Stolps Reisen: Damals und heute, von den Anfängen bis zum Massentourismus

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

V. Offizielle Reisen
1. Israel

Israel existiert, weil Deutschland einst furchtbare Verbrechen an Juden begangen hatte. Danach fühlten viele offizielle Deutsche die Verpflichtung, Israel zu besuchen und Abbitte zu tun.

„Jerusalem“ zur Pessach-Zeit1: Eine deutsche Delegation lässt Felsendom, Grabeskirche, Klagemauer der Juden, Muslimviertel und Christi Leidensstraße Via Dolorosa – die ganze historische und religiöse Vielfalt dieser wahren Weltstadt – hinter sich und fährt auf den Herzlberg.

Dort besucht sie die Gedenkstätte „Yad Vashem“ zur Erinnerung an die von den Nazis ermordeten Juden. Nach den Berichten über die Tempelzerstörungen, über das längst vergangene Königreich der Tempelritter, den Besichtigungen der Überreste von Türken- und Britenherrschaft, den Diskussionen über die Kriege des 1948 wiedergegründeten Israel und nach Fragen zu den kaum lösbaren Konflikten der Gegenwart erscheint die Gedenkstätte wie ein Fingerzeig auf eine Hölle auf Erden – und das in einem Land, das selber so viel Elend sah und sieht. Die Hölle war in Europa, ging von Deutschland aus, und hier war das Heilige Land.

Die Besucher waren schon vor Betreten von „Yad Vashem“ betroffen oder beklommen. Doch der israelische Guide sagte der Gruppe trocken, dies sei eigentlich eine Gedenkstätte der Juden, und wenn es nach ihm ginge, brauchte sie kein Nichtjude – auch keiner aus Deutschland – je besuchen. Er hätte gehört, fügte er hinzu, gutmeinende Menschen aus Deutschland hätten aus ihrem Lande „Glatzen“ – rechtsradikale Jugendliche also – zur Therapie hierhergebracht. Davon halte er gar nichts. Diese Jugendlichen würden sich ohnehin nicht ändern. Was der Israeli nicht sagte, sicher aber dachte, war: „Wir wollen auch gar nicht, dass solche Leute in unsere Gedenkstätte kommen.“

Beim dann doch erfolgten Besuch der Gedenkhalle für 21 Todesstätten, dem Gang durch die Halle für die ermordeten Kinder und im Tal der Erinnerung an die einstigen jüdischen Gemeinden in Europa erschien die seinerzeitige heimatliche Diskussion über das „Holocaust-Mahnmal“ in Berlin problematisch. Dieses Denkmal hier, „Yad Vashem“, steht nicht für die ermordeten Juden im geläuterten Land der Täter, sondern die Juden haben es bei der Hauptstadt ihres nach 2000 Jahren wiedererrichteten Staates gebaut. Der „Holocaust” war die letzte – und grausamste – aller Verfolgungen, denen dieses alte und so lebendige Volk ausgesetzt war. Ihre Toten ehren sie nun in ihrem eigenen Land.

Es wird behauptet, deutschen Initiatoren für die Errichtung eines eigenen Denkmals an die ermordeten Juden in Europa sei die Idee in „Yad Vashem“ gekommen. Im Unterschied zu Jerusalem müsste in „Berlin“ ein Gedenkort entstehen, der sich primär an die Deutschen wendet. „Yad Vashem“ dagegen versucht, Andenken und Namen für die Opfer im eigenen Land zu sein. Die Nachfahren der Täter müssten demgegenüber wohl einen Gedenkort schaffen, der vor allem Scham und Trauer über die Verbrechen an einem anderen Volk als dem eignen ausdrückt.

Diese Verbrechen haben Namen wie „Auschwitz“, „Dachau“ oder „Theresienstadt“. Die Namen dieser Stätten müssen in „Berlin“ unbedingt genannt werden!


Klagemauer in Jerusalem

Der deutschen Delegation wurde klar: Bei der Diskussion über ein Holocaust-Mahnmal in „Berlin“ sollte nicht so sehr auf das Ausland – nicht einmal auf Israel – geschielt werden, um heraus zu bekommen, was man dort erwartet. Wenn die Deutschen innerlich bereit sind, sollten sie für sich und ihre Nachfahren eine Stätte schaffen, die über Trauer und Scham um die Mordstätten zugleich Warnung wäre vor dem seinerzeitigen Kulturverfall.

Als Stätte solcher Warnung wäre dieses Denkmal für das vereinte Deutschland auch staatspolitisch hilfreich. Damit so etwas gelingt, müsste die Debatte daheim ehrlicher, weniger rechthaberisch und nicht so pompös geführt werden wie bislang, fanden die deutschen Besucher Israels. Nachdem das Mahnmal in Berlin errichtet wurde, scheint dieses Ziel verfehlt worden zu sein.

Nach dem Besuch in „Yad Vashem“ versammelte sich die Delegation in ihrem Bus: Verweinte Gesichter, Stille. Der Israeli schien das nicht zu merken. Gleich an der nächsten Straße verteilten junge Juden Wahlkampfaufkleber für Shimon Peres: „Frieden jetzt“. – „Frieden wollen wir alle.“, sprach der Guide ins Mikrofon, „aber der Frieden muss auch sicher sein. Bei uns und bei den Palästinensern werden die Fundamentalisten mehr. Die Syrer wollen den Golan wieder. Dann sind Galiläa und ganz Israel ungeschützt. Und dahinter sitzt der Iran, unversöhnlich.“

Der Sohn Israels hatte die Delegation bewusst in die Gegenwart zurückgestoßen. Er und viele weitere der seinerzeitigen Juden glaubten, dass ihr Volk mit „Yad Vashem“ und anderen Gedenkstätten in Israel für die Opfer getan haben, was ihnen menschenmöglich ist.

So erschien den Besuchern zu Pessach in „Jerusalem“ der Gedanke absurd, die Halle für die ermordeten Kinder irgendwo und vielleicht sogar in „Berlin“ zu kopieren. „Yad Vashem“ war Ausdruck der Trauer der Juden über die bitterste Zeit ihrer Geschichte. Ein „Holocaust-Mahnmal“ in „Berlin“ dagegen müsste die Fassungslosigkeit der Deutschen über „Auschwitz“ ausdrücken: Dieses Mahnmal an der Spree sollte spezifisch für die Deutschen da sein, und die sollten weder Staatsoberhäupter noch andere Gäste drängen, dorthin zu gehen.

So dachten deutsche Besucher damals.

Aber die israelischen Gastgeber schlugen ganz andere Töne an. Nach „Yad Vashem“ wurde die deutsche Delegation von einem Mitarbeiter der Stadt „Jerusalem“ empfangen. Der erfuhr, dass den Gästen die Städte „Berlin“ und „Potsdam“ bekannt waren. Auf Deutsch intervenierte er da: „Kennen Sie den? – Ein reicher Mann geht in ‚Berlin‘ am Kurfürstendamm in einen Autosalon, um einen Mercedes zu kaufen. Der Verkäufer empfiehlt: ‚Nehmen Sie den hier. Da sind Sie in einer halben Stunde in Potsdam.‘ Darauf der Kunde: ‚Potsdam – was soll ich denn in Potsdam?‘“

Die Deutschen verstanden: Das Leben geht weiter.

(1993, 1996)

2. USA

Die USA galten lange Zeit in Deutschland als das gelobte Land schlechthin. Insbesondere das Hochschulwesen galt als vorbildlich. Und Experten waren sich sicher, dass die USA der Nabel der Welt sei, wenn es um ihr Gebiet, die Drogenbekämpfung, ging. Schließlich war es eine Sensation, dass diese Siegermacht von einst sich aufwändig einem eigentlich sie gar nicht betreffenden Thema, dem Nationalsozialismus, zuwandte.

Hutschenreuther in Boston

Also spürten viele und unterschiedliche einheimische Experten den Ruf „Auf nach Amerika! Alle pilgerten über den „großen Teich“.

Ein parlamentarischer Wissenschaftsausschuss aus Deutschland hatte Gutes über die Vereinigten Staaten von Amerika gehört. Er hatte sich sogleich auf den Weg in die USA gemacht. Es ging nach Massachusetts2. Dort wollten die Besucher lernen, wie man Hochschulen auf Niveau brachte. Frau Dr. Schlechter war Vorsitzende dieses Ausschusses. Der etwa zehn Jahre jüngere Abgeordnete Andor Stolp war Mitglied dieses Gremiums.

Die Abgeordneten landeten in „Boston“. Im dortigen Hotel „Colonade“ fand ein erstes „Briefing“ durch den deutschen Generalkonsul statt. Nach der Besichtigung vom „Freedom trail“, von „Quinci Market“ und vom „Common“ hatten die Volksvertreter schnell gelernt, dass die USA in dieser Gegend ihre ersten Schritte getan hatten. Die Besucher folgten einer Einladung eines amerikanischen Politikwissenschaftlers, der einst Mitglied des „American Council on Germany“ gewesen war. Diese Einladung zur Party im Garten hatte sie, Frau Dr. Schlechter, organisiert. Es gab Bowle, Erdbeeren und Krabben. Die Abgeordneten merkten: Sie waren in einer anderen Welt.

Dass hier die Uhren anders gingen, erkannten die Volksvertreter erneut, als sie in einem Restaurant in „Boston“ sonntags am Vormittag Bier trinken wollten. Es war elf Uhr. – „Männer!“, hatte Frau Schlechter gedacht, da klärte die Kellnerin schon die Besucher auf: „In Massachusetts sagt das Gesetz, dass erst ab zwölf Uhr Bier verkauft werden darf.“ Also mussten die durstigen Besucher warten. Frau Dr. Schlechter hatte das insgeheim gefreut.

Europäisch erschien den Besuchern später dagegen eine Art Wochenmarkt hier in „Boston“. Wie zu Hause hatten Händler auf der Straße Stände aufgebaut und boten ihre Waren (meist Landwirtschaftsprodukte) preis. Allerdings kamen den Beobachtern Zweifel, als sie einen schwarzen Fischhändler entdeckten: Ein potentieller Kunde näherte sich seinem Stand, zeigte auf einen bestimmten Fisch und fragte: „What’s that?“ – „It’s fish!“, bekam er zur Antwort und trollte sich daraufhin beleidigt vor sich hinmurmelnd.

Sehr ausführlich waren die Besuche und Gespräche beim „Massachusetts Institute of Technology“ („MIT“), der ersten Adresse in der Wissenschaftswelt jener Tage. Frau Schlechter staunte, wie spärlich die Arbeitszimmer auch hochberühmter Wissenschaftler eingerichtet waren und dass diese immer wieder durch Veröffentlichungen oder berufliche Erfolge ihrer Absolventen ihre wissenschaftliche Klasse beweisen mussten. Sie tauschte sich darüber mit Stolp aus.

Die amerikanischen Wissenschaftler stellten ihren Besuchern ihre Arbeiten vor. Dabei konnten die Gäste jenen Amerikanern, die aus dem Norden der USA kamen, durchaus folgen, den Südstaatlern jedoch weniger. Ihr Dialekt war für europäische Ohren schwer verständlich. Dr. Schlechter und Stolp sahen sich an, schmunzelten darüber und fanden, dass sie irgendwie auf einer Wellenlänge lägen.

 

Der Ausschuss wurde auch vom Senat und Repräsentantenhaus von Massachusetts empfangen, schließlich kam er aus dem freien Deutschland. Die Amerikaner wollten vor allem etwas von der „Insel der Freiheit im roten Meer“ („Berlin“) hören. Dem Gouverneur überreichte die Ausschussvorsitzende ein passendes Gastgeschenk. Es war die Nachbildung der „Freiheitsglocke“, hergestellt von der alten Berliner Porzellanmanufaktur „KPM“. Dem Gouverneur kamen Tränen der Rührung, und er rief: „Oh, Hutschenreuther!“ Dann fasste er sich und tat seinen Ärger über den „Boston Globe“ kund. Ständig würde er in diesem Blatt falsch dargestellt. Wenn das so weiter ginge, würde er die Zeitung „verbieten“.

Der Herr hatte einen Witz gemacht, denn er wusste natürlich, dass kein Gouverneur in den USA eine Zeitung verbieten konnte.

Der Ausschuss besuchte den Campus der berühmten Harvard-Universität. In einem gewaltigen Lesesaal imponierte es Stolp, dass auch seine eigenen wissenschaftlichen „Werke“ vorhanden waren. Er zeigte es voller Stolz seiner Ausschussvorsitzenden, und die nahm es wohlwollend zur Kenntnis.

In New York schließlich besichtigten die Parlamentarier die „State University New York“ und die „New School of Social Science“. „Schließlich wollen wir auch sehen, dass es in den USA nicht nur Eliteuniversitäten gibt. Für den wieder bevorstehenden deutschen Hausgebrauch wird das sehr beruhigend sein!“, ätzte Stolp, und Frau Dr. Schlechter fand, dass er Recht hatte.

Knallschoten in Orlando

Es ging die Kunde, die Vereinigten Staaten von Amerika könnten nicht nur Demokratie und Ökonomie besser als die Europäer, sondern auch die Erzeugung, den Konsum und die Bekämpfung von Drogen. Also pilgerten der Drogenbeauftragte einer deutschen Großstadt und sein Chef nach „New York“, „Washington“ und „Miami“, um die „Szenen“ dort zu studieren.

Die Sache fing komisch an: In „New York“ wollten die Amerikaner den Drogenreisenden aus Europa die Ankunft erleichtern, und so ließen sie deren vorher genau beschriebenes Gepäck vor dem sonstigen der Passagiere eines Riesenflugzeuges sofort in deren Hotel bringen. Als auch die „Drogenreisenden“ selber endlich im Hotel angekommen waren, öffnete der Vorgesetzte des Beauftragten seinen Koffer und – staunte: Das war nicht sein Gepäck, denn statt Hemden, Socken, Unterhosen und Schlipsen war darin Seifenpulver verstaut: X Pakete.

Der herbeigeeilte Beauftragte witzelte: „Das ist bestimmt alles getarntes Heroin!“ Doch der Vorgesetzte hatte schon die Fluggesellschaft informiert, und dort hieß es: „Da müssen wohl zwei gleiche Koffer vertauscht worden sein. Forschen Sie doch im Koffer bitte nach einer Adresse des Besitzers.“ Die Adresse wurde gefunden: „Das ist der Koffer von Herrn Meyer aus ‚Nürnberg‘. Der fliegt nach ‚Orlando‘ und ist noch völlig ahnungslos.“ – „‚Orlando?‘“ – „Ja“, kam die Antwort: „Kennen Sie das nicht: Da fliegen doch die Knallschoten alle hin!“

Nachts um vier stand ein livrierter Schwarzer vor der Hotelzimmertür, hielt einen Koffer in der Hand und erklärte mit breitem Grinsen: „Your luggage, Sir!“ Alles war wieder gut. – Aber was hatte der Herr Meyer aus „Nürnberg“ mit dem vielen Waschpulver in „Orlando“/Florida eigentlich vorgehabt?

Die Fachgespräche in „New York“ waren wenig ergiebig. Hier gab es wie zu Hause Jugendheime, in denen auch „gekifft“ wurde. Amerikanische Sozialarbeiter berichteten von ihren Kämpfen dagegen und von ihrer Hilflosigkeit. Es war wie zu Hause; Neues zu lernen war hier nicht.

Beim Laufen zwischen den Hochhäusern der großen Stadt verspürten die Besucher jedoch die Kälte. Es war Februar, und eiskalter Wind pfiff unablässig durch die Straßenschluchten. Diese waren menschenleer. Februar in „New York“: Kein Tourist war zu sehen!

Weiter ging es nach „Washington“, in die Hauptstadt.

Auch hier gab es zunächst eine Überraschung: Die beiden waren von der deutschen Bundesregierung in einem pittoresken Hotel untergebracht. Nach dem Frühstück stürmte der Beauftrage zu seinem Chef: „Mir ham’se die Aktentasche geklaut!“ – Was nun? Polizei holen, das Hotelpersonal alarmieren? Schließlich landeten die beiden am Schreibtisch des Hoteldirektors. Der fragte: „O.k.: Was war ihre Tasche wert?“ Der Beauftragte zögerte, stammelte dann aber: „Vierhundert Dollar!“ Daraufhin öffnete der Direktor einen Safe, blätterte vier Einhundert-Dollarnoten hin und erklärte: „Damit ist die Sache erledigt! Keine Polizei!“ Hinterher räsonierte der Beauftragte: „Hätt‘ ich doch achthundert Dollar gesagt!“ – In Wirklichkeit war die Aktentasche nicht viel wert, und innen drin hatte sich nur belangloses Zeug befunden…

Dann ging es zum Dienstgeschäft. Die „Drogenforscher“ aus Deutschland kamen in ein Washingtoner Ministerium und wurden einer Delegation aus Argentinien vorgestellt. Die hätten das gleiche Anliegen wie die Deutschen. Zusammen mit den Argentiniern wurden die beiden in einen Konferenzsaal gebeten. Dort trat ein Herr auf, der den Angereisten messianisch erklärte, wie die USA nunmehr das Drogenproblem beseitigen würden. Die Argentinier sagten gar nichts, und die Deutschen sahen sich fragend an: „Was folgt daraus für uns zu Hause?“

Abends gingen beide mit der „Aktentaschenbeute“ in ein feines Fischrestaurant, vor dem Wachmänner darauf achteten, dass keine „homeless people“ eintraten. Der linke Drogenbeauftragte aus einer deutschen Großstadt bemerkte beim Schmausen: „Ist doch schön, dass sie uns hier die Penner vom Leib halten!“

Die dritte Station auf dem Drogentrip war „Miami“. Hier war es warm wie in Deutschland im Sommer. Den Gästen wurde erklärt, deutsche Fahnder seien hier stationiert, um den Amerikanern zu helfen, den Anbau von Drogen in Südamerika zu verhindern.

Dann erhielten sie eine Einladung zu einer Gartenparty. Gastgeber war ein Flugpilot mit seiner Familie. Der Garten war durch einen übermannshohen Zaun geschützt. Er sollte wohl Insekten abhalten. In mehreren Reden machten die Amerikaner deutlich, es käme darauf an, Piloten mindestens vierundzwanzig Stunden vor einem Flug vom Drogenkonsum abzuhalten. Piloten seien nämlich besonders gefährdet.

Der deutsche Drogenbeauftragte sann darüber nach, wo es bei ihm zu Hause suchtgefährdete Piloten gab. Und als sie wieder im Flieger über dem Atlantik saßen, murmelte er vor sich hin: „Piloten kommen eigentlich selten in unsere Heime…“

Holocaust-Gedenkstätten

Die USA galten auch als vorbildlich im Gedenkwesen. Also pilgerten deutsche Beamte deswegen dorthin.3

Ende September wird es noch sehr heiß in „Washington“. Schon am Vormittag um neun stach die Sonne beträchtlich. Vor einem der trutzigen Museumsbauten aus grauem Feldstein standen Leute Schlange und warten auf Einlass. Sie waren leger gekleidet, in Shorts, Trainingsanzügen oder Jeans. Eine übergewichtige Frau trug sehr unvorteilhaft kurze Blümchenhosen, darüber ein straffes weißes T-Shirt. Es bildete sich eine Schlange bis zum hinteren Teil des Gebäudes, an dem ganz untypisch eine Backsteinfassade zu sehen war, die deutsche Besucher an ein wilhelminisches Gymnasium erinnerte.

Die Menschen warteten auf den Einlass in die Räumlichkeiten des „United States Holocaust Memorial Museum”. Sie wollten sich informieren über die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa durch die Nationalsozialisten. Ihnen standen anstrengende Stunden bevor. Als sie endlich eingelassen wurden, kamen sie in eine lichte Halle, deren Wände aus rotem Backstein gemauert waren. Über der Halle befand sich ein Stahl-Glas-Dach. Diese Architektur erinnerte an preußische Industriebauten. Inmitten der Halle war ein großer „Counter”, in dem vier Personen damit beschäftigt waren, die Besucher zu beraten und zu bedienen. Geradezu befand sich eine schwarze Marmorwand mit der Aufschrift „You are my Witnesses”. Rechts ging es über eine Art stählerne Zugbrücke durch ein großes Tor, hinter dem die Ausstellung “Remember the Children – Daniels Story” wartete.

Das Museum insgesamt war darauf angelegt, durch individuelle Bezüge Betroffenheit beim Besucher zu erzeugen. Die Geschichte Daniels sollte dessen Weg vom Elternhaus in die Vernichtungsmaschinerie darstellen und tiefer haften bleiben als Zahlen und Statistiken über den Völkermord: Das war die Philosophie der Ausstellung, durch die sich (in Halbdunkel gehüllt) die Menschen bewegten. Sie schritten durch die Weimarer Zeit, sahen etwas über die Machtergreifung, das große Pogrom, den Weltkriegsbeginn, die KZs, die Eroberungen der Wehrmacht, die Vernichtungslager, die Gasöfen.

An einer Stelle wurden Filme über besondere Grausamkeiten gezeigt: Euthanasieprogramme und Mordkommandos. Die Monitore waren in den Fußboden eingelassen, und um Kindern unter den Besuchern den Anblick zu ersparen, hatte man kleine Sichtmauern von etwa einem Meter Höhe errichtet, so dass die Vorführungsplätze wirkten wie kleine quadratische Kästen. Dort scharten sich Menschen traubenweise. Sie verfolgten stumm und lange die Bilder vom Morden und Quälen.

Stundenlang besichtigten die Besucher, die wohl aus allen Teilen der USA gekommen waren, die Ausstellungen. Sie wurden physisch und psychisch stark gefordert und waren am Ende erschöpft. Dann konnten sie in einer Meditationshalle ihren Gedanken nachgehen. Einige (besonders Kinder und Jugendliche) suchten Nebenräume auf, wo sie sich an Computer setzen konnten und beispielsweise unter dem Stichwort „Ravensbrück” vieles über das frühere Frauen-KZ erfuhren. Meist jedoch, so schien es, mochten sie etwas wissen über die Täter, und so gaben sie Namen wie „Eichmann”, „Himmler” oder „Heydrich” ein.

Selten kamen Besucher in die zahlreichen Büros, Archive und Seminarräume, die sich hinter dem Museum befanden. Das Holocaust-Museum beherbergte eines der größten Archive über die Nazi-Verbrechen und war zu einer der wichtigsten Forschungsstätten über das Thema in der Welt geworden.

Inmitten der Hauptstadt der Supermacht war dieses Museum eine Provokation. Es behandelte Verbrechen, die von einem anderen Volke ausgegangen waren. Es erzeugte, gestaltet mit der hohen Professionalität amerikanischer Experten, Betroffenheit.

Die Betroffenheit ging von Inszenierungen aus, nicht von Authentizität. Der deutsche Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, war seinerzeit der Eröffnung des Museums ferngeblieben, weil es nicht die demokratische Nachkriegsgeschichte Deutschlands behandele. Demgegenüber sagten die leitenden Mitarbeiter der Einrichtung, ihre Intentionen würden sich überhaupt nicht gegen oder für eine Nation richten, sondern ihnen sei es darum gegangen, zu zeigen, wie aus einer zivilisierten Gesellschaft das millionenfach organisierte Staatsverbrechen hervorgehen könne.

Kritiker des Museums in den Vereinigten Staaten behaupten, es sei geschaffen worden als Zugeständnis der amerikanischen Politik an die Juden in Amerika und an den Staat Israel, den die amerikanische Politik ansonsten zu einem Arrangement mit den Arabern drängte. Aufrichtiger wäre es gewesen, so ist zu hören, wenn die USA Museen und Gedenkstätten gleicher Bedeutung geschaffen hätten, in denen die Geschichte der Unterwerfung der Indianer oder die der Unterdrückung der Schwarzen in den Vereinigten Staaten selber behandelt worden wären. Das Holocaust-Museum sei schon deswegen unglaubwürdig, weil es die Mit-Verantwortung der Vereinigten Staaten am Geschehenen nicht hinlänglich behandelt habe, denn diese hätten es in der Hand gehabt, durch Bombardierungen die Judendeportierungen zu unterbinden.

Schließlich waren in den Vereinigten Staaten Stimmen jener zu hören, die behaupteten, der Holocaust hätte gar nicht stattgefunden. Er sei eine Propaganda-Lüge gegen Deutschland und seine Alliierten des Zweiten Weltkrieges.

Der „Holocaust-Deny” sei sein geringstes Problem, sagte am Abend der stellvertretende Direktor des Museums. Es sei gerade „Laubhüttenfest“, und er hätte eine kleine Gesellschaft zu sich nach Hause eingeladen. Das Laubdach habe sein Sohn über der Gartenterrasse errichtet. Leute, die den Holocaust leugneten, konnte er so wenig ernst nehmen wie solche, die behaupteten, die Sonne drehe sich um die Erde. Geradezu grotesk jedoch fand er die deutsche Regelung, die Holocaust-Lüge zu bestrafen.

Im Übrigen sei er sehr dafür, in den USA vergleichbare Einrichtungen seiner Institution zu schaffen, die sich mit dem Schicksal der Indianer und der Schwarzen auseinandersetzten. Auch müsse weiter erforscht werden, wann die US-Administration von den Vernichtungslagern gewusst habe und ob es ihr möglich gewesen sei, das Leiden vieler Menschen zu vermeiden.

 

Was bekannt war, das habe man gezeigt: So zum Beispiel die Geschichte des Schiffes „Sankt Louis“, das mit achthundert Flüchtlingen an Bord nach Amerika gekommen sei und dort abgewiesen wurde mit dem Resultat, dass keiner der achthundert Flüchtlinge überlebt habe.

Das Holocaust-Museum in „Washington“ habe einen wichtigen Auftrag. Die Menschen hier wüssten viel zu wenig über den zweiten Weltkrieg.

Die Laubhüttengesellschaft verlegte ihren Platz nach dem Mahl in das Wohnzimmer, rund um einen großen Tisch. Draußen wurde es kühl. Wieder war der Direktor am Reden. Es freue ihn, dass so viele Menschen in sein Museum kämen. Aber wenn er dann die Menschentrauben an den Vorführungskästen der Horrorszenen beobachtete, wie die Besucher dort förmlich kleben blieben, fragte er sich, ob einige Besucher aus reiner Sensationslust ins Museum gekommen waren, in der Hoffnung, hier den „Kick” zu erhalten, den ihnen das Fernsehen trotz aller Brutaloszenen nicht mehr vermitteln konnte. Wenn er nur wüsste, ob und wie sich seine Besucher kognitiv und emotional durch das Holocaust-Museum veränderten…

Das Holocaust-Museum war in „Washington“ eingebettet in eine allgemeine Museumslandschaft. Nicht weit entfernt befand sich das „National Museum of American History”, ein eher folkloristisch aufgezogenes Unternehmen. Hier war eine Ausstellung zu sehen über „What Things Are Made of and Why”. Es herrschte der gleiche Andrang wie im Holocaust-Museum, es war das gleiche Publikum im Freizeit-Outfit. Hier drängelten sich die Leute zum old fashioned „Post-Office” aus Holz mit einer kleinen Veranda davor, auf der gerade eine kleine Bank, ein gefülltes Salzfach und die Fahne „Stars and Stripes” Platz hatten. Western-Zuschauer kannten das Bild wie aus eigenen Kinderzeiten.

Ein „Tourmobile” (ein Bus mit offenen Scheiben und Anhänger) brachte die Besucher „Washingtons“ von einer Sehenswürdigkeit zum nächsten Museum, und an jeder Station standen sie brav Schlange und warteten, bis sie an der Reihe waren – die Oma im dunkelblauen Freizeitanzug, der Rentner mit seinem quergestreiften Poloshirt und der Baseballkappe dazu sowie all die anderen.

War nicht die Hauptstadt „Washington“ überhaupt eine Ansammlung von Gedenkstätten? Im Mittelpunkt ragte der Obelisk des „Washington Monuments“, in Ost-West-Richtung standen sich das „Capitol“ und das „Lincoln Memorial“ gegenüber, in Nord-Süd-Richtung das „Weiße Haus“ und das „Jefferson-Memorial“. Am vierten Juli, dem Nationalfeiertag, ging es fröhlich zu. Die historischen Stätten wurden von einer bunten und heiteren Menge mit Beschlag belegt, und sogar das „Weiße Haus“ war an diesem Tage zu besichtigen.

Die Fröhlichkeit schlug um in feierlichen Ernst am „Mahnmal zur Erinnerung an die Vietnam-Veteranen“. Eine lange schwarze Mauer, eingepasst in die Landschaft der „Mall” enthielt viele Namen von im Vietnam-Krieg gefallenen US-Soldaten. Freunde und Verwandte aus allen Staaten der USA waren hierher gepilgert, um ihrer gefallenen Menschen zu gedenken. Sie taten dies, indem sie Militärstiefel des Toten an jene Stelle legten, wo der Name eingraviert war. Sie legten Whisky-Flaschen, Bibeln, Fotos der Lieben nieder, Lieblingsbücher. Und viele waren dabei, die Eingravierungen abzupausen, damit sie diese mit nach Hause nehmen konnten. Andere hielten respektvoll Abstand von jenen, die so ihrer Lieben gedachten. Hier empfand man: Ein Denkmal, eine Gedenkstätte kann authentisch sein, auch wenn sie inszeniert wurde. Die trauernden Menschen schufen eine Authentizität, wie sie anderswo nicht erreicht wurde.

In der Mega-Stadt „Los Angeles“ war dergleichen nicht möglich. Hier befand sich das „Toleranz-Museum“, dessen Eröffnung eine ähnliche Resonanz hatte wie die des „Holocaust-Museums“ in „Washington“. In der unendlichen Straßen- und Häuserlandschaft von „L.A.” an einer Kreuzung, hinter Mauern und Stahlzäunen könnte sich auch eine kleine Fabrik befinden, ein Supermarkt oder ein Kino. Die Besucher kamen spärlich. Direkt gegenüber dem Gelände, auf dem sich auch eine kleine Mauer mit den Namen der in Europa untergegangenen jüdischen Gemeinden befand, prangte ein Schild der „Coast Federal Bank”. Dahinter sah man Laternenmasten, reichlich windschiefe Oberleitungen und Häuserkästen, manche als Hochhäuser gebaut.

Im Innern dieses Hauses der Gedenkstätte wurde man wie in einem Schneckengang durch eine Geschichtsröhre geführt: Aus der Weimarer Zeit ging man von Station zu Station, passierte das zerstörte „Städtl“ und endete schließlich in der Gaskammer. Den Szenen ausweichen konnte man nicht. Da vor und hinter dem jeweiligen Bild kein Licht war, konnte und musste man erst dann weiter gehen, wenn der aus Lautsprechern kommende Text geendet hatte, das Licht erlosch und die nächste Station erleuchtet wurde.

Das Museum vermittelte eine zweifache Moral: Einmal wurde in der geschilderten Weise der Holocaust dargestellt. Zum andern war diesem Hauptteil des Museums eine „Ouvertüre“ vorangestellt, die sich direkt auf die USA bezog. Das Motto lautete: „One Nation, Many Peoples”. Die europäische, asiatische, afrikanische, jüdische und indianische Abstammung der Amerikaner wurde gezeigt und mit der Frage versehen: „Are we real or stereotypes?” In Comics wurde der kurze Weg von rassistischen Sprüchen zu Krawallen mit tödlichem Ausgang dargestellt. Es war ein spezifisches Thema von „Los Angeles“, das unter dem Trauma damals jüngster Krawalle litt.

Der auf die Gegenwart bezogene Teil der Ausstellung wirkte auf den Besucher originell und aufklärerisch. Wo es sich hauptsächlich mit dem Nationalsozialismus beschäftigte, erschien das Dargestellte weit weg – zeitlich und räumlich. Auch umlagerte das Museum ein Hauch von Provinz und Sektierertum: Hier spürte der Besucher nicht die vom Hauptstadtboden ausgehende Relevanz des Gezeigten und bemerkte die Relativität des Projektes, die sich aus der Tatsache ergab, dass Private die Träger der Einrichtung waren.

Doch das war die Perspektive der Besucher aus Deutschland, welche die Wirkung auf die Region schwer beurteilen konnten.

Auf die Frage, ob die Holocaust-Museen in den USA ein Modell für Deutschland seien, antwortete Ignatz Bubis: „Ähnliches ja, Gleiches nein.” Und: „Hier war der Galgen, wo die Menschen gehängt wurden, und hier waren die Pritschen, wo die Menschen geschlafen haben, und hier war die Küche, wo sie mit einer Wassersuppe verpflegt wurden, und hier waren die Massengräber.” Ignatz Bubis plädierte dafür, in Deutschland keine Museen nach amerikanischem Vorbild zu errichten, sondern „Dokumentationsstätten”, die gesellschaftliche und historische Zusammenhänge erläutern.4 Das war wohl wahr. Doch das Beispiel USA zeigte auch, wie sehr eine Gedenkstätte in einer Hauptstadt zu einer emotional beeindruckenden Institution werden und eigene Authentizität erzeugen konnte.

So sahen es die Besucher aus Deutschland. Mittlerweile hat die Globalisierung auch zu Hause eine Vielfalt geschaffen, die die Frage aufwirft, ob Reisen auch ein Blick in die Zukunft sein können. Ist das, was die Besucher seinerzeit in den USA sahen, später Realität auch in anderen Teilen der Welt geworden?

(1999)