Stolps Reisen: Damals und heute, von den Anfängen bis zum Massentourismus

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3. Türkei: Der Imam ist fort

Nach Italienern, Spaniern und Griechen strömten Türken in die alte Bundesrepublik Deutschland. Das „Wirtschaftswunder“ zog immer mehr internationale Jobsucher an. Diese selbst und manche Deutsche sahen in ihnen „Gastarbeiter“, die nach Ablauf der Arbeit wieder in die Heimat zurückkehren würden. Doch als diese „Gastarbeiter“ ihre Nachkommen holten und sich hier ansiedelten, kamen vor allem deutsche Politiker auf die Idee, sie müssten beim Ansturm muselmanischer Türken die Sünden des Holocausts wieder gut machen: Eine Politik der „Assimilation“ galt in Deutschland als alternativlos und politisch korrekt.

Es kamen mehr und mehr. Die Türken in Deutschland wurden anfangs „Gastarbeiter“ genannt und siedelten sich gerne in heruntergekommenen Vierteln an. Nach dem „Nazi“-Desaster wollte die deutsche Politik diesmal alles richtig machen. Sie befand, die Türken müssten in die deutsche Gesellschaft „integriert“ werden. Ob und wie weit sie dazu ihre hergebrachte Kultur aufgeben sollten, war nicht klar.

Ein deutsches Landesparlament wollte voraus gehen und gründete einen „Ausländerausschuss“. Der Vorsitzende befand bald, dass der Ausschuss in das Herkunftsland der vielen „Gastarbeiter“, die Türkei, reisen sollte, um sich vorzustellen und die Kultur dieses Landes besser zu verstehen. Die Abgeordneten machten sich auf den Weg, besuchten „Ankara“, Anatolien und „Istanbul“.

In Kleinasien herrschten Militärs. Sie hatten den zivilen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit inhaftiert. Ecevit war Sozialist, und die sozialdemokratischen Mitglieder der Delegation besuchten ihn. Nichtmitglieder der SPD waren nicht zugelassen. Danach hockte die gesamte Delegation in einem Hotel in „Ankara“. Ein Abgeordneter, auch er Sozialdemokrat, verstand es auf wunderbare Weise, unentwegt Witze zu erzählen und die Kollegen zu unterhalten.

Draußen vor dem Hotel fuhren Panzer auf und umstellten das Gebäude. Das wirkte bedrohlich. Etwas erleichtert waren die Gäste aber, als sich herausstellte, dass die Drohgebärde nicht ihnen galt, sondern der deutschen „Grünen“-Politikerin Petra Kelly und ihrem General Gert Bastian, die ebenfalls in dem Hotel weilten.

Die Abgeordneten durften sich bei den Gesprächen mit türkischen Offiziellen anhören, dass die Türken in Deutschland schlecht behandelt würden. Eine mitgereiste „grüne“ Abgeordnete, die den türkischen Namen ihres Ehemannes trug (was die Gastgeber freute), stimmte der Kritik zu. Sie musste sich später intern Vorwürfe ihrer Kollegen von den anderen Parteien anhören. Dass ausgerechnet sie als „Linke“ den Vertretern der Militärdiktatur zustimmte, verstanden die anderen Abgeordneten nicht.

Als die deutschen Parlamentarier ein türkisches Verwaltungsgebäude besuchten, gingen sie einen langen Gang entlang, an dem alle Bürotüren geöffnet waren. In den Amtstuben standen Staatsdiener und verneigten sich vor den Gästen. Dann betraten sie das Büro des Bürgermeisters von Istanbul – auch er ein General. Er saß hinter einem überdimensionierten Schreibtisch auf einem Stuhl wie auf einem Thron. Zu Füßen dieses Generals und Schreibtisches hatten die Gäste ihre Sitzplätze. Die Gastarbeiter in Deutschland interessierten den General offensichtlich nicht. Er hatte anderes im Kopf: „Wir bauen eine U-Bahn in Istanbul. Ihr habt schon eine U-Bahn. Der Chef Eurer U-Bahn soll kommen und uns raten, wie wir das hier machen sollen. Sagen Sie ihm das!“ Per Befehl wollte der Militär am Bosporus eine U-Bahn bauen, ganz ohne Bürgerbeteiligung!

Die Finanzierung stellte er sich übrigens einfach vor: „Wenn die Leute geradeaus gucken, müssen sie Steuern zahlen. Wenn sie nach rechts oder links gucken, müssen sie Steuern zahlen. Und wenn sie sich umdrehen, müssen sie Steuern zahlen!“

In Anatolien besuchten die Gäste ein kleines Dorf. Sie waren gekommen, weil ihnen gesagt worden war, die meisten der Türken in Deutschland stammten aus dieser Gegend. Als die Deutschen vor Ort erschienen, teilte einer der Bewohner mit: „Der Imam ist fort. Er will nicht mit Ungläubigen zusammen sein.“

Dann umringten viele fröhliche Kinder die Gäste. Diese erkannten, wie groß das menschliche Reservoir hier war.

Die türkische Presse berichtete über die Reise und die Gespräche sehr ausführlich. Die Besucher konnten Fotos in den großen Zeitungen sehen, nur die Texte daneben, die konnten sie nicht lesen.

Zum Abschluss wurden die Gäste zu einem Schmaus am Bosporus eingeladen. Es gab Köstlichkeiten aus dem Meer. Dass die türkische Küche gut ist, stand damit fest. Der offizielle türkische Begleiter informierte darüber hinaus, dass Türken nicht nur den Kuppelbau, sondern auch das Flugzeug und die Demokratie erfunden hätten.

Das mit der Demokratie glaubten die Besucher aus Deutschland nicht ganz…

(1983)

4. Japan: „Plost!“

Geheimnisvoller noch als die Türkei erschien Japan. Irgendwo, weit weg in Fernost, gab es einen Staat, in dem die Menschen angeblich ebenso tüchtig waren wie in Deutschland. Und dieser Staat hatte wie Deutschland den letzten Krieg gegen die Amerikaner und ihre Verbündeten verloren.

Japan wurde nach 1945 eine der großen Wirtschaftsnationen der Erde, und seine Wissenschaft streckte seine Fühler in alle Himmelrichtungen aus. Würden sie bis nach Deutschland kommen?

Einst machte ein deutscher Politiker eine Dienstreise nach Tokio. Er fuhr auf Wunsch des Ministerpräsidenten seines Landes und sollte dabei die steinreiche private „Nihon-Universität“ bewegen, in einer Region Deutschlands eine Filiale aufzumachen. Die „Nihon-Universität“ wollte dem Vernehmen nach einen Schritt von der Insel weg tun und hatte dabei – so wurde berichtet – drei Standorte im Visier. „London“ war Favorit: Japaner zog es primär nach Groß-Britannien.

Hintergrund war, dass der Bundeskanzler nach Japan reisen wollte. Da wäre es doch schön gewesen, wenn er entgegen allen Spekulationen in „Tokio“ eine Investition der „Nihon-Universität“ im vereinten Deutschland hätte besiegeln können.


Tokio

Die „Nihon-Universität“ galt als sehr reich mit ihren 87.000 Studenten,

4.000 Professoren und Dozenten sowie etwa 4.000 Abgestellten in „Tokio“.

Angeboten hatten die Deutschen unter anderen einen „Ferienpark“ noch aus der DDR. Diese Liegenschaft war 380.000 Quadratkilometer groß und hatte einen hohen Verkaufswert. Auf die ganze Sache gebracht hatte das östliche deutsche Bundesland ein japanischer Herr aus „Düsseldorf“, der als Vermittler auftrat.

Bei der Reise begleitete den Politiker ein Beamter, der zuständiger Referatsleiter des Wissenschaftsministeriums war. Er und der Politiker wurden im „Deutsch-Japanischen Zentrum“ von einem deutschen Grafen auf Japan vorbereitet. Der Graf galt als Japan-Kenner. „Die Japaner sitzen auf einem verdammt hohen Ross. Das muss man einfach akzeptieren“, sagte er.

Der Beamte flog vor, so dass der Politiker später alleine in Frankfurt einen Jumbo der „JapanAir“ bestieg. Im Warteraum davor sah er sich um. Er war hier unter lauter Japanern eine der ganz wenigen „Langnasen“.

Das konnte ja heiter werden! Immerhin flog der Politiker „Business-Class“. Neben ihm saß ein Japaner. Der sprach während der zehnstündigen Reise kein Wort und würdigte den Deutschen keines Blickes.

Die Stewardessen sprachen sanft und unverständlich. Ständig verbeugten sie sich, allerdings vor dem Flugnachbarn öfter und tiefer als vor dem deutschen Politiker. Immerhin konnte dieser beim Verzehr der Speisen und Getränken dem Nachbarn nacheifern. Als Menue bestellte der Deutsche wie er „Japanese“ und nicht „Western style“, und als die Speisen kamen, orientierte er sich bei der Reihenfolge und der Methode der Nahrungsaufnahme an seinem stummen Nachbarn, so dass er die Stäbchen, Schüsselchen und Pfännchen hoffentlich fachgerecht benutzte.

Als sie pünktlich in „Tokio“ ankamen, fühlte sich der Deutsche verloren: Es wimmelte vor schwarzhaarigen Menschen, die alle eine unverständliche Sprache sprachen. Auch die Flughafen-Durchsagen waren unverständlich. Da kam ein Japaner im dunkelblauen Anzug auf den Politiker zu und sagte, er würde ihn zum Hotel bringen. Es war der Herr aus Düsseldorf, und später stellte der Deutsche fest, dass er im Unterschied zu den vielen anderen Japanern, die ebenfalls dunkelblaue Anzüge trugen, lockige Haare hatte. Daran würde er ihn in den kommenden Tagen erkennen.

Der Herr hatte eine kleine schwarze Collegemappe dabei. Bis der Bus zum Hotel führe, sagte er, sei noch etwas Zeit, und die würde er nutzen, um schnell ein Telefonat zu führen. Sie warteten in einem Café. Es war heiß und schwül; man spürte es: „Tokio“ war eine südliche Stadt.

Der Bus zum Hotel fuhr zwei Stunden lang durch ein Agglomerat von Häusern, Brücken und Bahntrassen. Innerlich fragte der Politiker sich, wie er jemals zum Flughafen zurückfinden solle. Im Hotel dann bekam er einen Schreck: Er hatte die Visitenkarten vergessen! Dabei hatte es doch in Deutschland geheißen, Visitenkarten seien hier unentbehrlich.

Glücklicherweise konnte er im Hotel Karten drucken lassen. Während er auf die Karten wartete, beobachtete er, dass beim Auschecken von Paaren die Frauen die Rechnungen bezahlten und dass Japaner sich ständig voreinander verbeugten. Die Tiefe des „Dieners“ hing vom sozialen Rang des Gegenübers ab.

Unübersichtlich wie die Stadt waren die Entscheidungsstrukturen der „Nihon-Universität“. Der Präsident der Universität, Herr Kinoshita, so wurde gesagt, sei „krank“. Und da eine Neuwahl bevorstünde, müsse Herr Kinoshita ohnehin vorsichtig sein beim Gespräch über Investitionen. Aber Prof. Kajiwara war der Vertreter des Präsidenten und gleichzeitig sein „Leibarzt“. Der würde die Deutschen empfangen.

 

Am Morgen nach der Ankunft ging es zum Verwaltungsgebäude der Nihon-Universität. Durch Knäuel von Menschen hindurch eilte die Delegation zur U-Bahnstation. Der „Düsseldorfer“ ging stets voraus, man durfte ihn nicht aus den Augen verlieren. Alle Beschriftungen waren japanisch, so dass es kaum möglich war, sich zu orientieren.

Das Gebäude der Nihon-Universität war groß und beeindruckend. Unten leistete man sich ein kleines Gärtchen mit Fischteichen. Wie viele Millionen Yen mochten die paar Quadratmeter der Metropole wert sein, über welche die Fische da schwammen?

Die Delegation wurde in einen quadratischen Konferenzraum geführt, in dem um die leere Mitte Sessel gruppiert waren. Die Zeit blieb stehen. Nichts geschah. – Nach einer Weile ging die Türe auf und herein trat Prof. Kajiwara. Er war ein alter Mann, begrüßte alle sehr förmlich und nahm in einem Sessel gegenüber seinen Besuchern Platz.

Nichts Weiteres geschah.

Wer sollte jetzt anfangen?

Da begann der Vizepräsident und „Leibarzt“ leise und ohne jeden Blickkontakt: Es beeindrucke ihn sehr, dass die Herren eine so weite Reise gemacht hätten. Die „Nihon-Universität“ sei eine große Universität, da gäbe es viele Ansichten. Aber der Präsident interessiere sich für das Projekt in Deutschland. Leider sei er sehr krank.

Und damit endete die Ansprache von Prof. Kajiwara.

Es war Zeit für eine Entgegnung: Der Ministerpräsident ließe die besten Grüße bestellen und wünsche dem Präsidenten der Universität baldige Genesung. Sein Bundesland sei ideal für eine Investition. Die neue deutsche Hauptstadt, sei da gleich in der Nähe, und der gesamte Osten Europas läge vor der Tür. Auch besuche die Königin von England gerade diese Gegend...

Dem Vizepräsidenten war keine Reaktion anzumerken. Noch einmal nahm er das Wort: Leider sei der Präsident krank, aber demnächst würden einige Mitarbeiter der Universität nach Deutschland kommen. Er müsse nun gehen. Es habe ihn sehr gefreut, die Herren kennen zu lernen. Im Hinausgehen sagte er noch etwas zu einem unwirsch wirkenden Mann im hellen Anzug. Der verbeugte sich.

Eigentlich war der deutsche Politiker schon entschlossen, den als Gastgeschenk mitgebrachten Porzellan-Teller („von unserem König“) zu behalten. Da wurde der untersetzte Herr auf einmal freundlich und jovial. Was die Herren sehen wollten, fragte er. Die Wahl fiel auf die technischen Fakultäten. Deren Besuch wurde für den nächsten Tag verabredet. Nun stellte sich heraus, wer der Herr im hellen Anzug war. Es handelte sich um Prof. Sakuta, dem Leiter der universitären Fachkommission zum Investitionsprojekt in Europa.

Der Porzellanteller blieb am Ende doch in „Tokio“.

Es folgten weitere Gespräche mit Universitätsvertretern, mit dem deutschen Botschafter in „Tokio“, der deutschen Industrie- und Handelskammer sowie mit japanischen Geschäftsleuten. Allmählich schälte sich heraus, dass es an der Universität zwei Fraktionen gab: Die eine der nach Europa drängenden Expansionisten und die andere der für das Verbleiben auf Honshu kämpfenden Isolationisten. Wer sich warum und wie durchsetzen würde, vermochte niemand zu prophezeien. So meinten die Besucher, es könne nicht schaden, beim Besuch des „Meiji-Schreins“ Münzen zu spenden und dazu nach Landessitte in die Hände zu klatschen.

In der „Freizeit“ lernten die Deutschen, dass ein Essenservice in Japan aus je fünf Teilen bestand, das bei einem Geschenk die Verpackung wichtiger war als der Inhalt und dass ein Apfel fast so edel und kostbar sein konnte wie Gold.

Während des Besuches betonte der „Düsseldorfer“ immer wieder, wichtig für das Projekt sei Prof. Hamada. Den müssten die Herren unbedingt sprechen, und er würde ein Treffen mit ihm arrangieren. Doch alles müsse sehr vertraulich sein. Empört lehnte er es ab, einen Vertreter der deutschen Botschaft an dem Treffen teilhaben zu lassen: Irgendwie schien dieser Besuch auch ein geschäftliches Interesse zu tangieren.

Prof. Hamada hatte keinen Termin frei. Er sei zu Vorträgen in „Yokohama“, war zu hören. Ein anderes Mal hieß es, er hätte schon längst zu Hause sein müssen und seine Frau machte sich Sorgen. Dann wieder war er zwar in seiner „Praxis“ aufgetaucht (War er Mediziner?), dort jedoch so mit Terminen überhäuft gewesen, dass er gar keine Zeit für die Besucher aus Deutschland habe.

Plötzlich jedoch, am letzten Tag der Delegationsreise, verkündete ein strahlender „Düsseldorfer“, Herr Hamada habe Zeit. Er und weitere Professoren würden die Gäste gerne in ein traditionelles Restaurant zum Abendessen einladen.

„Das wird teuer für die!“, kommentierte ein ortskundiger Mitarbeiter der deutschen Botschaft, die trotz der Abwehr informiert war. Der Treffpunkt entpuppte sich als ein Restaurant mit niedrigen Räumen, Wänden wie aus Pappe, niedrigen Tischen und Kimono-bekleideten Damen. Eine Köstlichkeit nach der anderen wurde gereicht: „Shabu-shabu“, „Sukiyaki“, „Sushi“, „Sashimi“ und anderes. Dazu gab es immer wieder den warmen Reiswein – „sake“ – und Bier.

Die Damen hockten neben den Gästen und verfolgten jeden Bissen und jeden Schluck der Europäer. Die Gastgeber versicherten, das seien keine Geishas. Eine Musikergruppe spielte japanische Weisen. Jetzt tauten die japanischen Professoren auf: „Das ist von Hokkaido, wo ich herkomme, meine Heimat.“ – „Dieses Lied singt man in ‚Nagasaki‘, da müssen Sie ‘mal hin!“

Dann war Schluss mit dem Essen, aber nicht mit dem Trinken. In den Pappwänden öffneten sich Türen, und Monitore wurden herausgezogen. Die Damen, die keine Geishas waren, hatten Mikrofone in den Händen, und für die Japaner kam der Höhepunkt des Abends: „Karaoke“. Reihum musste jeder zu Videoclips den eingeblendeten Text bekannter Schlager singen. Die Deutschen taten sich schwer, doch die Japaner hoben ab. Am Schluss waren sie selig und kamen in Verbrüderungsstimmung. „Plost.“, kicherten sie.

Ende Januar des folgenden Jahres kam eine Delegation der „Nihon-Universität“ nach Deutschland. Hier wurden sie von allen verfügbaren Fachleuten empfangen. Im Hubschrauber überflogen sie das angebotene Gelände. Alles wurde fotografiert, sogar die Toiletten.

Dann nahmen sie alle ihre Geheimnisse (über den kranken Präsidenten, der wiedergewählt werden wollte, über die zwei Fraktionen in der Universität und über die wirkliche Bedeutung des Prof. Hamada) via „Krefeld“ mit nach Fernost.

Sie wurden in Deutschland niemals wieder gesehen.

(1992)

1 S. Jürgen Dittberner, Schwierigkeiten mit dem Gedenken. Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 168 ff

2 S. Jürgen Dittberner, Der Venezianische Löwenbrunnen in Berlin. Berlin und Potsdam –getrennt und vereint, Stuttgart 2018, S.154 ff

3 S. Jürgen Dittberner, Schwierigkeiten mit dem Gedenken., a.a.O., S. 171 ff

4 Ignatz Bubis, Die Holocaust-Museen in den USA: Ein Modell für Deutschland?; in: Jürgen Dittberner/ Antje von Meer (Hg.), Gedenkstätten im vereinten Deutschland. 50 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager, Berlin 1994

VI. Europäische Regionen

Als nunmehr schon bewährte Touristen konnten die Stolps fortan ausgestattet mit Routine die ganze Welt bereisen. In Italien, Griechenland und Spanien war ausreichend „trainiert“ worden: Anreise, Unterkunft, die Landschaft, das Wetter, das Geld und vieles andere waren geübt. Nun empfanden sie es nicht mehr als leeres Gerede, wenn Freunde an Geburtstagen wünschten: „Gesundheit und viele schöne Reisen!“

Auf ging es nach Europa! Silke und Andor reisten in die Hauptstädte „Athen“, „Rom“, „Paris“, „Lissabon“, auf Mittelmeerinseln, zu sagenumwobenen Landschaften, in den tiefen Süden bis nach Malta und in den hohen Norden bis nach Island.

An erster Stelle stand „Athen“! Schließlich ist das die „Wiege des Abendlandes“. Dann öffnete sich das Kaleidoskop des Kontinents Europa.

Schließlich zog es sie auf die gute blaue Donau – fast zurück in die Heimat.

1. Athen: Küsschen für die deutsche Regierung


Auf der „Akropolis“

Athene ist die Patronin dieser Stadt. Sie ist bekannt als Göttin der Weisheit, aber war auch eine Stadtplanerin. So fand sie, die „Akropolis“ brauche ein Gegengewicht im Weichbild „Athens“. So warf sie den Berg „Lycabettus“ („Wolfshügel“) in die Landschaft, auch als Schutz für die „Akropolis“. Später wurde auf diesem Hügel ein christliches Kirchlein gebaut und „St. George“ genannt. Noch viel später entstand am Fuße dieses Berges ein Hotel, das sich „St. George Lycabettus Lifestyle Hotel“ nannte und die Herberge von Silke und Andor wurde.


Auf dem „Lycabettus“

Die Reisenden wagten es, mit der U-Bahn und auf „Schusters Rappen“ die „Akropolis“ zu besuchen, was wegen der Diebe risikobehaftet war. Aber sie überquerten auf dem Wege den „Syntagma-Platz“, wo sich das Parlament des modernen Griechenlands befindet und wo sich viele Griechen immer wieder zu politischen Aktionen versammeln.

Sie sahen keine Protestierer, nur in altertümliche Kleidung gesteckte Wachsoldaten. Diese trugen dunkle Westen, enge Strümpfe und großes Schuhwerk mit gewaltigen Puscheln daran. Ausgestattet waren sie mit langen Gewehren, und wenn sie alle Stunde wechselten, warfen sie die Arme hoch. Dann sahen sie mit ihren weit geschnittenen weißen Blusen aus wie aufgeplusterte Schwäne. Ein „normaler“ Soldat in Felduniform überwachte diese Herren und zupfte ihre Kleidung zurecht. Silke fiel ein Lied ein: „So ein Mann, so ein Mann…!“

Da erschien ein Grieche, der war von der EU und Deutschland entzückt. Er trug den Stolps auf, der Bundeskanzlerin Küsschen zu überbringen und dem Bundesfinanzminister noch zwei mehr. Ein anderer trug ein Schild, auf dem stand, Jesus sei der Versöhner für alle Völker.

In der 5000-jährigen Geschichte Athens hat es viele Aufs und Abs gegeben. Schon vor Jesu Geburt hatte sich die repräsentative Demokratie entwickelt. Zweifellos liegt in „Athen“ eine Wurzel moderner Zivilisation. Lange Zeit war die Stadt nach der Blüte nur noch ein Dorf im Osmanischen Reich. Aber 1834 wurde es Hauptstadt des wiedererschaffenen Griechenlands. Seither erlebte „Athen“ einen gewaltigen Bauboom, und später hatte es 2018 über 660.000 Einwohner.

Diese Stadt liegt am Meer in einem riesigen Talkessel, und im Sommer soll es unerträglich heiß sein.

Für Silke und Andor gab es nur noch eins: „Auf zur Akropolis!“ Sie schlenderten durch die Altstadt „Plaka“ und kamen auf einem breiten, ansteigenden Fußweg zum Eingang der Anlage. Zwei Schlangen standen an: Nur zwei Kassenhäuschen waren geöffnet. Sie kauften Eintrittskarten. Es ging hinauf auf einen Berg, zusammen mit Menschen aus aller Herren Länder. An den Wegesrändern standen Altertümer, die sich nicht immer einordnen ließen. Schließlich erreichten sie den Tempel. Eine große Treppe führte ins Innere. Silke erkundete die ganze „Akropolis“. Andor wartete (wie viele andere) lieber am Fuß der Riesentreppe.

Gerade fand das orthodoxe Osterfest in Griechenland statt – eine Woche später als in Deutschland. Es war schönes Wetter. Am Karfreitag jedoch wurde es grau, und alle griechischen Fahnen waren auf Halbmast gesetzt. Ein Grieche sagte, er sei nicht gläubig, aber vor und nach Karfreitag habe „Athen“ immer Sonnenschein. Karfreitag selber dagegen sei stets regnerisch.

Zur Aufheiterung der Gemüter fuhren die beiden nach „Piräus“ – dem berühmten Hafen von „Athen“. Dort hinaus fuhr eine Bahn. Der Bahnhof von „Piräus“ war nicht gerade taufrisch, und als sie auf den Vorplatz traten, sahen sie ein graues Hafenbecken und Fährschiffe. Die Uferpromenade wirkte etwas schmuddelig. Zwei Kirchen waren geschlossen. Dann fing es mit Macht zu regnen und zu stürmen an. Die Urlauber flüchteten sich in einen „Take-off“-Laden, wo ihnen jeweils drei gegrillte Schweinekoteletts mit Riesenbergen von Pommes Frites serviert wurden. Als der Regen nachließ, gingen Silke und Andor zurück zum Bahnhof und ließen „Piräus“ lieber „Piräus“ sein.

 

Nach diesem trostlosen „Piräus“-Abenteuer – (kein „Mädchen von Piräus“ in Sicht!) fuhren sie auf den Berg „Lycabettus“. Hier waren zwei Restaurants, das Kirchlein und eine Aussichtsplattform. Die Kirche war österlich geschmückt. Silke und Andor hatten einen fantastischen Blick auf „Athen“, sahen die „Akropolis“, den Hafen und das Meer. Rundum waren Berge, an deren Hängen die Stadt mit ihren weißen Häusern hinaufgewachsen war: Die Wiege Europas!

Ostersonnabend waren die Flaggen wieder auf Vollmast. Die Kirchen allerdings waren geschlossen, denn Messen fanden erst um Mitternacht statt. Auf dem „Lycabettus“ versammelten sich zahlreiche Menschen mit kleinen Leuchten in den Händen. Sie starteten eine Prozession hinab in die Stadt, um die Auferstehung Jesu zu feiern. Punkt null Uhr donnerte aus diesem Anlass eine Kanone mehrmals vom Berg herab.

Am Ostersonntag arbeitete das Personal der „Akropolis“ nicht: Es war schließlich Feiertag! So trollten sich Touristenscharen in der „Plaka“, was Souvenirhändler und Restaurantbesitzer freute. Silke bestellte in einem Freiluftrestaurant eine griechische „Ostersuppe“, und Andor labte sich an „Tsatsiki“ und „Tamaras“. Dazu gab es Weißbrot und edlen griechischen Wein. Hinterher sahen sie, wie ziemlich große „Osterlämmer“ auf den Straßen an Spießen gegrillt wurden.

Unterhalb der „Akropolis“ befindet sich ein Museum. Es steht auf einhundert Betonsäulen und scheint über zahllosen Ausgrabungen zu schweben. Es ist lichtdurchflutet, wurde aus Glas und Metall gebaut. Das Museum hat eine Fläche von 25.000 Quadratmetern; davon sind 14.OOO Quadratmeter Ausstellungsfläche. Es besteht aus vier Ebenen: Im Erdgeschoss befindet sich der „Saal der Akropolishänge“ mit Funden vom Ort des früheren Heiligtums, aber auch von profanen Stellen einer alten Siedlung. Im dritten Stock des Museums ist der „Parthenonsaal“ mit Reliefplatten und „Parthenon-Säulen“. Auf der ersten Ebene befinden sich Ausstellungen der „Propyläen“, des „Nike-Tempels“ und des „Erechtheions“. Das sind eindrucksvolle Plastiken, teils Originale, teils Kopien. Auch die Köpfe des Zeus und der Athene sind zu sehen. Dieses Museum war großartig; Silke und Andor fanden, es allein war die Reise wert!

Beim Rückweg zum Hotel kamen die Reisenden durch bergige Straßen, die mit wunderschönen Zitrusbäumen verziert waren. Die Blätter waren dunkelgrün. Die Früchte leuchteten orange. Aber Vorsicht: Das waren Pomeranzen! Sie schmecken bitter und haben viele Kerne. Pomeranzen gelten daher als ungenießbar. Sie kullerten, wenn sie abfielen, die Straßenränder hinab, blieben an Gullys liegen. Kein Mensch aß sie. Die Besucher erfuhren, dass man aus diesen Früchten immerhin bittere Marmelade oder auch Parfüms machen könne. Aber in „Athen“ tat das keiner, und so blieb nur, sie zu bewundern oder mit ihnen Fußball zu spielen.


Eine Pomeranze

Im Übrigen trugen die Stolps keine Eulen nach Athen, sondern sie brachten eine nach Hause mit. Denn die Eule steht für Klugheit, und klug war die Schutzpatronin der Stadt, die Athene, gewiss. Also erwarben sie eine kleine Messingeule: Zu einer zünftigen Reise gehört eben ein Souvenir!

(2018)