Read the book: «Ruf der Pflanzen»

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JUTTA BLUME

RUF DER PFLANZEN

Historischer Roman



Erster Teil

Zuckerrohr

Guyana, 1761


1

Durch den Spalt konnte Ife sehen, wie ein Busch schwerfällig an der Hütte vorüber zog. Kurz darauf folgte ein weiterer. Das Pochen in ihrem Schädel übertönte das dazugehörige Rascheln. Sie hielt sich an dem Spaltbreit Realität hinter der rohen Bretterwand fest, ihrer einzigen Verbindung zur Außenwelt. Hier drinnen waren ihr Schmerz, die Angst, entdeckt zu werden, das Pochen in ihrem Kopf, die immer wieder verschwimmende Sicht. Es war an der Zeit aufzustehen und ihr blutiges Lager zu verlassen. Nur noch einen Augenblick.

»Warum hast du nichts gesagt?«, hatte Coba gefragt, als es Ife schon fast die Beine weggezogen hatte und sie nur noch aus Reißen und Ziehen bestand. Nun konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie viele der Samen sie sich hastig in den Mund gesteckt und geschluckt hatte. Je mehr, desto besser, hatte sie gedacht, bevor sie nichts mehr dachte. Coba hatte sie auf ihren winzigen, gebeugten Körper gestützt und in die Hütte gebracht, sie auf ein spärliches Lager aus Stroh gebettet. Dann hatte sie immer wieder denselben Satz in ihrer Zeremoniensprache gemurmelt: »A ben de bifo, bifo ben-de ben de, di tro ben-de tide.«

»Ich kann nicht bei dir bleiben«, hatte Coba gesagt, als sie sich wieder erhob. »Nicht jetzt, ich habe Kranke zu behandeln. Mögen die Ahnen dich beschützen. Doch strapaziere sie nicht zu sehr. Sobald du gehen kannst, verschwinde und lass niemanden sehen, was hier geschehen ist.« Coba war gegangen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein untrügliches Zeichen, dass Ife durchkommen würde.

Ife wusste nicht, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Sie wusste überhaupt nicht, ob sie noch dieselbe Person war oder vielleicht schon längst ein Geist geworden war. Ihre Schmerzen ließen sie vermuten, dass sie noch Mensch war. Vor ihrem Spalt zur Welt zogen nun in umgekehrter Richtung die Männer vorbei, die gerade noch Büsche gewesen waren. Doch Männer mochte man sie auch nicht nennen, sie waren formlose Lumpenpakete mit zerschnittenen Pranken und gehetzten Augen. »John«, schoss es ihr beim Anblick des zweiten durch den Kopf, und sie war froh, ein weiteres Stück ihres Lebens greifen zu können. Es war das schlechteste Leben, in das sie die Geister ihrer Vorfahren hatten entsenden können, doch sie war noch nicht bereit zu sterben.

Sie rollte sich zur Seite, ging dann auf alle Viere und schob mit den Händen zusammen, was nicht hatte leben sollen, einen kleinen blutigen Klumpen, verklebt mit Pflanzenfasern. Sie spähte zwischen den Brettern ihrer Hütte in alle Richtungen, um dann gebückt, in den Armen die gewichtlose Last, in die Felder zu rennen. Nach zwanzig Schritten meinte sie, sofort auf den Boden fallen und vergehen zu müssen, doch sie musste weiter. Sie verstreute das befleckte Stroh inmitten des reifen Zuckerrohrs, achtlos würden die anderen Sklaven später darauf herumtrampeln, wenn sie kamen, um das Rohr zu schneiden. Sie waren nicht weit von hier, schon morgen könnten sie hier sein. Ife lauschte auf das leise Flüstern des Baches, der sie schon oft gerufen und ihr Geschichten von einer anderen Welt erzählt hatte. An seinem Ufer würde sie sicher sein. Die Aufseher waren mit den anderen Sklaven auf den Feldern. Es war nicht leicht, die Geräusche des Baches hinter dem lauten Rauschen in ihren Ohren zu erkennen. Sie reinigte ihre dreckigen Hände notdürftig an den Blättern des Zuckerrohrs. Direkt floss frisches Blut über ihre Finger, gut so, es übertünchte das alte und ließ die Hände nach Arbeit aussehen. Sie vernahm ein Rascheln. War es ein Tier oder ein Mensch, oder nur die Blätter, die ein letztes Mal miteinander spielten, bevor sie den Macheten zum Opfer fielen? In gebückter Haltung arbeitete sie sich weiter durch das Feld hindurch.

Dann stand sie an der Grenze zur Freiheit, dort, wo der Bach gleichgültig an den Steinen nagte. Die Sonne ließ seine unruhige Oberfläche glitzern, als hätte jemand flüssiges Gold darüber gegossen. Zwei blaue Schmetterlinge jagten ihren eigenen Schatten hinterher, blind für die menschliche Gestalt, die langsam ihre Füße ins Wasser tauchte. Der Bach war seicht, das Wasser reichte kaum bis an ihre Kniekehlen. Der Länge nach legte Ife sich in sein Kiesbett, noch mit ihrem Rock bekleidet. Sie war eine Alge in der Strömung, die sich geschmeidig dem Wasser anpasste. Das Wasser war angenehm, die Kälte durchdrang den Unterleib und betäubte den Schmerz. Sie zwang sich, nicht abzutauchen, nicht die Augen zu schließen, nicht gierig das Wasser zu trinken, bis sie selbst zum Bach wurde. Sie war nahe daran, wieder das Bewusstsein zu verlieren. Über die Grenze gehen, warum nicht? Warum nicht auf die einfache Art?

Dann war da wieder deutlich das Plätschern des Wassers, das im leichten Wind raschelnde Zuckerrohr, der ferne Ruf eines Aufsehers, und Ife wusste, dass sie auf die Plantage zurückkehren musste, wobei das Zurückkehren schwieriger sein würde als das Fortlaufen.

Der einzige Weg zurück führte über die Krankenbaracke. Coba würde erklären, dass sie Ife gerufen hatte, falls jemand fragen würde. Coba würde schon etwas einfallen.

Noch einmal ließ Ife ihren Blick auf die andere Seite des Baches schweifen, von wo der Wald ihr ein Lächeln schickte. Wenn ein undurchdringliches Dickicht lächeln konnte, so war es ein verschlossenes Lächeln, dessen Hintergedanken niemand erraten konnte. Die Götter und Geister allein konnten ihr helfen, dieses Lächeln zu verstehen. Doch keiner von ihnen war gekommen, ihr den Weg zu weisen, der einzige Winti, der sich in ihrem Inneren regte, war Leba mit ihrem Ekel vor Spinnen und Würmern. Leba flüsterte ihr zu: Geh nicht dort hin, dort verbirgt sich Getier, das du nie gesehen hast. Bleib auf der Plantage, bleib bei den Ratten, bei den Schlangen und Spinnen, die du schon kennst, aber geh nicht in dieses Dickicht.

Langsam zog Ife ihre Beine aus dem Bach und entfernte sich mit wackeligen Schritten. Dabei löste sich in ihr ein grollender Seufzer wie ein lang gestreckter Furz. Da wusste sie, dass das Yorka des Kindes endgültig gegangen war und sie nunmehr wieder allein in ihrem Körper wohnte.

Sie tauchte erneut in das hohe Zuckerrohr ein, das keinen Blick auf die Plantage erlaubte. Ihre Ohren übernahmen die Führung, doch so sehr Ife lauschte, sie konnte aus keiner Richtung die vertrauten Geräusche vernehmen, weder die Rufe: »Nun macht schon! Schneller! Schlaft ihr?«, noch das Knallen der Peitsche in der Luft oder auf nackter Haut, auch nicht die monotonen Gesänge der Sklaven, mit denen sie sich aus ihren Körpern heraus sangen, um Zeit und Schmerz zu vergessen. Nicht einmal das Schnauben eines Pferdes war zu hören, nur die Rufe der Vögel über der Plantage.

Als sie das erntereife Feld durchschritten hatte und die unbefestigten Pfade, die Lagerhäuser und Ställe sowie den Schornstein der Zuckermühle überblicken konnte, sah sie keine menschlichen Gestalten, weder die Aufseher noch die wandelnden Büschelberge der Sklaven. Sie lief nun so schnell sie konnte über die schon abgeernteten Felder. Die Krankenbaracke war das erste Haus im Lager der Sklaven. Von den übrigen Schlafbaracken unterschied sie sich nur dadurch, dass sie viel kleiner war. Wie alles hier war sie aus rohem Holz schnell und schlecht zusammengezimmert, zwischen den Brettern klafften finger- bis dreifingerbreite Lücken. Das Dach war mit gebündelten Palmwedeln gedeckt. Fenster gab es nicht, eine verschließbare Tür ebenso wenig.

Ife näherte sich leise. Von innen war nichts zu hören. Sie hatte gehofft, die singende Zeremonienstimme von Coba zu hören. Wenn jemand in der Krankenbaracke war, musste die Person Ife durch die Lücken in der Bretterwand längst gesehen haben. Sie trat daher direkt in die Türöffnung und verharrte dort einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

In dem Raum lagen vier Strohsäcke, zwei waren mit reglosen Gestalten belegt. An der rechten Wand lag ein Mann, der nur durch sein schweres Atmen verriet, dass er am Leben war. In der Frau auf der anderen Seite glaubte Ife sich selbst zu erblicken. Vielleicht war es ihr eigener Körper, der dort lag, während ihr Kra nun hier in der Tür stand und überlegte, ob es noch bleiben sollte, oder ob es doch Zeit war zu gehen und zum Yorka zu werden. Das Tuch um die Hüften der Frau war getränkt von frischem Blut, sie lag reglos auf dem Rücken, nicht einmal ihr Brustkorb schien sich zu bewegen. Ihre Augen starrten zur Decke. Nein, diese Frau würde nicht mehr auf die Plantage zurückkehren. Ife kannte die Sklavin nicht. Sie musste frisch angekommen sein.

Ife verließ die Hütte und stieß den Pfiff aus, mit dem sie nur Coba rief. Es kam keine Antwort. Coba mochte gegangen sein, um den Tod der Sklavin zu melden. Die Stille auf den Feldern deutete darauf hin, dass noch etwas anderes Schlimmes geschehen war.

Von den Sklavenbaracken führte ein breiterer Pfad auf die Wirtschaftsgebäude zu, jeden Morgen und Abend ausgetreten von Dutzenden Sklavenfüßen, schwer von Schmerz und Erschöpfung. Der Pfad war schnurgerade angelegt, sodass er von den Aufsehern gut überblickt werden konnte, sich niemand hinter einer Biegung verstecken konnte. Vor der Zuckermühle hatte sich eine Menschentraube gebildet. Gezwungene Zuschauer einer Strafzeremonie. Wenn es Ife gelang, unbemerkt in diesen Pulk zu gelangen, war sie gerettet. Sie dachte nicht darüber nach, wen es diesmal getroffen hatte, alles, was sie sah, war die Gelegenheit unbemerkt zu den anderen zu stoßen.

Tatsächlich nahm niemand Notiz von ihr. Sie wurde fast erschlagen von der Wolke aus Schweiß und Süße zwischen den Körpern. Sie erkannte Johns Rücken vor sich. Sie stieß ihn an, und John schob sie wortlos vor sich, ohne ihr auch nur einen Blick zuzuwerfen, der Zeremonie die Aufmerksamkeit schenkend, die die Herrschaften verlangten. Dennoch spürte Ife, wie seine unausgesprochene Frage sie durchdrang: Wo bist du gewesen, wie kannst du es nur wagen?

Auch sie ließ sich zu keinem Wort hinreißen, und im selben Moment sah sie, worauf sich alle Augen richteten. Entsetzen klammerte sich wie ein verängstigter Affe an ihrem Herzen fest, dass sie fast aufschrie. Sie spürte zwei Arme, die sie von hinten hielten, sodass weder ihre blutleeren Beine noch der Affe sie zu Boden bringen konnten.

Sie hatten Coba.

Coba, deren Körper normalerweise vom Alter gekrümmt war, war mit dem Rücken an einen Pfahl gebunden, während ihre Beine in der Luft baumelten. Ife spürte am eigenen Leib, wie sich Cobas Bauchdecke langsam schmerzhaft dehnte. Sie erinnerte an ein Beutetier, das man an einen Stock gebunden hatte und das hilflos seine dünnen Ärmchen und Beinchen von sich streckte. Ihr Bestien!, wollte sie am liebsten schreien. Natürlich waren sie Bestien, es würde ihnen nicht wehtun, wenn man es ihnen sagte. Aber warum ausgerechnet Coba? Es war wohl wegen der blutigen Frau in der Krankenbaracke, die sich in die Welt der Geister aufgeschwungen hatte, noch bevor sie den Preis abarbeiten konnte, den der Mister für sie gezahlt hatte.

Ife wollte nach vorne stürmen und sagen, dass sie es ganz allein getan hatte, was auch immer es sein mochte. Sie wollte und doch wusste sie, dass sie es niemals tun würde, nicht einmal für Coba, und dann waren da immer noch Johns Arme, die sie eisern von hinten umklammerten. Was die ganze Szenerie noch unwirklicher machte, war der fremde weiße Mister, der dort neben Mister Baxter stand und so leise auf Coba einredete, dass es unmöglich war, seine Worte zu verstehen. Er trug eine lächerlich kurze Weste und darüber einen schweren blauen Rock, wie es Ife noch nie gesehen hatte. Er sah im Ganzen nicht aus wie ein Pflanzer. Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, was ein weißer Mann sonst in dieser Gegend suchen sollte.

Weder der Fremde noch Ifes Mister waren es, die den Fragen mit Peitschenhieben Nachdruck verliehen. Diese Aufgabe kam Pieter zu, einem einarmigen Sklaven, der dafür bekannt war, mit dem verbleibenden Arm nur zu gerne von der Peitsche Gebrauch zu machen. Ansonsten führte er das Regiment in der Zuckermühle. Für beides ließ sich Pieter mit Rum entlohnen, je mehr Rum ihm der Mister zukommen ließ, desto weniger Mitgefühl kannte er.

Der Fremde, für den Pieter die Peitsche sprechen ließ, hatte die Haut eines neugeborenen Babys. Ife spürte einen Würgereiz, als sie diese Haut betrachtete. Sie war nicht zart und strahlend, sondern rot und runzlig mit weißen Schuppen. Sie versuchte, sich ein Land vorzustellen, in dem nur solche Leute herumliefen – nein, das wäre zu viel, die Augen der Götter würden es nicht ertragen, und sie würden in sie fahren und schlangengleich diese rosigen Gestalten häuten, bis sie wieder glatt und ansehnlich wären. Der Fremde sah auch nicht wie die Missus aus. Sie war stets so weiß wie die Maden unter der Rinde des Quina-Baumes. Doch dieser Herr sah, soweit sie das aus der Entfernung beurteilen konnte, auch in anderer Hinsicht merkwürdig aus. Da waren seine zu Locken aufgewickelten weißen Haare. Niemals hatte sie bei einem Mann solche Haare gesehen. Seine Haut im Gesicht war orangerot, seine Nase spitz und klein, als hätte sie vergessen, mit ihm mit zu wachsen, denn ihn konnte man ohne Übertreibung als Riesen bezeichnen. Überhaupt waren seine Gesichtszüge für einen Mann dieser Größe puppenhaft – wie bei den unantastbaren Gestalten, die rosawangig in Missus’ Vitrine saßen. Missus sagte, sie wären ein Spielzeug für die Kinder, und da die Missus bisher kinderlos geblieben war, waren die Puppen wohl zum Warten verdammt. Es sei denn, man hätte sie den Kindern des Misters gegeben, denen, die in den Hütten aufwuchsen und sich nicht in die Nähe des Hauses begeben durften, damit die Missus keinen hysterischen Anfall bekam.

Die Folterzeremonie endete damit, dass Coba in Ohnmacht fiel. Ihr Kopf sank einfach auf die Brust hinab, und ihre Füße hörten auf, die Luft nach einem Halt abzutasten. Der Mister bedeutete Pieter von der Ohnmächtigen abzulassen und sie loszubinden. Ife sah sie noch schwer zu Boden sinken, dann wurde die Menge schon auseinander getrieben, formierte sich in ihren Arbeitskommandos und eilte auf die Felder und in die Mühle.

Wie gerne hätte Ife sich jetzt um Coba gekümmert, hätte sich ihren schlaffen Körper über die Schulter gelegt und ihn zu ihrer Hütte getragen, wo sie ihren Schweiß abgewischt und ihre Wunden abgerieben hätte. Aber sie musste Cobas Körper Pieter überlassen und konnte nur hoffen, dass sein Peitschenarm nun ermüdet und zufrieden war.

Während die Männer das Rohr schnitten und sich auf die Schultern luden, pressten andere Männer und Frauen seinen süßen Saft heraus. Tag und Nacht liefen die Mühlen und brannten die Feuer der Siedereien. Der Berg geschnittenen Rohrs vor der Mühle durfte nicht mehr als einen Fuß über die Köpfe der Sklaven hinauswachsen. Wenn dies geschah, musste die Frau, die hinter den Ochsen auf einem Flügel der Mühle saß, die Tiere noch härter antreiben, damit sich die Mühle schneller drehte und die Stopfer das Zuckerrohr noch schneller zwischen die Mühlräder schieben konnten.

Johanna hieß die Frau, die auf dem Brett hinter den Ochsen saß, ihre plumpe Gestalt erinnerte ein wenig an die überarbeiteten Zugtiere. An ihrem Hals hing ein Beutel loser Falten, genauso wie unter den hängenden Köpfen der Ochsen. Jeden Tag drehte sie mit den Tieren unzählige Runden im Kreis, begleitet vom Knarren der Mühle. Abends klagte Johanna über ein Schwindelgefühl, das nicht aufhören wollte. Ife mochte Johanna nicht, vielleicht, weil sie das Peitschenknallen, mit dem sie die Ochsen antrieb, zu sehr an die Aufseher erinnerte.

In der Mitte der knarrenden und knallenden Formation stand der Stopfer. Er tat nichts anderes, als das geschnittene Rohr zwischen die Zähne der Mühle zu stopfen. Auf der anderen Seite zog ein zweiter Mann die ausgelutschten Halme wieder heraus. Nach dem ersten Durchgang reichte er das Rohr zurück an den Stopfer, denn noch war ihm nicht genügend Saft abgerungen. Eigentlich reichte er das Rohr nicht direkt zurück, neben ihm stand den ganzen Tag ein kleiner Junge, der immer wieder die drei Schritte zwischen den beiden ging.

Der Stopfer musste schnell und wach sein, denn die Mühle unterschied nicht zwischen Rohr und menschlichen Fingern und Armen, wahllos zerquetschte sie alles zwischen ihren hölzernen Kiefern. Bis der Schrei des Stopfers die Ochsenführerin und ihre mechanisch trottenden Tiere zum Stillstand gebracht hatte, konnte schon ein Arm bis zur Schulter in der Mühle verschwunden sein.

Die faserigen Reste, die nach dem zweiten Durchgang übrig blieben, sammelten ein noch kleineres Kind und eine alte Frau, nur wenig jünger als Coba, auf. Sie stopften die sogenannte Bagasse in Körbe, die die Frau auf ihrem Kopf etwa zwanzig Meter weiter balancierte. Dort legte sie die Bagasse zum Trocknen aus. In wenigen Tagen würden damit die Kessel der Siederei befeuert.

Der zuckrige Saft hingegen floss durch eine steinerne Rinne ins Innere der Siederei, einem lang gestreckten Bau aus Ziegeln. Zwischen Mauern und Dach drang dicker weißer Dampf heraus. Der Saft sammelte sich hier in einer Zisterne, in die wohl so mancher gerne einmal die hohle Hand gestreckt hätte, um einen Schluck zu kosten. Natürlich wagte es niemand. Dennoch nahm die Versuchung mit den Tagen und Wochen, die die Sklaven in der Siederei verbrachten, nicht ab. Vielmehr wurde der Durst mit jedem Tag schlimmer.

Ife war diejenige, die den Durst von zwanzig Sklavinnen und Sklaven zu stillen hatte, indem sie eimerweise Wasser herbeitrug. Früher einmal hatten die Sklaven nur in der Frühstücks- und Mittagspause trinken dürfen, doch zu viele waren in der Hitze entkräftet zusammengebrochen, sodass Mister Murray, der in der vergangenen Erntesaison die Oberaufsicht über Sugar Creek übernommen hatte, diese Neuerung einführte. Es war nicht so, dass Murray Mitleid empfand. Mister Murray war vor allen Dingen ein Rechner. Das Rechnen in den Größen Sklaven und Zucker hatte er auf der Insel Tobago gelernt. Er kalkulierte ganz und gar sachlich, wie sich aus den zur Verfügung stehenden Sklaven ein Maximum an Leistung herausholen ließ. Und wenn sich herausstellte, dass weniger durstige Sklaven besser arbeiteten, dann bekamen sie Wasser. Lagen aber mehr als vier Schwerkranke in der Krankenbaracke, wurde Ife abkommandiert, um Coba bei ihrer Behandlung zu helfen. Wenn sie von dort zurückkehrte, bekam sie nicht selten den Ärger der Sklaven in der Siederei zu spüren, die sie für die Kranken im Stich gelassen hatte.

Während sich Ife das Joch mit den Wassereimern über die Schultern legte, dachte sie an die blutige Frau in der Krankenbaracke, und ob sie nicht besser daran täte, sie fortzuschaffen, bevor die Fliegen kamen. Denn Coba würde sich in nächster Zeit nicht um die Kranken kümmern können, vielleicht würde sie dort selbst auf ein Lager geworfen. Mit einem Mal war sich Ife nicht mehr sicher, ob sie die Frau wirklich gesehen hatte, oder ob ihr ein Geist mit dem nur Geistern eigenen Humor etwas vorgespielt hatte. Ife spürte, wie sie Johannas vorwurfsvoller Blick traf, der sich mit dem Lauf der Ochsen wieder von ihr wegdrehte. Johanna konnte nicht wissen, wo Ife am Vormittag gewesen war, niemand außer Coba wusste es. John hätte es ahnen können, wenn er von solchen Dingen etwas verstünde.

Johanna war nicht die, die bei der Arbeit den schlimmsten Durst litt. Sie konnte es einfach nicht ertragen, dass Ife Privilegien besaß, die ihr erlaubten, nicht zur Arbeit in der Siederei zu erscheinen. Was Ife in der Krankenbaracke tat, war für Johanna, deren Tage einer kreisenden Monotonie folgten, keine Arbeit. Darüber hinaus konnte sie es nicht ertragen, Dinge nicht zu wissen.

Ifes Beine fühlten sich an wie die einer Spinne, die den Körper kaum zu halten vermochten, hatte sie doch, anders als eine Spinne, nur zwei davon.

Das hölzerne Rad der Mühle rief ihr ein »Ach-Was-Ach-Was« zu. Gerieten die Ochsen aus dem Takt, lag die Betonung mehr auf dem Ach. Unter der tiefen Stimme des Rades knurpste und schlurfte das Rohr. Sie lief schnell fort von der höhnischen Stimme des Rades, um die Eimer am Brunnen zu füllen, auch wenn sie kaum glaubte ihre Last heute tragen zu können. Eine schwache Stimme in ihrem Kopf trieb sie an, wenn die Spinnenbeinchen wegzuknicken drohten, flüsterte »Nicht aufhören, noch nicht!« So lief Ife hin- und her, bis das Denken aussetzte. Sie sah die Welt in Schemen, im dampfvernebelten Inneren der Siederei wie in der gleißenden Sonne. Das einzige, was sie noch spürte, war der forschende Blick Johannas, jedes Mal, wenn sie die Mühle passierte.

»Ach-Was-Ach-Was-Ach-Was«, endlose »Ach-Was-Ach-Was-Ach-Was« später ließ Pieter mit dreimaligem Knallen seiner Peitsche die Arbeit beenden, das heißt, die derjenigen, die nicht drinnen an den Kesseln standen. Die Kessel mussten die ganze Nacht unter Feuer bleiben. Johanna torkelte von ihrem Mühlenflügel und hängte sich Ife um den Hals, die sich selbst kaum noch auf den Beinen halten konnte.

»Warte, bis ich die Ochsen ausgespannt und versorgt habe, dann gehen wir zusammen zum Yard.«

Ife fühlte sich zu schwach, um zu widersprechen.

»Nicht dein Tag heute, was?«, setzte Johanna hinzu. Sie sprach einen Dialekt, den Ife nach den zwei Jahren, die sie gemeinsam auf der Plantage waren, noch immer nur schwer verstehen konnte. Er enthielt seltsame Klicks und Schnalzer mit der Zunge, die die Worte zerstückelten. Johanna war auf einer Plantage in Tobago geboren und aufgewachsen, bis ihr Mister sie verkauft hatte. Ihre Sprache war eine Mischung aus dem, was ihr ihre Mutter beigebracht hatte und dem Kauderwelsch der Plantage.

Ife sagte noch immer nichts, sondern hockte sich auf den Boden und sah der anderen beim Ausspannen der verschwitzten Tiere zu. Die Ochsen waren so müde, dass sie sich nur widerwillig zu ihrer kleinen Weide ziehen ließen, die sich unmittelbar an Mühle und Siederei anschloss, auch wenn sie dort frisches Gras und Wasser erwartete.

»Bring mir doch noch einmal Wasser für die Ochsen«, rief Johanna, und Ife ergriff ein letztes Mal das Joch, trug die Eimer zur Weide, wo sie das Wasser in einen Trog leerte. Es bedeckte gerade einmal den Grund, sodass sie noch zweimal gehen musste, während sich nun Johanna von den Strapazen des Tages ausruhte. Es war inzwischen stockdunkel, nur aus der Siederei flackerte noch der Schein der Feuer herüber.

Als die Ochsen versorgt waren, hakte sich Johanna bei Ife unter, obwohl sie deutlich größer war, und die beiden Frauen nahmen den schnurgeraden Weg, der zu den Behausungen der Sklaven führte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass sie Coba so etwas antun«, bemerkte Ife, die das Gespräch unter keinen Umständen auf sich selbst lenken wollte.

»Sie ist nicht die Erste, der das passiert«, entgegnete Johanna ungerührt.

»Sie ist alt. Und sie ist unsere Heilerin, nicht irgendeine Feldsklavin. Und wer ist überhaupt dieser Mister, oder wer glaubt er, dass er ist?«

Joanna hielt in ihrem schleppenden Gang inne und starrte sie mit hochgezogenen Brauen an. Ife begriff, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Sie war bei der Bestrafung nicht von Anfang an dabei gewesen. Vielleicht war der fremde Mister den Sklaven also doch vorgestellt worden.

»Ich meine«, fuhr Ife fort, »wer glaubt er eigentlich zu sein? Hier einfach so aus dem Nichts aufzutauchen und dann die Älteste und Weiseste von uns vor allen vorzuführen. Es ist mir egal, wer er in seiner Heimat ist.«

Johanna hatte ihre Brauen wieder sinken lassen, ihre Augen waren aber noch immer vom Misstrauen geschwärzt.

»Wo bist du eigentlich den ganzen Vormittag gewesen? Du müsstest doch am besten über alles Bescheid wissen. Coba ist keine Heilerin, sie ist eine Hexe, das hat sie heute bewiesen.«

»Was interessiert es dich schon, ob Coba eine Hexe ist«, gab sie nur trotzig zurück. Bloß nicht auf die Frage eingehen.

Die beiden fielen wieder in ihren schleppenden Gang.

»Sie ist schuld, dass die Neue gestorben ist.«

Ife biss sich auf die Lippen, doch die Worte mussten raus. »Schuld, ja? Wenn hier jemand eine Schuld trägt, dann sind es diejenigen, die die Frau hierher verschleppt haben. Der Mister, der sie gekauft hat, um sie in dieses Elend hier zu stecken. Wie kannst du davon sprechen, dass Coba Schuld hat, nur weil ihre Heilkräfte nicht stark genug waren?«

»Du redest wie eine aus dem Wald.«

Lag da eine Warnung in Johannas Stimme? Vielleicht werde ich bald eine von denen aus dem Wald sein, sparte sich Ife zu sagen.

Johanna redete weiter. So sehr Johanna Ife auf die Nerven ging, war sie in diesem Moment froh, dass die andere ihren Mund nicht halten konnte.

»Also, ich würde die Frucht meines Leibes nicht gewaltsam herausreißen, wie es jene getan hat. Und wenn ihr Coba am Ende dabei geholfen hat, dann ist sie an ihrem Tod schuld, da gibt es nichts dran zu rütteln.«

»Und wenn sie einfach eine Fehlgeburt hatte? Das passiert doch ständig. Ich weiß nicht, in welcher Gang die Neue gearbeitet hat, aber vielleicht war es einfach zu hart für sie.«

Johanna schnaubte ungläubig.

Selbst auf die Toten muss sie noch eifersüchtig sein, dachte Ife.

Die Tote hatte etwas mit ihr zu tun, sollte ihr etwas sagen, da war sich Ife sicher. Es mochte ja sein, dass Coba und andere Sklaven sie auch gesehen hatten, aber das musste nicht bedeuten, dass sie ein Mensch war. Sie konnte ein Geist sein, der gekommen war, um von Ife abzulenken und das Schlechte auf sich zu ziehen. Sie konnte aber auch ein Mensch sein, und Coba hatte das Interesse Ananan Keduaman Keduampons, des höchsten Wesens, Herrn über alle Geister und alle Lebenden, von Ife auf diese andere gelenkt. Sie wusste noch immer nicht, ob und wie Coba die Tortur überstanden hatte. Sie musste unbedingt nach ihr sehen, wenn sie im Yard angekommen waren.

Es hatte keinen Sinn mit Johanna zu diskutieren, es konnte am Ende sogar gefährlich werden, weil sie gerne zu viel redete. Doch der Geist der Toten zwang Ife dazu, die Fremde zu verteidigen: »Wenn sie es mit Absicht getan hat, hat sie das Kind vor einem großen Leid bewahrt. Auf keine andere Art hätte sie ihm mehr Liebe geben können.«

»Die Götter entscheiden, wer lebt und wer stirbt, nicht wir. Unsere Kinder gehören in die Kette der Ahnen, sie werden sich einmal um unsere Geister kümmern, ihnen Speise und Trank und ein Zuhause geben. Was sollen wir machen, wenn wir keine Angehörigen mehr in der Welt haben?«

»Ach Johanna, das alles gilt hier nicht. Das Kind gehört dem Herrn, auf dessen Plantage es geboren wurde. Wenn du Glück hast, behält er es, wenn du Pech hast, verkauft er es, sobald es groß genug ist, und du siehst es nie wieder. Das Kind wird niemals wissen, wenn du in die Welt der Geister übergetreten bist.«

Der Geruch des Essens beendete ihre Diskussion. Glücklicherweise schliefen sie nicht in derselben Baracke. »Wir reden morgen weiter«, sagte Johanna und ging zu ihrer Baracke.

Die heutige Ration bestand wie immer aus Maniok mit einem Löffel wässriger Bohnen. Ife nahm ihre Portion in Empfang und ließ sich außerdem Essen für den Patienten in der Baracke und für Coba geben.

Sie war so hungrig, dass sie alle drei Portionen hätte verschlingen können. Wenn sie Glück hatte, war der Kranke zu schwach, um zu essen. Coba hingegen würde sie niemals ihre spärliche Mahlzeit vorenthalten. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, hockte sie sich zwischen die anderen vor eine der Hütten.

Das ohrenbetäubende Quaken der Frösche erfüllte den Yard. Während des Essens waren alle zu erschöpft, um nur ein Wort zu sagen. Erst als die Näpfe leer waren, begann hier und dort eine gemurmelte Unterhaltung, so gedämpft wie die Stimmung nach diesem Tag, an dem die Herrschaften wieder einmal ihre Willkür gezeigt hatten. Es war an der Zeit, Coba ihr Essen zu bringen. Ife hatte Angst vor der Krankenbaracke, Angst noch einmal dem Geist der Toten zu begegnen. Sie wollte erst zu Cobas Hütte gehen, vielleicht war die Alte ja aus ihrer Ohnmacht erwacht und hatte sich aus eigener Kraft zu ihrer Hütte geschleppt.

Sie ging an den schemenhaften Baracken vorbei, hinaus in die absolute Dunkelheit. Cobas Hütte lag noch hinter den Baracken, die sich zwanzig oder dreißig Sklaven teilten, schon ganz nah an den dichten Körper des Waldes gedrängt, gefährlich nah an der Freiheit. Aus der Dunkelheit wehte ein schwerer, erdig-feuchter Duft herüber, mischte sich mit dem süßen Geruch der Pflanzen, die hier und dort an den Barackenwänden standen, um die bösen Geister fernzuhalten.

Ife stampfte beim Gehen auf, um die Schlangen zu verscheuchen. Erst vor einem Monat war ein Sklave auf eine Viper getreten und erblindet, weder Coba noch der indianische Medizinmann hatten ihm helfen können. Mit einem blinden Sklaven konnte der Mister allerdings wenig anfangen. Er hatte ihn bei seiner nächsten Reise in die Stadt mitgenommen, und niemand wusste, was aus ihm geworden war.

Coba lebte in der ehemaligen Hundehütte von Sir Henry, einem großen wolligen Tier, das in der feuchtwarmen Hitze eines Tages einfach die Zunge herausgestreckt und nie wieder zurück ins Maul genommen hatte. Das war es mit Sir Henry, und offenbar hatte die Missus die Hundehaltung aufgegeben. Nun lebten nur noch die Hunde auf der Plantage, die nachts mit den Wachen patrouillierten, kurzhaarige braune Tiere mit hängenden Lefzen und furchterregenden Eckzähnen. Sir Henry war dagegen ein gutmütiges und träges Tier gewesen, das die Missus hinter einen Zaun gesperrt hatte, um es vor den anderen Hunden zu beschützen.

Nach seinem Ableben hatte die Missus die Hütte von Sir Henry in die hinterste Ecke der Plantage zwischen die Sklavenunterkünfte tragen lassen, um nicht mehr an ihn erinnert zu werden. Am ersten Tag hatte niemand recht etwas mit ihr anzufangen gewusst, beinahe schon hätten die Männer sie zerkleinert und ins Feuer geworfen. Doch dann kam jemand auf die Idee, hinein zu kriechen, was ihm aber nicht gelang. Und andere folgten seinem Beispiel, es wurde ein absurdes Schauspiel, bei dem die erwachsenen Sklaven auf einmal die Rolle des adeligen Hundes einnahmen. Manche stießen sich Kopf und Schultern und fluchten, andere brachen bei dem Versuch, sich durch das Loch zu winden, in unbändiges Gelächter aus. Coba stand mit verschränkten Armen daneben und gab keinen einzigen Kommentar von sich. Die Menge feuerte die jeweiligen Hunde an: »Noch ein bisschen die Luft einziehen!«, spotteten sie, »An dir ist ein englischer Hund verloren gegangen« oder: »Mach Platz, so ist’s brav, Henry!«. Als sie sich genug amüsiert hatten, kam Coba mit ihrer Strohmatte, kroch ohne Schwierigkeiten durch das Loch, und niemand hat seitdem versucht, ihr Sir Henrys ehemaliges Haus streitig zu machen.