Polizeibeamte als Zeugen im Strafverfahren

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Polizeibeamte als Zeugen im Strafverfahren
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Polizeibeamte als Zeugen im Strafverfahren

Vom Ermittler zum Beweismittel

Prof. Dr. Kai Müller

Hochschule für Polizei Baden-Württemberg

2., aktualisierte und überarbeitete Auflage, 2021


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek | Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2. Auflage, 2021

Print ISBN 978-3-415-06913-8

E-ISBN 978-3-415-06915-2

© 2012 Richard Boorberg Verlag

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Titelfoto: © Семен Саливанчук – stock.adobe.com

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Stuttgart | München | Hannover | Berlin | Weimar | Dresden

www.boorberg.de

Vorwort


Der Auftritt als Zeuge vor Gericht ist für viele Polizeibeamte Teil der alltäglichen Arbeit. Insofern müssten Polizeibeamte mit ihrer Zeugenrolle eigentlich vertraut sein. Bei meiner Tätigkeit als (ehemaliger) Rechtsanwalt und Strafverteidiger sowie als Dozent in der polizeilichen Fort- und Ausbildung habe ich jedoch den Eindruck gewonnen, dass auf diesem „polizeilichen Arbeitsfeld“ bei vielen Beamten immer noch Wissenslücken und teilweise auch ein gewisses Maß an Unsicherheit herrschen. Hieraus erklärt sich wohl auch das weiterhin ungebrochen große und gerade in den letzten Jahren eher noch gewachsene Interesse von Polizeibeamten an diesem Thema, das ich in den entsprechenden Fortbildungsveranstaltungen immer wieder wahrnehme.Ziel der Darstellung ist es, eine größere Handlungssicherheit und damit eine gewisse Professionalität im Auftreten vor Gericht sowie im Umgang mit den Verfahrensbeteiligten für den polizeilichen Zeugen zu schaffen. Bei den dafür anzusprechenden vielfältigen Aspekten habe ich einen Schwerpunkt auf die Darstellung der Verteidigung gelegt, da nach meinen Erfahrungen hier bei Polizeibeamten viele Fehlvorstellungen oder aber einfach Unkenntnis über die „Figur“ des Strafverteidigers herrschen. Dies kann, gepaart mit einer mangelhaften Akzeptanz seiner eigenen Zeugenrolle vor Gericht, ein unprofessionelles Zeugenverhalten im Umgang mit dem Verteidiger auslösen.Seit dem Erscheinen der 1. Auflage vor mehr als acht Jahren sind viele für die Thematik wichtige Gesetzesänderungen erfolgt. Hierzu zählen beispielsweise eine Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten, die Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, der verstärkte Einsatz von Videotechnik bei Vernehmungen sowie eine Stärkung der Rechte jugendlicher Beschuldigter. Die 2. Auflage hat, neben einer Überarbeitung und der notwendigen Aktualisierung von Rechtsprechung und Literatur, auch eine Erweiterung in genau diesen Themenbereichen erfahren.Insgesamt habe ich mich bei der Darstellung bemüht, nur so sehr in rechtliche Details zu gehen, wie es notwendig ist, um dem Polizeibeamten die erforderlichen Kenntnisse zu vermitteln. Auf die Erörterung juristischer Streitstände ist daher verzichtet worden. Stattdessen habe ich mich nach Möglichkeit an der für die Praxis maßgebenden obergerichtlichen Rechtsprechung orientiert. Persönliche Sympathien für hiervon abweichende Meinungen habe ich dem Praktiker weitestgehend erspart. Rechtsprechung und Literatur befinden sich auf dem Stand von Oktober 2020.Hinweise, Anregungen und Kritik sind unter kaimueller@hfpol-bw.de ausdrücklich erwünscht.Emmendingen/Villingen-Schwenningen, im Oktober 2020Kai Müller

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

1. Kapitel Der Zeuge im System der Beweislehre

I. Grundzüge der Beweislehre

1. Strengbeweisverfahren

2. Freibeweisverfahren

3. Schwächen des Zeugenbeweises

II. Der Begriff des Zeugen

1. Gegenstand der Zeugenaussage

2. Zeugen vom Hörensagen

III. Begriff und Funktion der Beweisverbote

2. Kapitel Hauptverhandlung und Verfahrensbeteiligte

I. Das Gericht

1. Aufklärungspflicht des Gerichts

2. Organisation der Strafgerichtsbarkeit

3. Ausschließung und Ablehnung von Richtern

4. Aufgaben des Gerichts in der Hauptverhandlung

II. Grundsätze der Hauptverhandlung

1. Grundsatz der Mündlichkeit

2. Grundsatz der Unmittelbarkeit

III. Ablauf der Hauptverhandlung

IV. Die Verfahrensbeteiligten

1. Die Staatsanwaltschaft

2. Der Beschuldigte als Angeklagter

3. Der Verletzte als Nebenkläger

3. Kapitel Der Polizeibeamte als Zeuge vor Gericht

I. Zeugenrollen des Polizeibeamten

1. Der Polizeibeamte als Tatzeuge

2. Der Polizeibeamte als Zeuge der eigenen Ermittlungen

3. Rollenwechsel: vom Ermittler zum personellen Beweismittel

II. Pflichten und Rechte des Polizeizeugen

1. Pflichten des Polizeizeugen

2. Rechte des Polizeizeugen

III. Beweiswert der Zeugenaussage

1. Der Polizeibeamte als Sonderfall des Zeugen

2. Aussagefähigkeit

3. Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit

4. Kapitel Die Vernehmung des Polizeibeamten vor Gericht

I. Warteposition

II. Äußerliches Auftreten

III. Angaben zur Person und zur Sache

1. Vernehmung zur Person

2. Vernehmung zur Sache

IV. Das Fragerecht

1. Grundsätze zum Fragerecht

2. Unzulässige Fragen

5. Kapitel Strafverteidigung und polizeilicher Zeuge

I. Der Strafverteidiger als Verfahrensbeteiligter

1. Stellung und Funktion des Verteidigers

2. Pflichten des Verteidigers

3. Rechte des Verteidigers

II. Strafverteidigung als Konflikt

 

III. Begriff der Konfliktverteidigung

IV. Fragetaktiken der Verteidigung

1. Verunsicherungstaktik

2. Verhinderungstaktik

3. Rollentauschtaktik

4. Provokationstaktik

V. Vorbereitung des Verteidigers auf die Hauptverhandlung

1. Entwicklung eines Verteidigungskonzepts

2. Vorbereitung der Zeugenvernehmung

3. Fragenkatalog zur Zeugenvernehmung

6. Kapitel Vernehmungsfehler im Ermittlungsverfahren

I. Beschuldigtenbelehrung

1. Folgen von Belehrungsfehlern

2. Belehrungszeitpunkt

3. Belehrungsinhalt

II. Beschuldigtenvernehmung

1. Vernehmungsfähigkeit

2. Vernehmung zur Person

3. Eröffnung des Tatvorwurfs

4. Vernehmung zur Sache

III. Protokollierung

1. Protokollinhalt

2. Protokollart

7. Kapitel Verhaltensempfehlungen für Polizeizeugen

I. Vorbereitung

II. Zeugenaussage

III. Nachbereitung

IV. Fort- und Ausbildung

Gesetzesanhang – Auszüge –

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis


a. A.anderer Ansicht
AGAmtsgericht
Anm.Anmerkung
AOAbgabenordnung
Art.Artikel
Aufl.Auflage
BAKBlutalkoholkonzentration
BBGBundesbeamtengesetz
BeamtStGBeamtenstatusgesetz
BGBl.Bundesgesetzblatt
BGHBundesgerichtshof
BGHStEntscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite)
BORABerufsordnung für Rechtsanwälte
BRAOBundesrechtsanwaltsordnung
BVerfGBundesverfassungsgericht
BVerfGEEntscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (zitiert nach Band und Seite)
BVerwGBundesverwaltungsgericht
DARDeutsches Autorecht (Zeitschrift)
ders.derselbe
dies.dieselben
DÖVDie Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift)
DPolBl.Deutsches Polizeiblatt
DRiZDeutsche Richterzeitung
EGStGBEinführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
Einl.Einleitung
EMRK(Europäische) Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
f.folgende
ff.fortfolgende
GGGrundgesetz
GSStGroßer Senat für Strafsachen
GVGGerichtsverfassungsgesetz
HRRSHöchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht (Online-Zeitschrift)
hrsg.herausgegeben
i. e. S.im engeren Sinn
i. V. m.in Verbindung mit
JGGJugendgerichtsgesetz
JRJuristische Rundschau
JVEGJustizvergütungs- und -entschädigungsgesetz
JZJuristenzeitung
KKKarlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung
LGLandgericht
LRLöwe-Rosenberg, Strafprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz (Kommentar)
MDRMonatsschrift für Deutsches Recht
m. w. N.mit weiteren Nachweisen
NJWNeue Juristische Wochenschrift
Nr.Nummer
NStZNeue Zeitschrift für Strafrecht
NStZ-RRNStZ-Rechtsprechungs-Report
NVwZ-RRNeue Zeitschrift für Verwaltungsrecht-Rechtsprechungs-Report
OLGOberlandesgericht
OWiGGesetz über Ordnungswidrigkeiten
PDVPolizeidienstvorschrift
RGStEntscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite)
RiStBVRichtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren
Rn.Randnummer
S.Seite
SKSystematischer Kommentar zur Strafprozessordnung
sog.sogenannte
StGBStrafgesetzbuch
StRRStrafrechtsreport
StPOStrafprozessordnung
StraFoStrafverteidiger Forum (Zeitschrift)
StVStrafverteidiger (Zeitschrift)
u.und
u. a.unter anderem
VGHVerwaltungsgerichtshof
vgl.vergleiche
Vorbem.Vorbemerkung
WÜKWiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen
z. B.zum Beispiel
ZISZeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik
ZPOZivilprozessordnung

Einleitung

Der Polizeibeamte als Zeuge ist ein in der gerichtlichen Praxis alltägliches und oftmals wichtiges Beweismittel, das dienstliche Vorkommnisse bekundet. Dabei wird dem polizeilichen Zeugen im Sinne eines Berufszeugen1 eine berufsbedingte Sonderrolle zugeschrieben, die mit vielen Kritikpunkten behaftet ist. So reichen die Ansichten zur Qualität des Polizeizeugen von „idealer Zeuge“2 über „guter Zeuge“3 bis hin zu „unzuverlässiger Zeuge“4 oder „mangelhaftes Beweismittel.“5 Die Ursache der Kritik ist in der berufsbedingten Doppelfunktion als Ermittler und Zeuge angelegt. Entgegen der gesetzlichen Konzeption liegt die praktische Durchführung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens regelmäßig bei der Polizei, während die Staatsanwaltschaft als Herrin des Verfahrens (§ 160 I StPO) für die abschließende Verfügung (Anklage, Strafbefehl, Einstellung etc.) zuständig ist.6 Der Polizeibeamte führt bei seiner Tätigkeit als Ermittlungsbeamter im Strafverfahren neben diversen Zwangsmaßnahmen auch Vernehmungen von Beschuldigten und Zeugen durch. Diese aktive, den Ablauf des Ermittlungsverfahrens wesentlich mitbestimmende Rolle verkehrt sich im Hauptverfahren vor Gericht in eine passive Rolle, wenn der Polizeibeamte nunmehr als Zeuge selbst zum Beweismittel in „seinem Verfahren“ wird. Er muss sich in der Folge als Zeuge von Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidiger, Angeklagtem und möglichem Nebenkläger befragen lassen und hat damit seine aktive Rolle verloren. Er wird vom Vernehmenden zum Vernommenen. Hierbei muss er sich insbesondere von Seiten der Verteidigung oftmals detaillierten und kritischen Fragen zu seiner Ermittlungstätigkeit stellen, wodurch das Gefühl entstehen kann, seine eigene Ermittlungsarbeit nunmehr rechtfertigen bzw. verteidigen zu müssen. Insbesondere die Befragung durch den Verteidiger empfindet der Polizeibeamte dabei oftmals als unangenehm bis unfair, wofür von den Betroffenen teilweise der Begriff „Konfliktverteidigung“ gebraucht wird.7 Insoweit befindet sich der Polizeibeamte als Zeuge in einer schwierigen Situation: Er muss wahrheitsgemäß und objektiv über seine Ermittlungstätigkeit aussagen und dabei diese oftmals gleichzeitig gegen Angriffe der Verfahrensbeteiligten verteidigen, ohne aber seine Zeugenrolle zu verlassen bzw. zu beschädigen.

Darüber hinaus ist dem Polizeibeamten auch die rechtliche Bedeutung seiner Aussage für den Verfahrensausgang nicht immer vollauf bewusst. Existiert beispielsweise ein polizeiliches Vernehmungsprotokoll des in der Hauptverhandlung schweigenden Angeklagten, ist dies als Urkundenbeweis aufgrund der Beschränkung des § 254 I StPO auf richterliche Protokolle nicht verwertbar.8 Daher kommt vor Gericht der Vernehmung der polizeilichen Verhörperson als Zeuge vom Hörensagen große Bedeutung zu. Kennt der Polizeibeamte die sich aus § 254 I StPO ergebenden Rechtsfolgen nicht, so kann er auch nicht die Bedeutung seiner Aussage für das Verfahren absehen. Folglich empfindet er seine Aussagepflicht vor Gericht teilweise als „lästige Pflicht“.

Um den gestellten Anforderungen gerecht werden zu können, muss der Polizeibeamte ein professionelles Zeugenverhalten im Umgang mit Gericht und Verfahrensbeteiligten zeigen. Voraussetzung hierfür sind zunächst Grundkenntnisse über das Beweisrecht sowie die Rechte der Verfahrensbeteiligten. Nur so kann der Polizeibeamte seine eigene Verfahrensrolle als Zeuge richtig einschätzen. Weiterhin erfordert ein professionelles Auftreten vor Gericht fundierte Kenntnisse der Pflichten und Rechte des Polizeizeugen sowie des Beweiswerts und der Glaubwürdigkeitsanforderungen von Zeugenaussagen. Mit Hilfe dieses rechtlichen und aussagepsychologischen Wissens gewinnt der Polizeibeamte Handlungssicherheit als Zeuge vor Gericht. Hierzu gehört auch eine ausführliche Darstellung des sog. Fragerechts, welches insbesondere die Verteidigung für kritische Fragen an den polizeilichen Zeugen nutzt. Wie bereits kurz erwähnt, ist gerade das Verhältnis zwischen dem Verteidiger und dem Polizeizeugen oftmals problematisch und angespannt. Daher wird besonderes Gewicht auf die Darstellung der Verteidigung gelegt. Diese erschöpft sich nicht in der bloßen Erläuterung von Funktion, Pflichten und Rechten der Verteidigung, sondern beinhaltet auch Verteidigungsstrategien und Fragetaktiken sowie die gebotenen Reaktionen. Darüber hinaus wird die Sichtweise des Verteidigers auf den polizeilichen Zeugen und die praktische Vorbereitung auf die Hauptverhandlung ins Blickfeld genommen. Hierdurch soll ein „Verstehen“ der Arbeit des Strafverteidigers und damit ein notwendiger professionellerer Umgang des Polizeibeamten mit der Verteidigerrolle im Strafverfahren gefördert werden.

Letztlich basiert die Qualität der Zeugenaussage des Polizeibeamten entscheidend auf der Qualität seiner Ermittlungen. Konflikte, die während der Vernehmung des Polizeibeamten durch kritische Fragen der Verfahrensbeteiligten entstehen, haben typischerweise ihren Ursprung in der polizeilichen Ermittlungstätigkeit. Insbesondere im Rahmen von polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen existieren viele Fehlerquellen, deren Vermeidung einen späteren Konflikt in der Zeugenrolle von vornherein unterbindet. Folglich beinhaltet die Darstellung auch einen Exkurs über mögliche Fehler bei der Beschuldigtenvernehmung.

 

Um die Ausführungen für die praktische Anwendung besser fruchtbar zu machen, werden in den einzelnen Kapiteln besonders gekennzeichnete Hinweise sowie am Schluss zusammenfassend konkrete Verhaltensempfehlungen gegeben. Wichtige Vorschriften finden sich im Anhang.

1. Kapitel Der Zeuge im System der Beweislehre

Der Polizeibeamte hat durch seine Ausbildung und Praxis strafverfahrensrechtliche Kenntnisse, die sich hauptsächlich auf sein Tätigkeitsfeld, das Ermittlungsverfahren, beschränken. Für ein sicheres Auftreten als Zeuge in der Hauptverhandlung ist es hilfreich, auch den rechtlichen Rahmen, in dem sich die gerichtliche Entscheidungsfindung im Hauptverfahren abspielt, zu kennen. Nur so kann der Polizeibeamte als Zeuge Sinn und Bedeutung der an ihn gerichteten Fragen und Vorhalte einschätzen und infolgedessen professioneller reagieren. Daher werden zunächst einige Grundlagen zur Beweislehre und zur Beweisfunktion des Zeugen in der Hauptverhandlung dargestellt. Im Zusammenhang mit der Pflicht des Gerichts zur Wahrheitserforschung sind auch kurze Ausführungen zur komplexen Thematik der Beweisverbote notwendig, um die Grenzen der gerichtlichen Wahrheitserforschung auszuloten. Diese Materie ist auch für das Ermittlungsverfahren von Interesse, da der ermittelnde Polizeibeamte bestrebt sein muss, gerichtsverwertbare Beweise zu ermitteln.

I. Grundzüge der Beweislehre

Im Unterschied zu dem im Ermittlungsverfahren ausreichenden Verdacht in seinen verschiedenen Formen (Anfangsverdacht, hinreichender und dringender Tatverdacht) müssen in der Hauptverhandlung alle für die Schuld- und Straffrage entscheidungserheblichen Tatsachen voll bewiesen werden. Beweisen bedeutet dabei, vom Bestehen einer Tatsache überzeugt zu sein. Für die nach § 261 StPO notwendige Überzeugung des Gerichts vom Beweis einer Tatsache genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten begründete Zweifel nicht mehr aufkommen.9 Bleiben nach Abschluss dieser freien Beweiswürdigung des Gerichts Zweifel, so ist zugunsten des Angeklagten zu entscheiden (in dubio pro reo). Dabei muss beachtet werden, dass jeder Mensch über seine eigene, sich von anderen mehr oder weniger unterscheidende Sozialisation, Lebenserfahrung etc. verfügt. Somit kann die Bewertung eines Sachverhalts durch einen Richter – je nach dessen Lebenserfahrung etc. – durchaus verschieden ausfallen.10 Die Beweiswürdigung beinhaltet insoweit auch subjektive Elemente.

1. Strengbeweisverfahren

Das Gesetz schreibt für die Beweisaufnahme über die Schuld- und Straffrage strenge Regeln hinsichtlich der zugelassenen Beweismittel sowie deren Verwendung in der Hauptverhandlung vor. Dieser sog. Strengbeweis erlaubt ausschließlich die vier im Gesetz genannten Beweismittel Zeuge (§§ 48–71 StPO), Sachverständiger (§§ 72–85 StPO), Augenschein (§§ 86–93 StPO) und Urkunde (§§ 249–256 StPO). Während Zeuge und Sachverständiger persönliche Beweismittel sind, handelt es sich bei Augenschein und Urkunde um sachliche Beweismittel. Unter Augenschein ist jede sinnliche Wahrnehmung durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Fühlen zu verstehen,11 wie das Betrachten von Gegenständen, Bildern oder Filmen, die Leichenschau, das Abspielen von Tonbändern etc. Urkunden sind Schriftstücke jeder Art, die verlesbar sind und durch ihren Gedankeninhalt Beweis erbringen können.12 Diese vier Beweismittel dürfen nur nach den in §§ 244 ff. StPO festgelegten Regeln verwendet werden. Da die (freiwillige) Aussage des Beschuldigten und sein Auftreten in der Hauptverhandlung regelmäßig eine wichtige Rolle für die Urteilsbildung des Gerichts spielen, ist der Beschuldigte zwar kein Beweismittel im technischen Sinn, wird jedoch zum Beweismittel im weiteren Sinn gezählt.13

2. Freibeweisverfahren

Alle übrigen für das Verfahren erheblichen Umstände, die nicht die Schuld- und Straffrage betreffen, beispielsweise die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten oder die Frage, ob bei der Vernehmung des Beschuldigten verbotene Vernehmungsmethoden (§ 136a I StPO) angewandt wurden,14 können im sog. Freibeweisverfahren, also auf jede beliebige Art und Weise erhoben werden. Hier kann das Gericht auch Beweismittel einsetzen, die von der StPO nicht vorgesehen sind, beispielsweise eine schriftliche oder telefonische Auskunft.15 Außerhalb der Hauptverhandlung und damit auch im gesamten Ermittlungsverfahren gilt ausschließlich der Freibeweis.