Die Mobilitätswende

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Die Mobilitätswende
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Karin Kneissl

Die Mobilitäts
wende

und ihre Brisanz für Gesellschaft und Weltwirtschaft


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printed in Austria

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2020

© 2020 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Cover: oben: Shutterstock © lovelyday12; unten: Shutterstock © QiuJu Song

ISBN 978-3-99100-307-6

eISBN 978-3-99100-308-3

Gewidmet ist dieses Buch:

Bertha Benz, die einfach losfuhr und angewandte Forschung machte. Henry Ford, der das Auto erschwinglich machte und die Arbeiter förderte. Loujain al-Hathloul, die mutige Autofahrerin im saudischen Gefängnis. Elon Musk, der die Mobilität eventuell revolutioniert und keine Werbeinserate schaltet.

INHALT

VOR EINER WEICHENSTELLUNG – VORWORT

WENN AUTOFABRIKEN ZU MUSEEN WERDEN

Autopioniere setzen die Trends

Vom Erfinderreichtum zum Stillstand unter den „Großen“ und dem Aufstieg Asiens

Die Werkbank, der Absatzmarkt und der Technologieführer China

Lieferketten neu denken

Automobilproduktion auf dem afrikanischen Kontinent

Österreich und der Wandel vom Wegbereiter zum Zulieferer

Ausblick auf die Automobilindustrie und ihre Zulieferer

Erste These und mögliche Schlussfolgerung

DAS ERDÖLZEITALTER UND DIE MOBILITÄT

Die Mobilitätswende des Ersten Weltkriegs und die politischen Folgen

Den Pipelines folgten die Staatsgrenzen: das Erdölabkommen von San Remo 1920

Mit dem Erdölzeitalter beginnt das Autozeitalter

Das Erdölzeitalter könnte mit dem Autozeitalter enden

Exkurs: Zaki Yamani, der Magier des Erdölmarktes

Rohstoffe versus Technologie: Deutschland versus Großbritannien und USA

Es ist alles eine Kostenfrage

Das temporäre Phänomen des Frackings

Zweite These und mögliche Schlussfolgerungen

DIE ERDÖLPRODUKTION ZWISCHEN GEOPOLITIK UND GLOBALER DEPRESSION

Exkurs: Terminkontrakte: von der Risikostreuung zur Spekulation

Die nahöstlichen Erdölproduzenten und das „billige Öl“ im Spiegel der Kriege

Der Golfkrieg und der Preisverfall

Exkurs: Die Regionalmacht Iran: seine fossilen Reserven und Atomkraftwerke

Die „Dutch Disease“ trifft alle

Preisverfall trotz Säbelrasseln

Die Weltlage 2020 und eine Diplomatie im Patt

Die Remittances der Arbeitsmigranten

These Nummer drei und Schlussfolgerungen

IM NAMEN DER EMISSION UND EMOTION: DIE AUTOMOBILINDUSTRIE AM PRÜFSTAND

Die alte Automobilindustrie und ihre neuen Krisen

Exkurs: Was bedeutet das Auto der nächsten Generation?

Die getriebene Autoindustrie: Dieselgate und andere Skandale

Ist der Verbrennungsmotor die Wurzel allen Übels und der elektrische Motor die Lösung?

Exkurs: Ein praktischer Blick auf das Elektroauto und für wen es sich eignet

Kracht die Automobilindustrie, kippt Deutschland

Green Deal in der globalen Depression

Woher kommt der Strom für die E-Mobilität: das unterschätzte Blackout

These Nummer Vier

DIE JEWEILIGE ZUKUNFT DER MOBILITÄT ALS FAVORIT DER SCIENCE FICTION

Die Mobilität und die Zivilisation

Wurde alles schon erfunden?

Exkurs: Elon Musk, Visionär oder Blender

Es war einmal: Hochgeschwindigkeitszüge in Europa

Die Rückkehr der Klimadebatte und ein neuer Glaubenskrieg

Der Wasserstoff als zusätzliche Option

Technischer Exkurs zu Farben und Fragezeichen des Wasserstoffs

Wer wird wohin fliegen?

These Fünf und Schlussfolgerungen

DIE MOBILITÄTSWENDE UND IHRE KRITIKER

In jedem Auto liegt eine gelbe Weste

Die Energiewende schafft eher Arbeitsplätze ab, die Mobilitätswende ebenso

Welcher Steuerentfall infolge der Mobilitätswende

Die Erdölkonzerne und das Weltwirtschaftssystem

Eine weitere Blase auf den Finanzmärkten könnte die Mobilitätswende erfassen

These Sechs und Schlussfolgerungen

DIE PANDEMIE: ZWISCHEN GRENZENLOSER MOBILITÄT UND VERORDNETER IMMOBILITÄT

Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie

Der Impfpass als neuer Reisepass

Psychologie und Politik: Angst vor dem Fremden und der Infektion

 

These Sieben und Schlussfolgerungen

Schlussbetrachtungen in Form von Szenarien

Fazit: Die Mobilitätswende wird sich verzögern

Literaturangaben

Abbildungsverzeichnis

Danksagung

VOR EINER WEICHENSTELLUNG –

In dem Moment, als wir uns in der permanent verfügbaren Mobilität wähnten, implodierte diese aufgrund einer Pandemie. Es folgte der globale Stillstand. Der allgemein erwarteten Explosion des Verkehrsaufkommens mit immer mehr Pendlern, Billigflügen und Arbeitsmigration zwischen den Kontinenten folgte die Mobilitätsimplosion. Videokonferenzen und das Homeoffice traten gleichsam binnen Wochenfrist an Stelle von Geschäftsflügen und dem täglichen Stau von der Peripherie zum Arbeitsplatz. Datenautobahnen schienen plötzlich wichtiger als die leer gefegten Autobahnen. Wir waren im Namen der Gesundheit immobil geworden. Ein Virus namens Covid-19 legte Weltwirtschaft und Gesellschaft lahm. Von Mobilität vorerst keine Spur. Die Pandemie wurde erst denkbar durch unsere ungebremste Mobilität.

Das Weltwirtschaftsforum (WEF) erstellt jährlich eine Liste „imminenter Bedrohungen für die globale Sicherheit“. Darin findet sich seit Jahr und Tag neben dem Wohlstandsgefälle und damit verbundener Migration sowie dem Klimawandel auch das Thema Pandemie. Es möge niemand behaupten, man habe ein solches Ereignis nicht erahnen können. Pandemiepläne liegen in den Schubladen aller Regierungen dieser Welt. Dennoch wurde fast jeder Staat auf dem falschen Fuß erwischt. China, wo in der Stadt Wuhan die Atemwegserkrankung Ende 2019 erstmals auftrat, ergriff mit Verzögerung Maßnahmen, dann aber umso drastischere. In der EU agierte jeder Staat anders, die EU-Kommission sah hilflos dem Treiben zu, Russland und China organisierten Luftbrücken nach Italien, während das Epizentrum weiter nach Nordamerika zog. Die Stilllegung allen öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens trifft Indien, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, genauso wie die Tagelöhner von Kairo oder die Kulturschaffenden zwischen Paris und Rom.

Im Jänner 2019 nahm ich am WEF in Davos teil. Das Forum widmete eine eigene Debatte den Kosten von Klimawandel und Pandemie, die ungefähr gleich hoch kalkuliert wurden. Die dort mitwirkenden Experten skizzierten detailliert die Konsequenzen eines Pandemieszenarios für die Volkswirtschaft, ob für Industriestaaten, Schwellenländer oder eben die ärmsten unter den UNO-Mitgliedern. Konzepte und Rechnungen lagen vor, bloß widmete sich das damalige mediale Interesse viel mehr dem Brexit und den Populisten in der EU.

Wir waren bislang in unserem Geschichtsabschnitt verwöhnt, weil die letzten großen Seuchen, wie Ebola und SARS, meist lokal bzw. regional blieben. Keiner ist mehr unter uns, der von der Spanischen Grippe kurz nach dem Ersten Weltkrieg oder den wiederkehrenden Cholera-Ausbrüchen, die auch Europa immer wieder heimsuchten, berichten könnte. Nun müssen wir begreifen, wie zerbrechlich auch dieses so selbstverständliche Gut der Reisefreiheit, der Bewegungsfreiheit an sich ist. Den Eisernen Vorhang, komplizierte Visaanträge, Terrorismusgefahr und beschränkte finanzielle Möglichkeiten kennen wir als Korsett. Und dennoch haben wir uns als Einwohner eines vermeintlich globalen Dorfs an die grundsätzliche Verfügbarkeit des unbegrenzten und vor allem sehr günstigen Reisens gewöhnt. Die Mobilitätsbranche ist eine, die weit über den Personen- und Güterverkehr hinausgeht, sie erfasst in einer globalisierten Welt fast alle Lebensbereiche. Dennoch möge uns in Erinnerung bleiben, dass dieser Eindruck gesellschaftlicher Mobilität als damalige Normalität kein allgemein gültiges Phänomen war. Die meisten Menschen bewegten sich auch ante Covid-Krise nicht überall permanent, sondern sie blieben und bleiben ein Leben lang in der Region, in der sie geboren wurden.

Als ich dieses Buch im Herbst 2019 konzipierte, war die Idee einer Mobilitätswende in erster Linie vom Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor und den möglichen politischen Folgen für Erdöl produzierende Staaten bestimmt. Im März 2020 brach dann binnen weniger Tage der Erdölpreis von rund 60 US-Dollar pro Fass auf 20 US-Dollar ein. Die bereits spürbare nachlassende Nachfrage aufgrund der Krise in der Autoindustrie musste infolge des weltweiten Lockdowns einem absoluten Einbruch der Nachfrage weichen. Rund 40 Prozent der täglichen Erdölproduktion, das waren zu Jahresbeginn noch um die 100 Millionen Fass pro Trag, gehen in die Mobilität. Was immer also in diesem Bereich passiert, wirkt sich entsprechend auf den Erdölpreis aus. Die plötzliche Wende zum Stillstand ließ folglich den Erdölpreis implodieren. Plötzlich erscheint der langfristig geplante Ausstieg aus der Produktion des Verbrennungsmotors geradezu unbedeutend für den Erdölmarkt.

Wie geht es nun mit unserer Mobilität weiter? Die Weichen werden neu gestellt. In welche Richtung sich die bislang bekannten Trends von E-Mobilität über autonomes Fahren bis hin zu völlig neuen Technologien entwickeln, analysiert dieses Buch. Zentral in dieser Wendezeit bleiben jedenfalls die Folgen für die Automobilindustrie, eine der letzten Schlüsselindustrien in Europa, und die möglichen geopolitischen Verschiebungen infolge langanhaltender Krisen in jenen nahöstlichen Staaten, deren Einnahmen vorwiegend aus dem Export fossiler Energieträger stammen.

Noch im Jahr 2019 wurden weltweit 80 Millionen Neuwagen verkauft. Bei einem Durchschnittspreis von 25.000 Euro entspricht dies einem Umsatz von mehr als 2.000 Milliarden Euro. Wenn es darum geht, die größte Rezession seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 zu überwinden, dann wird eine innovative Mobilität hierbei ihre Rolle spielen. Alles ist eine Frage der Sicherheit. Wenn die Menschen um ihre persönliche Zukunft aus Sorge um den Arbeitsplatz oder die Gesundheit bangen, dann werden sie kaum ein Konsumgut wie das Auto erwerben. Um den Menschen Sicherheit zu geben, lassen sich Anreize schaffen. Der koreanische Autobauer Hyundai schaffte im Windschatten der Krise 2008/9 mit der Kampagne „Sicherheit in unsicheren Zeiten“ eine Wende. Den Käufern wurden sehr lange Garantien angeboten, in der Folge sogar der Rückkauf bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Welche Strategien Regierungen wie auch die Gesellschaft zur Neugestaltung der Mobilität vorgeben, wird die Überwindung der massiven Rezession mitbestimmen. Wie schon während der Finanzkrise stehen Verstaatlichungen an. In den Krisenjahren 2008/9 wurden in den USA mehr Vermögenswerte nationalisiert als in der Sowjetunion. Wurde der US-Konzern GM damals vom offiziellen Namen „General Motors“ zwecks staatlicher Rettung zu „Government Motors“ ironisch umbenannt, so könnten diesmal Fluglinien zu Staatseigentum werden und derart ihre Verluste auf die Steuerzahler abwälzen. Die Preise für Flugtickets würde ein Verkehrsministerium festlegen, womit Fliegen wieder etwas Außergewöhnliches würde. In Österreich hätten wir bald wieder die parteipolitische Parität im Cockpit, wie dies viele Jahrzehnte der Fall war, wäre nicht der einstige „National Carrier“ in der deutschen Lufthansa-Gruppe aufgegangen. Mein Vater verließ in den späten 1960er Jahren die AUA, so der damalige Name der nationalen Fluglinie, in Richtung Jordanien. Denn während in Wien darauf geachtet wurde, dass im Fall eines SPÖ-Kapitäns der Copilot von der ÖVP war, musste man in Jordanien nur ein guter Pilot sein. Der Staat ist mit der massiven Wirtschaftskrise wieder mit voller Wucht als Akteur, als nicht immer erfolgreicher Krisenmanager und Koordinator der Rettungsgelder da. Das Primat des Staates ist die logische Folge einer solchen Ausnahmesituation. In welchem Umfang daher die Mobilitätswende auf echtem Wettbewerb und nicht auf staatlich verordnetem Forschungsergebnis fußt, wird Folge der weiteren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen sein.

Werden wir vor dieser veränderten Gemengelage, die sich wohl nicht mit Gelddrucken beruhigen lässt, die Klimaziele des von der Europäischen Kommission verordneten Green Deals weiter verfolgen? Demzufolge sollen die Treibhausgasemissionen des Verkehrssektors bis 2050 um 90 Prozent sinken. Oder werden sich viele Regierungen gezwungen sehen, andere Prioritäten zu setzen, um soziale Revolten zu verhindern? Werden die Menschen infolge von Massenarmut ihr altes Dieselfahrzeug so lange wie nur möglich weiterbenützen, anstatt Carsharing zu betreiben, das in Zeiten hoher Infektionsgefahr ohnehin obsolet wurde? Und wird das Geld der öffentlichen Hand reichen, um das Schienennetz auch in Europa endlich zu verbessern? Oder überlassen wir die Innovation aller Infrastruktur China, das über die Belt and Road Initiative BRI ohnehin die wesentlichen alten und neuen Verkehrswege zu Lande und zu Wasser ausbaut?

Der gesamte Sektor Mobilität wird mit der Covid-Epochenwende neu zu definieren sein. Die Weichen stellen Regierungen, Firmen und die Wissenschaft; vor allem aber Menschen, die sich die Lust am Reisen nicht nehmen lassen. Der Handel wird möglicherweise Lieferketten neu gestalten, einst ausgelagerte Betriebsstätten wieder „heimholen“, also Backshoring statt Offshoring. Die Verwundbarkeit unserer global organisierten Lieferketten, ob für die Nahrungsmittelherstellung oder den Zusammenbau eines Küchenmöbels, ist hinlänglich bekannt. Handlungsbedarf besteht schon lange, manches ist auch bereits geschehen. Eine Regionalisierung oder gar Lokalisierung, ob in der Landwirtschaft oder auch in der Produktion von Pharmaprodukten, wird nun angesichts dieser spürbaren Verwundbarkeit des Frachtverkehrs allen niedrigen Transportkosten zum Trotz beginnen.

Das Leben wird, selbst wenn es am Ende wieder zu einer Normalität zurückkehrt, auf andere Weise normal sein. Wir werden gelernt haben, ein weit zerbrechlicheres Leben mit ständigen Bedrohungen zu führen. Genau das haben frühere Generationen nämlich auch gelebt. Wir durften in bestimmten Weltregionen, wie Teilen Westeuropas, die Illusion der Vollkaskomentalität eine Weile leben. Doch nun müssen wir uns eingestehen: Ein Virus taucht auf, durchwirbelt alles und wir haben die Kontrolle über unseren Bewegungsradius verloren. Fast vorbildlich halten sich Menschen vielerorts an die Quarantäne und üben sich im Distanzhalten. Wo der Bürgersinn endet und die Untertanenhaltung beginnt, beschäftigte mich persönlich vom Anbeginn der sogenannten „Maßnahmen“, wobei Verordnungen in einigen Punkten die Gesetze überschritten und damit verletzten. Die Mobilität in Form des Rechts auf Versammlungsfreiheit ist seit 1867 in den Staatsgrundgesetzen normiert, wurde aber zu den Iden des März 2020 kurzerhand eingeschränkt.

In den kommenden Kapiteln, die jeweils in sich abgeschlossen sind, wird die Geschichte unserer Mobilität nachgezeichnet und es werden Ausblicke auf die Folgen der vielen noch möglichen Formen einer Mobilitätswende unternommen. Der Mensch ist nicht für den Stillstand gemacht, sondern sucht die Bewegung. Eine neue Zeit für den Transport von Menschen und Waren sowie für das Reisen schlechthin nimmt ihren Anfang.

Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.

(Henry Ford, Geschäftsmann und Erfinder)

Die europäische Integration ist unser Ziel, und wo die Politiker versagten, werden wir Industriellen erfolgreich sein.

(Giovanni Agnelli)

1. KAPITEL:
WENN AUTOFABRIKEN ZU MUSEEN WERDEN

Turin – die Zeitenwende – vom Erfinderreichtum zum Stillstand in Deutschland – Detroit und die Risiken für Bratislava. Europas Niedergang und Chinas Aufstieg – die Rolle Afrikas als neue globale Produktionsstätte. Ein historischer Rückblick auf Erreichtes, wir leben noch vom Erfindergeist ante 1914. Ein kritischer Ausblick auf den Stillstand in der europäischen Automobilindustrie, die Folgen für die Zulieferer, mögliche Massenarbeitslosigkeit in diesem Sektor.

Die größte und modernste Autofabrik der Welt befand sich vor dem Ersten Weltkrieg in Turin, der einstigen Residenzstadt der italienischen Könige. Die Mitbegründer der Fiat-Werke, die Industriellenfamilie Agnelli, sollten im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Art republikanischen Königsfamilie in Italien aufsteigen. Begründet wurde das Industrieimperium von Giovanni Agnelli (1866–1945), der im Jahr 1899 die „Società Italiana per la Costruzione e il Commercio delle Automobili Torino“, aus der später die „Fabbrica Italiana di Automobili Torino“, weltweit als Fiat bekannt, hervorging. Turin und Fiat sind eng mit dem italienischen Wirtschaftswunder verbunden. Doch mit dem Abzug der Industrie nach Süditalien und Osteuropa begann sich auch die Stadt zu entleeren, so fiel die Bevölkerung seit den 1980er-Jahren um rund ein Drittel auf unter eine Million Menschen.

 

Vom Piemont und Turin hatte die Einigungsbewegung Italiens zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Anfang genommen. Italien sei nur ein geographischer Begriff, soll der österreichische Staatskanzler Klemens Metternich einst abschätzig über das Land gesagt haben. Die italienischen Nationalisten mit ihrer offenen Rebellion gegen die Herrschaft der Habsburger bereiteten dem Kutscher Europas, wie der mächtige Stratege Metternich damals genannt wurde, ständig Probleme. Der Nationalstaat Italien, der seit 1861 offiziell existiert, nahm in dieser eleganten Stadt mit ihren großzügigen Boulevards und schönen Plätzen seinen Anfang. Stolz auf den Aufbau einer italienischen Nation zeitigten dann auch hier der italienische Erfindergeist und vor allem das Gespür für attraktives Design und originelle Werbung zu Erfolgen im Dienste der aufstrebenden italienischen Industrie.

1912 begann mit der Produktion des Fiat Zero die Großserienproduktion. 1916 errichtete Fiat das Automobilwerk im Stadtteil Lingotto. Die Produktionsanlage war die größte und fortschrittlichste ihrer Zeit, die Architektur der Anlage fasziniert gleichermaßen durch ihre Größe und Ästhetik. Auf dem weitläufigen Dach befand sich eine Rundkursteststrecke, die Autos konnten durch das gesamte Gebäude fahren. Heute ist die Fabrik ein eher stilles Einkaufszentrum, mit viel Sorgfalt renoviert, aber es fehlt das Flair des „Immer-schneller-immer-Weiter“ und der „industria“, was auf Latein ja nichts anderes als Fleiß bzw. Unternehmergeist bedeutet. Wo Benzinduft und Schweiß in der Luft lagen, atmet der Besucher heute die Aromaluft des leeren Kaufhauses. Das einstige Industrieviertel von Turin spiegelt auf tragische Weise die Deindustrialisierung in Europa wider. Zu Beginn der 1970er-Jahre produzierte und verkaufte Fiat sowohl weltweit wie auch in Europa mehr Autos als VW und war damit der größte Automobilkonzern Europas. Tempi passati – „es war einmal“ auf Italienisch.

In dem Bezirk befindet sich heute ein Automobilmuseum, das Museo Nazionale dell’Automobile. Es gehört im Vergleich zu den vielen Automuseen, die sich von Zwickau mit dem August-Horch-Museum, das dem Gründer von Audi gewidmet ist, über das Porsche-Museum am Mattsee in Salzburg bis nach Hamburg und Paris ziehen, zu den wirklich gelungenen Museen seiner Art. Wenn aus Autofabriken Museen werden, dann stimmt aber etwas nicht. Denn trotz aller Anmut der lebenswerten Stadt am mächtigen Fluss Po ist die Identitätskrise überall spürbar. Mailand stellt heute das elegante Turin, das das Zentrum von Ingenieurskunst war, in den Schatten. Anstelle des Autobaus traten Finanz- und Versicherungswesen. Der Niedergang der Automobilindustrie und anderer Betriebsstätten veränderte diese wichtige Wirtschaftsregion Norditaliens, die mit Bayern gleichbedeutend als Wirtschaftsmotor und Arbeitgeber in der Europäischen Union (EU) ist.

Fiat als alleinstehende Marke, die sich dann noch den Rennstall Ferrari leistete, musste bereits in den letzten Jahrzehnten an den großen Fusionswellen mitwirken. Aus Fiat wurde 2014 Fiat Chrysler Automobiles, wozu folgende Marken gehören: Fiat, Alfa Romeo Chrysler, Jeep, Ram, Dodge, Lancia, Maserati. Fiat Chrysler (FCA) hatte unter seinem charismatischen Manager Sergio Marchionne auf große Investitionen in Elektroantriebe verzichtet. Erfolge erzielte der Konzern mit den großen Spritschluckern der Marken Jeep und Ram in den USA. Im Herbst 2019 erfolgte dann die Megafusion mit der französischen Traditionsfirma Peugeot SA, der neben Peugeot auch Citroën, DS, Vauxhall und seit 2017 das einstige deutsche Flaggschiff der Autoindustrie, Opel, angehören. Gemeinsam sollen sie – so die Fusionspläne im zunehmend rauen Umfeld – fortan pro Jahr 8,7 Millionen Autos verkaufen und dabei einen Umsatz von 170 Milliarden Euro erzielen. Ob die 400.000 Mitarbeiter ihre Stellen behalten, ist in der verschärften Autokrise von 2020 noch zweifelhafter geworden. Nur noch Volkswagen, Toyota und der französisch-japanische Renault-Nissan-Verbund sind größer als der neue Autogigant, vorerst die Nummer vier in der Liste der Autoriesen.

Beim Gang durch das sehr ansprechend gestaltete Automobilmuseum in Turin durchstreift man die europäische Geschichte in all ihren Facetten, ihren wirtschaftlichen Höhen, den vielen kriegerischen Einbrüchen und der gesellschaftlichen Reaktion. Aus großen Limousinen der 1920er und 1930er wurden nach dem Krieg dann Minifahrzeuge wie der Topolino. Die Autos jener Epochen hatten ihren Charakter, ihr unverwechselbares Äußeres und ihre ganz spezielle Entstehungsgeschichte. Bezeichnend sind die Anekdoten, die sich um die Entwicklung des Käfermodells von Volkswagen und den 2CV von Citroën ranken. Die Abkürzung 2CV (Deux Chevaux) steht für die französische Version von Zwei Pferdestärken. Im Deutschen wurde das sehr französische Auto liebevoll Ente genannt. Eine der Legenden, die mir, der stolzen Lenkerin einer Ente, von einem passionierten Käferfahrer einst berichtet wurde, besagt folgende Geschichte: Als die Deutschen im Sommer 1940 Paris besetzten, sollen sich Berliner Ingenieure sogleich auf den Weg zu den Citroën-Werken gemacht haben. Man wusste von der Idee des Gründers André Citroën, ein Auto in Auftrag gegeben zu haben, das einen neuen Kundenkreis, nämlich die wichtige Landbevölkerung ansprechen sollte. Mit der Wirtschaftskrise und Verarmung der Franzosen in den 1930er-Jahren war das bisherige Geschäftsmodell teurer Limousinen nicht mehr tragbar. Zielvorgabe war, ein günstiges Fahrzeug zu entwickeln, sodass zwei Bauern mit rund 30 Stundenkilometern über einen Feldweg fahren könnten, ohne dass die Paletten roher Eier, die an Bord waren, zerbrachen. Immerhin war der weit überwiegende Teil der französischen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Eine solche Kundschaft wollte erschlossen werden. Zeitgleich wurde während der NS-Herrschaft in Deutschland die Automobilindustrie vorangetrieben. Bereits im Juni 1934 beauftragte der „Reichsverband der Deutschen Automobilindustrie“ (RDA) Ferdinand Porsche mit der Konstruktion eines „Volkswagens“. Einige Monate später stand der erste Prototyp mit luftgekühltem Boxermotor, es folgten intensive Testfahrten von 2,4 Millionen Kilometern. 1938 wurde nach Überarbeitungen das Serienmodel mit dem charakteristischen Brezelfenster, Trittbrettern und Stoßstangen präsentiert. Die Anekdote, die mir einst erzählte wurde, besagt nun, dass kurz nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Paris deutsche Ingenieure sich eben auf den Weg zu den Citroën-Werken machten, um sich über den Stand der Konstruktion des dortigen Bauernautomobils kundig zu machen. Die Franzosen sollen – so die Legende – sofort alle Entwürfe vernichtet haben. Die erste Ente lief dann nach dem Krieg vom Stapel. Die Geschichte mag auch nur Legende sein, aber sie illustriert den Zeitgeist der Autokonstrukteure. Vielleicht träumte mancher VW-Ingenieur schon von einem deutsch-französischen Automodell, gewissermaßen das Beste aus beiden Mechanikerwelten.

Der Firmengründer verstarb bereits 1935, das Unternehmen fiel an den wichtigsten Gläubiger: Michelin. Citroën war ein Meister der Hydraulik, die für viele Jahrzehnte die Marke auszeichnen sollte. Legendär waren eben jene Citroën-DS-Limousinen, die zwischen 1955 und 1975 gebaut wurden und in so manchem französischen Filmepos auftraten. Am Steuer saßen ein Alain Delon oder Lino Ventura, das perfekte Auto mit einer ganz besonderen Geschichte machte Filmkarriere.

Im von den Alliierten besetzten Deutschland wurden im Auftrag der britischen Militärregierung Volkswagen produziert. 1946 waren es 10.000 Autos, 1951 wurde der Volkswagen bereits in 29 Länder exportiert, über 250.000 Fahrzeuge. 1962 waren es fünf Millionen Volkswagen, die einige Jahre später in der Werbung offiziell zum Käfer wurden und auch wieder Filmgeschichte schrieben. Wer war nicht von dem autonom fahrenden und so gefühlvollen Herbie auf der Leinwand begeistert? 1978 lief der letzte in Deutschland gebaute Käfer im Werk Emden vom Band. Die Produktion in Mexiko ging dann 2003 zu Ende. Damit fand ein besonderes Kapitel der Autogeschichte ihr industrielles Ende.