Plazenta, -18°

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Manchmal machen meine Mutter, Steven und ich Ausflüge mit dem Porsche, wir fahren dann zum Baggersee in der Nähe und laufen dort ein bisschen herum. Einmal machen wir ein Picknick, als meine Mutter plötzlich anfängt, Steven mit Gummibärchen zu bewerfen, den kleinen roten, er macht sich einen Spaß daraus zu versuchen, sie mit dem Mund aufzufangen, und so sitzen sie nebeneinander auf der Wolldecke, völlig versunken in ihr Spiel. Ich stehe auf und will zum See herunter gehen, doch meine Mutter ruft mich zurück, versuch es doch auch mal, Schätzchen, fordert sie mich auf, ich stehe vor ihnen und greife schließlich nach der Tüte mit den Gummibärchen, mache mich innerlich ganz kalt und werfe, während meine Mutter lacht und Fotos von uns macht und Steven mich anspornt, lauthals. Dann treffe ich. Direkt in seinen weit aufgerissenen Mund.

Bald kommen immer öfter Pakete bei uns an, Pakete mit unzähligen Luftpost-Aufklebern und mir unverständlichen Aufschriften. Meine Mutter wartet mit dem Öffnen, bis ich nach Hause gekommen bin, dann fischt sie Süßigkeiten und kleine Geschenke für mich heraus und für sich Fotos von Stevens Haus in Amerika und Kassetten, unzählige schwarz glänzende, von ihm selbst besprochene Kassetten, die wir uns dann zusammen anhören, ich verstehe zwar viele Dinge nicht, die Steven darauf meiner Mutter erzählt, aber höre trotzdem weiter zu. Auf einer Kassette beschreibt er minutiös das Innere seines Hauses, die Details jedes Zimmers, in seinem Haus scheint es unzählige Räume zu geben, mehrere Schlaf- und Badezimmer, und von einigen kann man direkt auf einen See blicken, der an sein Grundstück grenzt. Es gibt sogar einen Kamin in seinem Haus, und er malt sich aus, wie es sein würde, dort mit meiner Mutter zu sitzen. Vor dem Kamin. Auf einem Bärenfell. Im Nachhinein ist es absurd, wie klischeereich das Ganze war, aber damals lausche ich gebannt, als höre ich eine von meinen Hörspielkassetten und müsse unbedingt erfahren, wie die Geschichte ausgeht. Danach beschwört mich meine Mutter jedes Mal, nur ja nichts davon meinem Vater zu erzählen, aber das müsste sie inzwischen nicht mehr sagen, ich weiß intuitiv, dass er von diesen Kassetten besser nichts wissen sollte.

Bald kommt es auch zu Telefonaten, langen Gesprächen zu seltsamen Zeiten. Das mit der Zeitverschiebung verstehe ich damals noch nicht richtig, ich wundere mich nur, warum Steven immer so spät anruft, manchmal ist mein Vater währenddessen oben im Arbeitszimmer, und meine Mutter flüstert deshalb in den Hörer. Irgendwann werden die Anrufe häufiger, drängender, meine Mutter lächelt nun nicht mehr, wenn sie mit Steven spricht, sondern redet beschwörend auf ihn ein und schickt mich aus dem Zimmer, ich versuche, an der Tür zu lauschen, aber verstehe nicht genug, um mir einen Reim darauf machen zu können.

Eines Abends sitzt sie weinend im Wohnzimmer. Steven will mich heiraten, schluchzt sie, ich soll mit ihm in dem Haus am See wohnen, mit dem Kamin, und er will, dass du mitkommst, dort die Schule besuchst, aber das kann ich doch nicht tun, ich kann dich doch nicht einfach deinem Vater entreißen und nach Amerika mitschleppen, ich weiß nicht, was ich tun soll, ich liebe ihn doch, aber er setzt mich so unter Druck, er will bald eine Antwort von mir, was soll ich denn um Gottes Willen nur machen. Ich starre meine Mutter an, in mir ist plötzlich ein riesiger Eisklumpen, der wächst und wächst, ich will nicht nach Amerika, aber ich will auch nicht, dass meine Mutter weint, trotz allem, an meinen Vater denke ich in diesem Moment nicht. Schließlich stottere ich, dann mach das doch, wenn du das willst. Nein, das kann ich nicht, erwidert meine Mutter, ihre Wimperntusche ist verlaufen und malt schwarze, schmierige Streifen in ihr sonst so gepflegtes Gesicht, ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn das schief geht, und ich habe dich mitgeschleppt. Da fange ich auch an zu heulen, und so sitzen wir beide dort auf dem Sofa und wissen nicht, was wir tun sollen.

Irgendwann kommen keine Anrufe mehr. Und keine Pakete. Doch manchmal finde ich meine Mutter im Wohnzimmer, wie sie die alten Kassetten hört und weint, in solchen Momenten fühle ich mich ganz schlecht und wünsche mich weit weg. Dorthin, wo es kein Amerika gibt. Und keine Entscheidungen, die anscheinend immer nur falsch sein können.

Nach dieser Episode wird es eine Zeitlang ruhiger um meine Mutter. Sie wirkt oft in sich gekehrt und abwesend, und sie fährt sich nur noch selten durch die Haare, ich versuche, sie aufzuheitern, doch es gelingt mir nicht oft, meistens sieht sie mich nur ernst und sehr nachdenklich an, und wenn ich sie dann frage, was sie gerade denkt, antwortet sie mir nicht. Ich spüre ihre Enttäuschung und Qual, aber ich weiß nicht, wie ich sie lindern soll. Und sprechen darf ich darüber natürlich mit niemandem.

Irgendwann wird sie krank, kann nichts mehr essen, sondern sitzt nur noch auf ihrem Platz in der Küche und drückt sich ihren Arm gegen den Bauch. Geht zum Arzt, zu noch einem Arzt, der ihr rosafarbene Tabletten verschreibt, doch es ändert sich nichts, die Schmerzen bleiben. Wenn ich mittags vor ihr sitze und esse, fühle ich mich ganz schlecht, weil ich etwas runter bekomme und sie nicht, das Ticken der Küchenuhr klingt überlaut in meinen Ohren, denn meine Mutter redet auch fast nicht mehr, nur das Nötigste, und das mit einer gepressten Stimme, selbst das Sprechen scheint ihr Schmerzen zu bereiten, deshalb sitzt sie nur noch regungslos auf ihrem Stuhl, mit dem Arm über ihrem Bauch, als sei er eine Art Gürtel, und betrachtet mich. Ich weiß nicht, was ihr dabei durch den Kopf geht, aber ich mag diese Blicke nicht, sie scheinen irgendetwas aus mir herauszulösen, und ich fühle mich seltsam leer, wenn ich die Küche verlasse und auf mein Zimmer gehe, dort ist es auch still, und selbst wenn ich spiele, tue ich dies schweigend, weil ich dann das Gefühl habe, gar nicht da zu sein, und wenn ich nicht da bin, hat meine Mutter vielleicht keine Bauchschmerzen mehr und kann nach Amerika gehen. Als ich damals den Kokon das erste Mal spürte, fühlte ich mich unsichtbar, jetzt versuche ich, unsichtbar zu werden. Und es gelingt mir, Stück für Stück ein bisschen mehr, bis ich irgendwann gar nichts mehr spüre. Ich teste das immer wieder, und irgendwann gelingt es mir, mich tief mit der Rasierklinge meines Vaters zu schneiden, ohne dass es weh tut. Doch es blutet sehr heftig, und weil ich nicht weiß, was ich dagegen tun soll, rufe ich verwirrt nach meiner Mutter, als sie kommt, sieht sie erschrocken aus, greift dann beherzt zum Erste-Hilfe-Kasten und verbindet meinen Finger. Für den Moment scheint sie keine Schmerzen mehr zu haben, und das ist gut.

Aber ich werde keine Ritzerin auf Dauer, denn meine Mutter scheint meine Taktik zu durchschauen, und ihre Besorgnis nimmt wieder ab. Bis ich krank werde, immer wieder und immer wieder, trotz aller Anstrengung schaffe ich es nicht, mich tatsächlich in Luft aufzulösen, denn habe ich die eine Erkältung gerade hinter mir, erreicht mich die nächste schwere Bronchitis. Mein Glück ist, dass ich eine gute Schülerin bin und mir die vielen Fehlzeiten nichts ausmachen, sonst wäre ich wahrscheinlich woanders gelandet als da, wo ich heute bin.

Meine Mutter kocht literweise Tee, Hühnersuppe, liest mir Geschichten vor, sitzt mit mir stundenlang in Wartezimmern, an meinem Bett, tagelang, nächtelang. Ich sei kränklich, erzählt sie unseren Nachbarn, ich weiß nicht, was das Kind hat, aber der leiseste Windstoß scheint sie umzuhauen, von wem hat sie das bloß, oder ist das normal, ich mache mir solche Sorgen, ich weiß gar nicht, was ich noch machen soll, meine Mutter wird darüber noch dünner, und auf ihrer Stirn bilden sich tiefe Falten, die nicht mehr vergehen.

Manchmal, wenn ich mit fiebrig heißem Kopf im Bett liege, mache ich mir Vorwürfe. Ich bin immer noch sichtbar, also wird meine Mutter für immer hier bleiben müssen. Aber manchmal, wenn es mir besonders schlecht geht und ich nur noch vor mich hindämmere, habe ich auch für kurze Zeit das Gefühl, dass alles normal ist. Ein krankes Kind, eine besorgte Mutter. Sie kümmert sich aufopferungsvoll um ihr Kleines, und das wird schließlich wieder gesund, und alles ist gut, so ist es doch in den Büchern, den Filmen, die ich kenne, das ist normal, so soll es sein. Oder nicht?

Oft bringt mir meine Mutter Geschenke ans Bett, neues Spielzeug, Tonnen an Büchern, Plüschtieren, und um mich herum baut sich ein riesiger Wall auf, es ist so viel Zeug, dass ich kaum mehr Platz auf meiner Matratze habe. Pflichtschuldig spiele ich mit den Sachen, obwohl sie mich mit Ekel erfüllen, weil es mir eigentlich unangenehm ist, etwas geschenkt zu bekommen, denn jedes Ding, das ich besitze, zeigt, dass es mich gibt, und ich wünsche mir weiterhin nichts mehr, als dass es nicht so ist. Aber meine Mutter scheint zu hoffen, dass ich durch den ganzen Kram wieder gesund werde, als sei Krankheit etwas, das man abbezahlen müsse, ein wucherndes Gebilde, dem man nur durch magische Mittel beikommen kann.

An meinen Vater erinnere ich mich kaum, er ist in dieser Zeit so gut wie nicht vorhanden, er kommt nie an mein Bett, als habe er panische Ängste, sich bei mir anzustecken, aber manchmal höre ich ihn, wenn ich nachts vor Durst aufwache, dann dringen die Stimmen meiner Eltern plötzlich von unten zu mir herauf, lautstark. Eines Nachts macht meine Mutter meinem Vater wieder Vorwürfe, dieselben wie immer, du kümmerst dich gar nicht um sie, ist dir eigentlich egal, wie es ihr geht, du hast eine Familie, schon vergessen, ich mache seit Wochen nichts anderes, als sie zu pflegen, aber du kommst weiterhin nach Hause, wann es dir passt, ich kann nicht mehr, verstehst du, ist dir das überhaupt klar? Mein Vater brummelt daraufhin nur etwas Unverständliches, was dafür sorgt, dass die Tirade meiner Mutter neue Höhen erklimmen, sie fängt an zu weinen und schreit noch lauter als vorher, ich habe es total satt mit dir, am liebsten würde ich dich verlassen, wenn das Kind nicht wäre, hätte ich es schon getan, da sei dir sicher, ich wäre schon längst woanders, wenn du wüsstest, glaub ja nicht, dass ich dich nötig habe, jetzt sagt mein Vater nichts mehr, wahrscheinlich hat er seine undurchdringliche Miene aufgesetzt.

 

Schließlich kommt meine Mutter die Treppe herauf und setzt sich im Dunkeln an mein Bett. Als sie bemerkt, dass ich wach bin, schnieft sie laut, dem habe ich aber mal die Meinung gesagt, es kann doch nicht sein, dass er sich hier um nichts kümmert, er ist doch dein Vater, aber du scheinst ihm völlig egal zu sein, das war von Anfang an so, ich kann mich noch erinnern, als du geboren wurdest, da ist er auch ins Büro gefahren, weil er mir nicht glaubte, dass ich Wehen habe. Sie lacht kurz und bitter auf, und durch die Bewegung ihres Kopfes fällt plötzlich das Flurlicht auf ihr Gesicht, sie sieht verweint aus, aufgelöst, aber auf eine seltsame Weise auch irgendwie dankbar, dass ich ihr durch mein Kranksein eine Rechtfertigung gegeben habe, meinem Vater endlich einmal alles zu sagen. Fast alles.

Irgendwann fängt sich meine Mutter wieder. Und irgendwann steht wieder ein Mann in unserem Wohnzimmer, ich habe ihn schon vorher einmal gesehen, aber ich kann mich nicht erinnern, wo. Er ist um einiges älter als meine Mutter, seine Haare oben auf dem Kopf sehen anders aus als an den Seiten, und er hat ein falsches Lächeln, unbeholfen tätschelt er mir auf dem Kopf herum, und ich bin froh, als meine Mutter sagt, ich dürfe nach oben gehen. Ich schließe meine Zimmertür, doch ich höre trotzdem ihr Lachen zu mir dringen, Jochen, sagt meine Mutter, du bist wirklich ein Charmeur.

Ich bin vor kurzem zehn Jahre alt geworden und gehe nun aufs Gymnasium. Es ist ein unüberschaubares Gebäude mit unzähligen Treppen, Fluren und Klassenzimmern, mit Tausenden von Kinderaugen, die mich prüfend musternd, sie merken sofort, dass ich nicht so bin wie sie, und anders als meine Mitschüler auf der Grundschule sind sie erbarmungslos deutlich in ihrem Urteil, ich verstecke mich vor ihnen während der Pause auf dem Klo und drücke mir die Hände auf die Ohren, um ihr hämisches Kichern nicht zu hören, trotzdem bekomme ich jeden Tag heftige Bauchschmerzen. Da sich diese neue Schule in einer zwanzig Kilometer von unserem Dorf entfernten Stadt befindet, fährt mich meine Mutter jeden Morgen dorthin und holt mich mittags wieder ab, das ist mühsam, für uns beide, denn sie ist eine sehr unsichere Fahrerin, und die Strecke über die Autobahn überfordert sie jedes Mal sichtlich, sie flucht und schreit und kriegt Schweißausbrüche, wenn sich ihrem kleinen Auto von hinten ein Lastwagen nähert, ich hasse diese Fahrten mit ihr.

Vielleicht aus diesem Grund, vielleicht aber auch, weil meine Eltern das Dorfleben inzwischen satt haben, beschließen sie eines Tages, in die Stadt zu ziehen, in eine Wohnung, die meiner Schule genau gegenüber liegt. Doch als mir meine Eltern von dem bevorstehenden Umzug erzählen, fange ich an zu weinen, ich liebe unser Haus, trotz allem habe ich gerne hier gewohnt, in meinem Zimmer hatte ich immer meine Ruhe, weil meine Eltern sich meistens im unteren Stockwerk aufhielten, in der neuen Wohnung wird alles auf einer Ebene sein, und ich werde nie mehr ungestört sein, das ahne ich schon so früh.

Aber meine Eltern haben ihre Entscheidung gefällt und außerdem beschlossen, dass ich während der Einpackerei nicht anwesend sein soll, sie kann doch ein paar Tage bei Jochen verbringen, schlägt meine Mutter vor, und da fällt mir plötzlich ein, woher ich ihn kenne: Er war einmal bei uns zum Essen eingeladen, er ist ein Geschäftspartner meines Vaters. Ja, warum nicht, brummt mein Vater ahnungslos, und so fährt er mich ein paar Tage vor dem geplanten Umzugstermin dorthin, ich weine und flehe, als ich im Auto sitze, aber mein Vater sieht mich nur genervt an, stell dich nicht so an, es sind doch nur drei Tage, und wenn ich dich dann abhole, ist dein neues Zimmer schon fertig eingerichtet. Doch ich will das nicht, ich will meine Sachen selbst ein- und wieder auspacken, ich will nicht umziehen, ich will nicht zu Jochen. Der hat auch eine Tochter, erwidert mein Vater, Anna, die ist acht, ihr könnt sicher schön miteinander spielen. Ich erstarre, wieso hat der auch eine Familie, das wusste ich nicht, davon hat mir vorher keiner etwas gesagt, den Rest der Fahrt über sitze ich stocksteif in meinem Sitz und kann nicht verstehen, was mit mir passiert, ich weiß nur, dass mir niemand Zeit gegeben hat, mich von meinem Zimmer, dem Haus, dem Garten zu verabschieden, und ich werde all das niemals wieder sehen, die Trauer darüber schnürt mir die Kehle zu, noch heute.

In einem riesigen Einfamilienhaus mit steif geschnittenen Rabatten davor nimmt mich kurze Zeit später eine resolute Frau in Empfang und zeigt mir die hallenähnlichen Räume, sie ist Jochens Frau, und ich habe sie noch nie zuvor gesehen, hinter ihr versteckt sich ihre Tochter, ein mageres, stummes Wesen mit großen, dunklen Augen. Nein, entgegen der Hoffnung meines Vaters können wir nicht miteinander spielen, wir sind beide gestörte Wesen, die das Spielen mit einem Gegenüber verlernt oder nie gelernt haben, deshalb sitzen wir kurze Zeit später schweigend in ihrem voll gestopften Kinderzimmer, umgeben von kreischend buntem Plastikschrott, und starren uns an. Viele Stunden später kommt Jochen nach Hause, der einzige Mensch in diesem Haus, den ich kenne, doch er begrüßt mich nur flüchtig, und während wir an einem monströsen Glastisch zusammen Abendbrot essen, weicht er meinem Blick aus, als habe er panische Angst, ich könne im nächsten Moment erzählen, dass er der Liebhaber meiner Mutter ist, doch das habe ich nicht vor, in meinem Bauch sitzt ein eisiger Klumpen, und ich bin unsichtbar, die Nacht verbringe ich schlaflos im Gästezimmer.

Am nächsten Morgen sehe ich, wie Jochens Frau Annas Bett frisch bezieht, sie scheint in der Nacht ins Bett gemacht zu haben, mit acht Jahren. Ich verbringe noch zwei wortlose Tage in diesem Haus, jeden Abend ruft meine Mutter an, die gestresst klingt, aber trotzdem noch unbedingt kurz mit Jochen sprechen möchte, und ich reiche den Hörer weiter und gehe zurück in Annas Zimmer. Als mein Vater mich schließlich wieder abholt, lächelt sie zum ersten Mal, und ich lächele zurück, wir scheinen beide erst in diesem Moment zu begreifen, dass wir ein ähnliches Schicksal teilen.

Im Auto frage ich meinen Vater, ob wir noch einmal an unserem alten Haus vorbei fahren können, doch er will keinen Umweg machen. Er fährt den Weg, den ich bisher immer zur Schule gefahren wurde, das ist seltsam, weil ich dadurch irgendwie das Gefühl bekomme, aus der Zeit gefallen zu sein, es ist Wochenende, ich muss jetzt nicht zur Schule, aber ich fahre trotzdem dorthin, und als wir in die Straße einbiegen und ich das verhasste Gebäude sehe, bekomme ich heftige Bauchschmerzen. Als ich die neue Wohnung das erste Mal betrete, verstärkt sich die Irritation, denn natürlich stehen dort alle Möbel, hängen dort alle Bilder, die ich kenne, aber ich kann sie nicht mit den Räumen in Verbindung bringen, die ich noch nie zuvor gesehen habe, es ist wie in einem Alptraum, ich bin zuhause und bin es doch nicht. Wo bin ich dann?

In der Tür meines neuen Zimmers steht meine Mutter und lächelt breit, sichtlich stolz, dass sie es geschafft hat, alles rechtzeitig einzurichten. Doch ich erkenne meine Sachen nicht mehr, sie sind mir fremd, sie existieren nun in einer fremden Ordnung, die ich nicht durchschaue, und so sitze ich wieder schweigend in einem Kinderzimmer, das nicht mein eigenes ist. Und fange an zu weinen.

Ich weiß bis heute nicht, warum meine Mutter all das getan hat. Warum sie oft so gedankenlos war mir gegenüber, warum sie von einem Mann zum anderen jagte, warum ihr das Leben mit uns nicht gereicht hat. Liebte sie meinen Vater doch nicht oder nicht genug, langweilte sie sich so sehr in ihrem Mutterdasein oder brauchte sie schlicht das ständige Begehrt-Werden als Lebenselixier? Ich habe sie das des Öfteren gefragt, aber sie hat mir nie eine Antwort gegeben. Vielleicht weiß sie auch selbst keine.

Auf jeden Fall explodiert die ganze Blase aus Versteckspiel und Geheimnissen ein paar Jahre später, irgendwann hält wohl keiner der beiden mehr die permanenten Lügen aus, Lügen dem anderen und vor allem sich selbst gegenüber, und meine Eltern trennen sich, als ich 13 bin, mein Vater bezieht ein kleines Apartment am anderen Ende der Stadt. Ich sehe ihn kaum noch, aber wir hatten schon vorher kaum Kontakt, deshalb trifft mich sein Auszug nicht besonders, er konnte mich sowieso nie schützen. Ich habe inzwischen erfahren, dass meine Angst vor der neuen Wohnung nicht unbegründet war, denn ich habe tatsächlich keinen Rückzugsort mehr, die verhasste Schule liegt direkt gegenüber, und jedes Mal, wenn ich aus meinem Fenster blicke, werde ich an ihre Existenz erinnert, außerdem liegt mein Zimmer zwischen dem Schlafzimmer meiner Mutter und dem Wohnzimmer, und ich bekomme jedes Wort mit, jede Berührung, zwischen ihr und dem anderen, oder meine Tür öffnet sich, und jemand kommt herein, besticht mich mit Spielzeug, streicht mir linkisch über den Kopf, will mit mir reden, ich verstumme dadurch immer mehr, bin nur eine Besucherin in meinem eigenen Zimmer. Und wenig später beginnen meine Zustände.

Der Teppich in meinem Zimmer ist hell, mit einigen dunklen Flecken durchsetzt, er ist aus Naturwolle und mein bester Freund, denn ich kenne ihn gut, ich kenne jede Faser seiner Schlaufen, jede Abweichung in der Struktur, ich kenne seinen Geruch, ein bisschen dumpf, fast muffig, ich kenne das Gefühl seiner Wolle auf meiner Haut, ich liege oft auf ihm und betrachte ihn, niemals zuvor (und niemals wieder) bin ich einem Ding so nahe gekommen wie ihm. Sobald ich aus der Schule komme und meine Aufgaben erledigt habe, lege ich mich auf den Boden, ich kann nicht mehr länger sitzen, ich bin müde, und der Bauch tut mir weh, doch ins Bett kann ich auch nicht gehen, denn dann würde meine Mutter mir die Hand auf die Stirn legen und den Arzt rufen, ich kann nur hier unten liegen, mit ein paar Büchern in Reichweite, falls jemand herein kommt, kann ich so tun, als lese ich, das sieht ja gemütlich aus, Schätzchen, soll ich dir vielleicht ein paar Kekse bringen und etwas zu trinken? Nein, Mama, lass nur, es ist alles in Ordnung, wenn ich etwas möchte, hole ich es mir schon, und so schließt sich die Tür wieder, und ich bin wieder allein mit den wolligen Schlaufen.

In der Schule schreibe ich weiterhin gute Noten, weiche weiterhin stoisch den höhnischen Rufen und zweifelnden Blicken meiner Mitschüler aus, nach außen hin ist keine Veränderung zu bemerken, das Funktionieren bin ich gewöhnt, doch alles andere ist mir inzwischen gleichgültig geworden, ich schaue mir meine Bücher nicht mehr an, spiele nicht mehr mit meinen Spielsachen, ich tue nur noch das, was von mir erwartet wird, zur Schule gehen, essen trinken schlafen, ansonsten starre ich auf meinen Teppich.

Irgendwann wird es noch schlimmer. Die Blicke meiner Mitschüler werden drängender, ihr Lästern unüberhörbar, irgendetwas stimmt doch nicht mit ihr, sie hat schon wieder eine Eins geschrieben, macht die eigentlich noch was anderes als Lernen, die ist doch nicht ganz normal, wisst ihr schon, dass ihr Vater ihre Mutter verlassen hat, vielleicht ist sie darüber plemplem geworden, ich versuche, ungerührt an ihnen vorbei zu gehen, ihre viel sagenden Gesten zu übersehen, doch das Nagen in mir wird größer, lauter, bis ich mich völlig ausgehöhlt fühle. Ich schwänze die Schule, um ihnen zumindest einen Tag zu entgehen, doch zuhause ist meine Mutter und irgendein Mann, und ich habe keine Wahl, als unsichtbar zu werden, ein Staubkorn in den flauschigen Untiefen meines Teppichs, dort unten liege ich und schlage den Kopf gegen den Boden, immer härter, immer fester, ohne dass es jemand hört, die Wolle dämpft jedes Geräusch.

Meine Mutter hat sich in den letzten Jahren zunehmend angewöhnt, sich meine Krankheiten anzueignen, jedes Mal zusammen mit mir krank zu werden, vielleicht lenkte sie das von ihren eigenen Schmerzen das Leben betreffend ab. Wenn ich hustete, bekam sie fast eine Lungenentzündung, wenn ich Bauchschmerzen hatte, plagte sie ein Magengeschwür, wenn ich Kopfschmerzen hatte, drohte ihr eine Hirnhautentzündung, immer jammerte sie lauter, immer ging es ihr schlechter als mir, sie pflegte mich trotzdem, aber stets mit einer solchen Leidensmiene, dass ich am liebsten das Bett verlassen hätte, wenn es mir nicht gerade so mies gegangen wäre. Doch nun, als ich immer desinteressierter an allem werde, geradezu stumpf, bleibt sie seltsam unbeteiligt, passiv, aber vielleicht ist ihr Verhalten auch in dieser Hinsicht im Endeffekt nichts anderes als eine Spiegelung, vielleicht weiß sie insgeheim, dass Hühnersuppe oder Wadenwickel bei dieser Krankheit nicht helfen, und andere Möglichkeiten kennt sie nun einmal nicht.

 

Als ich schließlich gar nicht mehr weiter weiß, nehme ich mir eines Mittags ein langes Seil, lege es um meinen Hals und ziehe zu. Meine Mutter ist einkaufen, ich habe den Schlüssel von innen in die Wohnungstür gesteckt, um ungestört zu sein, zu bleiben, und ich spüre, wie sich der Druck um meinen Hals immer mehr verstärkt und ich gleichzeitig innerlich immer kälter werde. Ich sehe mein Zimmer, ich sehe meine Bücher, meine Stofftiere, meine Spielsachen, meine Schulbücher, meine Möbel, ich sehe das alles, und es bedeutet mir nichts, nichts davon gehört mir noch, ich bin nur noch ein glückliches, atemloses Schweben in luftleerer Stille. Dennoch gibt es irgendwann einen Widerstand in mir, irgendetwas lässt mich plötzlich nicht weiterziehen, sondern nachgeben, das Seil wieder lösen, ich verstehe es nicht, ich bereue mein Schwanken und fange an zu weinen, weil ich es vollenden will und nicht kann, was bin ich nur für eine elende Versagerin.

Als ich in den Spiegel sehe, in mein verweintes, gerötetes Gesicht, erschrecke ich, um meine Augen und meinen Hals haben sich rot gesprenkelte Spuren hineingefressen, ich sehe aus wie die Trägerin einer seltenen Krankheit. Doch bevor ich etwas dagegen unternehmen kann, klingelt es bereits, meine Mutter steht vor der Tür, irritiert darüber, dass sie nicht herein kommt, drückt sie ihren Finger auf die Klingel, bis ich schließlich öffne. Sie kommt herein, schwer beladen mit ihren Tüten und Taschen, und erst als sie alles abgestellt hat, fallen ihr die Verfärbungen in meinem Gesicht auf, was hast du denn gemacht, was ist das denn, sie drückt an meinen Lidern herum, das sieht aus wie eine Allergie, hast du etwas Falsches gegessen? Ich schüttele den Kopf, ich weiß auch nicht, was es ist, aber es wird schon wieder weggehen, wispere ich, ich werde alles tun, aber nicht auch noch ihr gegenüber meine Schmach eingestehen, dass ich es nicht geschafft habe, ich will in mein Zimmer gehen, die Tür hinter mir schließen, weinen, doch meine Mutter insistiert, wir müssen zu einem Arzt, bevor es schlimmer wird, sofort.

Und so sitzen wir wenig später vor einem Hautarzt, der sich mein Gesicht genau ansieht, ratlos ist, bei der Frage nach einer Diagnose nur die Schultern zuckt und eine Salbe aufschreibt, dreimal täglich, obwohl die Flecken vollkommen offensichtlich sind, kleine Blutergüsse unter der Haut, und nichts anderes illustrieren können als meinen hilflosen Versuch, mir das Leben zu nehmen, mit einem erbärmlichen Strick aus der Abstellkammer. Meine Mutter ist unzufrieden, als wir die Praxis verlassen, was sollte denn das, wieso hat der nicht gesagt, was es sein könnte, der hatte ja überhaupt keine Ahnung, und sie zerrt mich ins nächste Wartezimmer, unter das nächste Vergrößerungsglas. Als der zweite Arzt sich nach der Untersuchung wieder hinter seinen Schreibtisch setzt, sieht er meine Mutter ernst an, eine Salbe hilft hier nicht, das wissen Sie wahrscheinlich selbst, wenn ich ehrlich bin, sollten Sie dringend mit Ihrer Tochter sprechen, so bald wie möglich, sein Blick liegt wie festgenagelt auf meiner Mutter, obwohl ich keinen Meter von ihr entfernt sitze, sieht er mich kein einziges Mal an. Meine Mutter nickt, sie wirkt, als habe sie verstanden, und dann nimmt sie mich an der Hand und tritt mit mir auf die Straße, aber wir gehen nach Hause, ohne ein Wort zu wechseln, und so vergeht der Rest des Tages, wir essen schweigend zu Abend, wir gehen stumm zu Bett, wir sprechen nicht über die Worte des Arztes, reden Sie mit Ihrer Tochter, schnellstens, nein, wir erwähnen unseren Besuch bei ihm mit keiner Silbe, weder an diesem Tag noch an einem anderen, nie mehr, kein einziges Mal, und als die Flecken in meinem Gesicht irgendwann heller werden und schließlich ganz verblassen, ist es, als habe es ihn nie gegeben.