.

Als ich aus dem Badezimmer komme, sitzt Jan an seinem Schreibtisch. Wortlos lege ich den Teststreifen auf seine Tastatur, und er sieht kurz darauf, dann wieder auf seinen Bildschirm. Ich gehe aus dem Zimmer, mir ist seltsam zumute, irgendwie ungeahnt leicht und gleichzeitig bedeutungsschwer, ich setze mich auf mein Bett und warte. Schließe die Augen. Zähle die Sekunden. Die Zeit scheint plötzlich anders zu funktionieren, und ich will mich ihrer vergewissern, als ich bei Hundert angekommen bin und die Augen wieder öffne, steht Jan vor mir, sein Gesicht ist ein stetiger Wechsel zwischen Hoffnung, Freude und Angst. Großer Angst.

Ich lächele ihn an. Und da entspannt er sich, und wir fallen uns in die Arme, so einfach kann es sich anfühlen, für einen Moment, für ein paar tiefe Atemzüge. So wird es natürlich nicht bleiben, das weiß ich inzwischen.

In der folgenden Nacht schlafe ich tief und fest. Traumlos. Am nächsten Morgen erwache ich fast ausgeruht, empfinde einen Moment tiefen Friedens. Ist das die Veränderung, auf die ich vielleicht die ganze Zeit gewartet habe, wollte ich, wollte mein Unterbewusstes mir mit dem Traktor etwa ein Zeichen geben? Ich sehe mein Gesicht im Spiegel an, suche nach Merkmalen der Verwandlung. Finde jedoch keine.

Am Küchentisch sitzt mir Jan gegenüber, sein ganzer Körper ist gespannte Aufmerksamkeit, er traut dem Frieden noch nicht, sucht nach Hinweisen, die seiner Angst neue Nahrung geben könnten. Doch wir frühstücken in aller Ruhe miteinander, ohne ein falsches Wort, einen falschen Blick, für diese Momente haben wir unser früheres Einverständnis wieder gefunden, und ich habe sogar Appetit, was in den letzten Wochen kaum der Fall war. Wir besprechen, dass wir bald gemeinsam zum Arzt gehen wollen, um sicher zu gehen, noch erscheint unwirklich, was gestern Abend passiert ist, und wir trauen uns noch nicht richtig, daran zu glauben, auch wenn der Test immer noch zwei Balken zeigt, zwei aufrechte Balken, die nebeneinander stehen, wer weiß, vielleicht reichen sie sich ja heimlich die Hände.

Ich verlasse kurz nach Jan das Haus und gehe die Straße hinunter. Ich habe seit dem Brunch bei Timo und Christine eine neue Gewohnheit, ich verbringe meine Vormittage auf einem Spielplatz in der Nähe. Am Anfang fiel es mir sehr schwer, meinen wunden Körper in die Vertikale zu bringen und das kurze Stück hierher zu laufen, doch ich hatte einen Antrieb, ein Verlangen, das mir neue Kraft gab, ich hoffte, wieder diesen Blick sehen zu dürfen, den mir Julias Tochter zugeworfen hatte, ich hoffte, auf ein Kind zu treffen, das mir etwas vom Anbeginn der Zeit erzählt, von der Unschuld, der Reinheit, nur indem es mich ansieht. Jeden Morgen raffte ich mich deshalb erneut auf und kroch den Weg zu meiner mit Graffiti verunstalteten Bank am Rande des Spielplatzes, ich ließ mich dort nieder und wartete. Ab und zu blieben tatsächlich Kinder bei mir stehen, doch sie sahen mich nur neugierig an, sogar misstrauisch, abwartend, lauernd, als spürten sie, dass ich eigentlich nicht dorthin gehörte, aber ich blieb hartnäckig, ließ mich nicht vertreiben oder verunsichern.

Und schließlich begann ich, die Mütter zu beobachten. Sie hockten auf der niedrigen, hölzernen Begrenzung, die die Sandkiste umgibt, und sahen auf ihre Kinder herab, die zu ihren Füßen mit Förmchen und Schaufeln spielten, sie lächelten geduldig, wenn ihre Kinder die Plastikteile wieder und wieder befüllten, ihnen strahlend präsentierten. Sie kletterten mit ihren Kindern auf die metallenen Rutschen, nahmen sie auf den Schoss und glitten fröhlich juchzend mit ihnen in die Tiefe. Sie reichten ihren Kindern die Hände und bestärkten sie darin, über die Hängebrücken zu taumeln, die die Rutschen miteinander verbinden. Sie setzten sich mit ihnen auf die Wippen und jubelten, wenn ihre Kinder sich todesmutig in die Höhe katapultieren ließen. Sie reichten klein geschnittene Apfelstückchen, Waffeln, Kekse, putzten tropfende Nasen, pusteten kleine Wehwehchen einfach weg. Wieder und wieder und wieder. Es war wie ein Reigen, der sich in wechselnden Konstellationen über den Spielplatz bewegte, hierhin und dorthin, rauf und runter, laut und leise, ein uralter Tanz war es, der sich dort vor meinen Augen ausbreitete, mit klaren, tiefen Rhythmen.

Auf mich wirkten die Mütter sicher in dem, was sie taten, ihre Handgriffe waren auf eine seltsame Art und Weise ebenfalls rein, eindeutig, ermutigend. Und wenn sie ihre Kinder betrachteten, schlich sich häufig ein Lächeln auf ihr Gesicht, sanft, duldsam, stolz. Ich beneidete sie um diese Gewissheit, sie schienen gerne an diesem Ort und in diesem Moment zu sein, sie schienen gerne bei sich, in sich zu sein. Während ich meine Existenz weiterhin am liebsten verleugnet hätte.

Aber dennoch geschah dort etwas mit mir, die klar definierten Abfolgen beruhigten mich, ich atmete diese Klarheit ein und bewahrte sie in mir auf. Oft breitete sich in diesen Stunden eine eigentümliche Ruhe in mir aus, mein Denken stellte sich ein, das Rauschen in mir wurde leiser und verstummte schließlich ganz. Ich saß und schaute, saß und schaute. Hierhin und dorthin, rauf und runter, laut und leise.

Doch heute ist es anders. Wegen gestern Abend. Obwohl ich noch nicht mit jeder Zelle an meinen neuen Zustand glauben kann, habe ich trotzdem das Gefühl, dass ich plötzlich mehr Berechtigung habe, hier zu sitzen, vielleicht werde ich bald eine von ihnen sein. Auch die Kinder scheinen das zu spüren, denn plötzlich kommt ein kleines Mädchen auf mich zu und drückt mir sein Förmchen in die Hand, es hat die Gestalt eines Seepferdchens und ist in einem grellen Pink. Kannstu da Sand rein machen, will das Mädchen von mir wissen, ich sehe mich um, um ihre Mutter auszumachen, doch keine der Anwesenden gibt sich zu erkennen, also nicke ich langsam und gehe mit schleppenden Schritten mit dem Mädchen zur Sandkiste. Setze mich. Tauche das Förmchen in den feuchten, leicht klebrigen Sand, der an meinen Fingern haften bleibt. Nehme das Förmchen heraus. Drücke den Sand darin fest. Drehe es um und setze es in einer raschen Bewegung aus dem Handgelenk auf die hölzerne Begrenzung. Hebe es hoch. Ein sandiges Seepferdchen lächelt mich an, das Mädchen strahlt. Noch eins, bettelt es. Ich gehorche. Und bald breitet sich eine Seepferdchenarmee zu meinen Füßen aus, eine Mannschaft aus erdigen, ihres schwerelosen Tanzes im Wasser beraubten Tieren mit geschwungenen Schwänzen und demütig geneigten Köpfen. Und sie lächeln. Alle. Und ich auch.

Das Wartezimmer meines Frauenarztes ist voll, als wir es betreten, und sofort wenden sich die meisten Köpfe der anwesenden Frauen uns zu, sie mustern unsere Gesichter – und meinen Bauch. Als dieser ihnen ungefährlich erscheint, wenden sie ihre Blicke wieder genüsslich ihren Zeitschriften zu. Da keine zwei Stühle nebeneinander frei ist, muss sich Jan ans andere Ende des Raumes setzen, ich sehe ihm an, dass er sich unbehaglich fühlt, für ihn ist es das erste Mal bei einem Frauenarzt. Um nicht die ganze Zeit die schwellenden Bäuche um sich herum betrachten zu müssen, das wachsende Leben um sich herum, verkriecht er sich schließlich auch hinter einem Magazin.

Bisher waren meine Besuche hier immer von einer relativen Gleichgültigkeit geprägt, ich wusste, sie waren unumgänglich, denn in Vorsorgedingen bin ich ein gewissenhafter Mensch, ein folgsames Mitglied meiner angstgeschüttelten Generation, und die gleichzeitig anwesenden Schwangeren nahm ich nie besonders wahr. Nun mustere ich sie vorsichtig aus dem Augenwinkel, lasse meinen Blick über ihre runden Bäuche und die vollen Brüste wandern, sie sitzen zurückgelehnt in ihren Stühlen, breitbeinig mit geöffnetem Schoß, als könne die Geburt ihrer Kinder in jedem Moment stattfinden, als könne in der nächsten Sekunde ein schreiendes, tropfendes Bündel hier zwischen uns auf den Boden klatschen. Doch diese Aussicht scheint sie nicht zu verunsichern, in keiner Hinsicht, das Leben geht einfach mit ihnen seinen Gang. Werde auch ich bald so unbeirrt hier sitzen, so in mir?

Als ich schließlich auf dem Behandlungsstuhl liege, die Füße flach gegen die Halter gedrückt, meinen Unterleib dem Arzt entgegen gepresst, und den Fühler des Ultraschallgeräts in meiner Scheide spüre, greife ich nach Jans Hand. Er gibt sie mir bereitwillig, sie ist leicht feucht, so wie meine, und wir starren gebannt auf den Bildschirm des Geräts, wir wissen, dass das Ergebnis dieser Untersuchung unser Leben bestimmen wird, unsere Zukunft, vielleicht unsere Beziehung, unsere Liebe, doch wir nehmen nur unterschiedliche Grautöne wahr, werfen uns einen verschämt-verlegenen Blick zu, bis der Arzt plötzlich innehält, jaaaa, meint er nachdenklich, das könnte etwas sein. Auf dem Bildschirm ist für uns weiterhin nur krisseliges Grau zu erkennen, doch er deutet siegessicher, als habe er die Befruchtung eigenhändig überwacht, auf eine Ecke des Bildes, in der das Grau einen weißen Punkt umschließt, 8 mm, Sie sind wohl in der siebten Woche, herzlichen Glückwunsch.

In mir breitet sich ein schwindeliges Gefühl aus, wie an dem Abend, als ich den Test machte, ich sehe Jan an, und in seinem Gesicht keimt tatsächlich so etwas wie Hoffnung auf, er hat seine Mundwinkel nicht mehr unter Kontrolle, sie ziehen sich wie ferngesteuert bis zu seinen Ohren hoch, was ihm einen etwas dümmlichen Ausdruck verleiht, doch ich konzentriere mich darauf, von dem Behandlungsstuhl herunter zu steigen und mich wieder anzuziehen. Eine Kopie des Ultraschallbildes entgegen zu nehmen. Einen neuen Termin auszumachen. Auf die Straße zu treten und die Luft zu spüren. Um mich herum, in mich hinein. Um dich herum, in dich hinein, mein Kind?

Jan und ich vereinbaren, es vorerst niemandem zu verraten. Die ersten Wochen pflegen sehr unsicher zu sein, und ich möchte weder ständig nach meinem Befinden gefragt noch im Falle eines Abganges mit tief traurigen Mienen konfrontiert werden. Ich möchte erst einmal für mich begreifen, was mit mir passiert, nicht für jemand anderen. Jan ist einverstanden, er wirkt wie ausgewechselt und erschreckt mich durch seine kindliche Ausgelassenheit, er nimmt auf dem Nachhauseweg meine Hand und hüpft neben mir herum. Wie ein Kind ist er ganz in seiner eigenen Welt, nimmt nicht wahr, dass ich ihn irritiert von der Seite anstarre. Habe ich nun also zwei Kinder. Wahrscheinlich.

In der Nacht kann ich nicht schlafen, dämmere nur vor mich hin und wälze mich von Seite zur Seite, alle möglichen Gedanken schießen mir durch den Kopf. Ist es wirklich richtig, dass ich das jetzt tue, dass ich ein Kind bekomme? Wovon soll ich es ernähren, ich habe es durch meine Depression geschafft, meine Aufträge zu verlieren, mich mit der Produktionsfirma zu überwerfen, die sicherlich schon weiter getragen hat, dass man mit mir nicht arbeiten kann, dass ich wahrscheinlich verrückt bin oder überfordert oder beides, werde ich trotzdem wieder neue Arbeit finden, werde ich ihr gewachsen sein, aber warum sollte ich ihr plötzlich gewachsen sein, nachdem ich Monate lang keinen klaren Gedanken fassen konnte? Und was ist mit Jan und mir? Ich habe keine Illusionen über den Zustand unserer Beziehung und hatte bisher keine Kraft, irgendetwas daran zu ändern, woher soll ich jetzt die Kraft nehmen, wie soll es jemals wieder sprühende Liebe zwischen uns geben, die doch so dringend nötig ist, denn ich werde allein kein Kind aufziehen können, ich brauche jemanden, der mir hilft, der an meiner Seite ist. Und was ist mit dem Kind, das gerade in mir heranwächst, wie werde ich es aushalten, nie wieder allein zu sein, mich nie wieder ausruhen zu können? Und werde ich es lieben können, werde ich ihm irgendetwas zu geben haben, wie soll ich denn diesem Kind Hoffnung und Zuversicht geben, wenn ich selbst viel zu selten welche habe, und was ist, wenn sich meine Depressionen vererben, werde ich mir je verzeihen, dass ich wider besseres Wissen, dass das passieren kann, schwanger geworden bin, dass ich in Kauf genommen habe, dass auch mein Kind unter dem leiden wird, was mich immer wieder innerlich zerfetzt?

 

Die Gedanken kreisen und drehen sich in meinem Kopf, sie überschlagen sich, kaum habe ich den einen Gedanken erfasst, drängt sich ein anderer dazwischen, bis ich das Gefühl habe, dass nicht ich denke, sondern die Gedanken mich, sie sind gekommen, um mich auszupressen, um mich zu vernichten, um in mir die Schönheit zu zermalmen, die ich beim Anblick von Julias Tochter verspürte und tief in mir aufbewahre. Ich presse die Lider aufeinander, versuche, mir etwas Konkretes vorzustellen, das sich zwischen mich und die Gedanken schieben könnte, einen Strand, sonnendurchflutet, ein Meer, das sanft pulsierend an ihm leckt, doch es gelingt mir nicht, das Karussell in meinem Kopf nimmt weiter Fahrt auf, taumelt in irrwitzigem Rasen.

Plötzlich wälzt sich der letzte Rest meines Ichs unter der Decke hervor, auf meiner Brust hat ein garstiges Ding Platz genommen, das mir die Luft abschnürt, ich versuche einzuatmen, doch sofort schießt mir ein heißer Schmerz durch die Rippen, als ramme mir jemand glühende Messer in die Seiten. Ich setze mich auf, doch diese Bewegung vergrößert den Druck auf das Brustbein noch, ich bekomme Panik, ich will atmen, tief Luft holen, doch die Schmerzen lassen Sterne vor meinen Augen tanzen, was ist mit mir, was ist das, ist das jetzt mein Ende?

Ich stemme mich aus dem Bett, obwohl mir jede Bewegung höllische Stiche versetzt, ich möchte nicht so sterben, nicht jetzt. Ich stehe gekrümmt neben meinem Bett und möchte am liebsten laut um Hilfe rufen, doch ich kann nicht tief einatmen geschweige denn schreien, deshalb krieche ich so vorsichtig wie möglich zum Balkon, öffne die Türen, um die kühle Nachtluft herein zu lassen. Die mich mit einer Wucht ins Gesicht trifft, die ich nicht erwartet habe, draußen tost ein heftiger Sturm, der die Bäume zum Schwanken bringt und die Straßenlaternen zum Klirren, er erfasst mein Haar, zerrt wie wild an ihm, er weht die inzwischen nutzlos gewordenen Papiere von meinem Schreibtisch, und sie stoßen an die Wände des Zimmers, wo sie die Richtung wechseln und weitersegeln, bis sie vom nächsten Windstoß erfasst werden, Chaos breitet sich in meinem Zimmer aus, doch ich störe mich nicht daran, sondern genieße die unbändige Kraft, die mich erfasst, wanke auf den Balkon heraus und werde nun vollständig hinweg gerissen, an die Hauswand gepresst.

Plötzlich höre ich Gesang, durch die wütende Kraft des Sturmes dringen immer wieder Fetzen einer Melodie zu mir, abgerissene Worte, zerfetzte Sätze, die keinen Sinn ergeben, und auch der Gesang mäandert, scheint von Melodie zu Melodie zu springen, als drücke jemand ständig die Forward-Taste eines CD-Players. Ich kämpfe mich zum Balkongeländer vor, beuge mich hinüber, und da sehe ich ihn, es ist der Irre, tatsächlich. Wir haben ihn so getauft, obwohl wir nichts über ihn wissen, denn wie soll man jemanden wie ihn sonst nennen, wenn man sich selbst einen Rest von Funktionalität bewahrt hat? Bis vor kurzem jedenfalls.

Der Irre trägt eine dicke, unförmige Brille und sommers wie winters dieselben ausgeleierten Klamotten, eine zerbeulte Jogginghose und eine Jacke, die ihm schief von den Schultern hängt, er wohnt irgendwo in der Nähe, und man begegnet ihm oft, wenn man hier in den Straßen unterwegs ist, hinter ihm her poltert stets ein zerschrammter Koffer auf Rollen, als sei er auf einer immerwährenden Reise, was er vielleicht auch ist, wer weiß das schon, sein Blick ist wirr und wandert ziellos hierhin und dorthin, und er singt unentwegt Melodiefetzen vor sich hin. Ich habe mir oft vorgestellt, dass ich vielleicht auch einmal so enden werde, die Kinder laufen hinter mir her und rufen Spottnamen, hämisch, doch ich ziehe ungerührt meine Bahn wie ein kaputter Satellit. Aber momentan ist er der einzige auf der Straße, der Sturm ergreift zwar auch ihn, doch er stapft munter weiter, unbeeindruckt, in diesem Moment finde ich sein Auftauchen seltsamerweise tröstlich, es hat etwas Sicheres an sich, etwas Unverwüstliches, und ich lasse mich vorsichtig in den Liegestuhl vor mir sinken und lausche seinem sich langsam entfernenden Gesang. Eine männliche Sirene. Verführe mich. Führe mich hinweg von meinen Gedanken und meiner Angst. Bitte.

Ich kaufe mir Bücher, über Schwangerschaft und Säuglingspflege. Ich kann mich immer noch schwer konzentrieren, deshalb blättere ich die Bücher nur durch und schaue mir die Bilder an, sie zeigen Frauen in unterschiedlichen Stadien der Schwangerschaft, bei manchen wölbt sich nur ein kleiner Hügel um den Bauchnabel herum, bei anderen ist der Bauch stark angeschwollen, in grotesker Fülle, doch alle lächeln auf diesen Fotos, sie leuchten mit einer Unbeirrbarkeit und Grazie, die mich verunsichert. Sie tragen bequeme, aber dennoch geschmackvolle Schwangerschaftskleidung, die ihre prallen Brüste umschmeichelt, die praktisch und dennoch kleidsam ist, sie riechen an frischem, glänzendem Gemüse, halten Gläser mit farbenfrohem Saft an die leicht geöffneten Lippen, streichen sich zärtlich über den Bauch, sie halten rosafarbene Babyschühchen in den Händen, die in ihrer Winzigkeit absurd wirken, sie stapeln Unmengen von kleinen Hemdchen und Höschen aufeinander, als wollten sie eine ganze Kompanie von Winzlingen ausstatten. Und sie lächeln. Unentwegt.

Auch die Babys auf den Fotos haben etwas Unwirkliches an sich. Sie sind gut genährt, und ihre Haut ist rosig und makellos, stets sauber und adrett liegen sie auf Decken mit niedlichen Tierchen darauf, nuckeln versonnen an hölzernen Beißringen, den Betrachter unverwandt-neugierig musternd, oder schlafen mit einem versonnenen Ausdruck auf dem Gesicht, mit sanft geballten Fäustchen.

Es sieht alles so einfach aus in diesen Büchern. Als gehörten die lächelnden Frauen und die versonnenen Babys zusammen, von Anbeginn der Zeiten an und auf immerdar, als seien sie geradezu füreinander geschaffen worden. Wie das Schloss und der Schlüssel, eine perfekte Verbindung.

Nirgendwo gibt es Andeutungen von Blut und Tränen, Panik und Atemnot, Schleim und Erbrochenem. Von Schmerzen und Angst, Krankheit und Tod, es gibt hier keine ungewollten Kinder, die sich immer nur fehl am Platz fühlen, wie unsichtbar, hier ist alles aufgeräumt, geordnet und sonnendurchflutet. Ich blättere diese Bücher durch und fürchte mich, all das hat so wenig mit mir zu tun, erscheint mir wie eine Welt, zu der ich keinen Zutritt habe, weder heute noch morgen, eine Welt, die ich niemals so erfahren habe und deshalb jetzt, wo ich selber Mutter werde, auch nicht reproduzieren kann. Wie soll das alles werden, wo in all dem Strahlen ist mein Platz - gibt es ihn überhaupt?

Bilder von meiner schwangeren Mutter existieren nicht, aber sie wollte ihre Schwangerschaft ja auch nicht, vielleicht hat sie deshalb alles getan, um sie nicht zu dokumentieren. Dennoch hat sie nach meiner Geburt ein Album angelegt, ein fast klassisches Baby-Album, das sich redlich bemüht, Normalität zu zeigen, schaut her, unsere Tochter, so sah sie aus, so hat sie sich am Anfang entwickelt, an uns kann es nicht gelegen haben, dass da schließlich etwas schief gegangen ist.

Ich nehme das Album aus dem Regal, es hat einen roten stoffähnlichen Einband, auf der Vorderseite ist eine stilisierte Wiege abgebildet. Meine Mutter hat mit ihrer stets jungmädchenhaft gebliebenen Schrift mein Geburtsdatum und den Geburtsort, das Gewicht (3.130 g), die Größe (52 cm) und meinen Namen in die vorgegebenen Zeilen eingetragen. Seltsamerweise hat sie meinen Zweitnamen falsch geschrieben, mit zwei „r“ statt mit einem, da er nicht sonderlich schwer zu buchstabieren ist, wundert mich das bis heute. Oder liegt es daran, dass mein Vater ihn ausgesucht hat?

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