Stolps Reisen: Damals und heute, von den Anfängen bis zum Massentourismus

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9. Massentourismus

Schließlich wurde das Reisen diversifiziert und spezialisiert. Auf den Flughäfen machten sich Urlaubsflieger breit. Billigflieger traten auf den Plan. Die Flughäfen (von vermeintlichen Kennern „Airports“ genannt) platzten aus allen Nähten. Die „Abfertigung“ von Touristen wurde immer weiter rationalisiert, Speisen und Getränke wurden selbst auf Langstrecken selten. Manche Passagiere fragten sich schon, ob sie demnächst selber steuern und fliegen müssten. Derweil ergaben sich Menschen, die sonst für ihre Persönlichkeitsrechte kämpften, in immer peinlicher werdende „Sicherheitskontrollen“. Der „Massentourismus“ war entstanden.

Würde es immer so weitergehen, oder war die Spitze erreicht? „Thomas Cook“ und „Air Berlin“ waren Vorboten: Auch der kapitalistisch organisierte Massentourismus war vor Krisen und Insolvenzen nicht gefeit.

Doch in Deutschland gab immer noch genügend viele Menschen im Rentenalter, die nun endlich die Welt sehen wollten, um daheim nachher wieder ihr Elend zu bejammern.

Darüber hinaus wuchsen stets neue Generationen heran. Auch sie wollten fremde Orte und Landschaften kennen lernen, auch sie wollten nach Sevilla, New York und auf die Kanaren sowieso.

In „Frankfurt“ am Main druckte die Europäische Bank derweil unentwegt Frischgeld, das man bei Reisen besonders leicht verprassen konnte.

Der Tourismus boomte. Doch das zerstörerische Corona lauerte schon.

10. Ende des Reisens?

„Otto Normalverbraucher“ reiste einst (wenn auch selten) selbst in dunkelsten Zeiten. Die Nazis hatten eine eigene Tourismusorganisation: „KdF“ („Kraft durch Freude!“). Der Urlaub der „Volksgenossen“ sollte reguliert und überwacht werden. Bei Kriegsbeginn 1939 musste man das allerdings reduzieren.

„Private“ Reisen gab es dennoch. Menschen reisten mit vollgestopften Pappkoffern, Leiterwagen, trugen lange Mäntel und verzichteten niemals auf ihre Schlapphüte oder Kopftücher. Zur Bahnfahrt berechtigten diejenigen, die es sich leisten konnten, kleine Pappkärtchen, auf denen Ausgang und Ziel der Reise vermerkt waren. Diese „Fahrkarten“ konnten am „Schalter“ der Bahn erworben werden, und ein Schaffner im Zug knipste sie ab.

Ziel der Fahrt waren oft einsame und kleine Bahnhöfe, von denen aus es zu Familienangehörigen ging. Manchmal marschierten die Reisenden endlose Alleen entlang. Rechts und links davon waren Felder, die abgegrenzt waren durch Straßengräben. Irgendwann tauchte am Horizont schließlich ein kleiner Ort auf: ein Dorf oder gar ein Städtchen. Im Winter lagen die Häuschen im Schnee; im Sommer flatterte Federvieh über den Anger. Die Alten beäugten die angekommenen Fremden misstrauisch.

Die Besucher schliefen meistens bei ihren Verwandten (wo denn sonst?). Unter den Gästebetten standen Nachttöpfe oder Schüsseln, und wer größeres verrichten wollte, musste im Nachthemd über einen Hof gehen und das „Plumpsklo“ aufsuchen. Das war eine Bretterbude, in der ein Querbalken angebracht war, in dessen Mitte sich ein großes Loch befand. Die Holztür vor diesem „Donnerbalken“ war mit einem neckisch eingeschnitzten Herz verziert.

Im „Gästezimmer“ gab es kein Radio, kein TV, kein Telefon, keine Dusche, kein Safe – nichts dergleichen. Stattdessen stand auf einem Schränkchen eine weiße Emaille-Schüssel mit dunkelblauem Rand und daneben eine ebensolche Kanne, die mit Wasser gefüllt war. Hier konnte der Gast seine Morgentoilette verrichten, und wenn er Glück hatte, waren auch Handtuch, Seife und ein Spiegel da.

Angereist kamen die Besucher meist aus größeren Städten, und nach drei Tagen reisten sie wieder ab, denn: „Besuch und Fisch fängt vom dritten Tag an zu stinken.“ Für die Abreise war wichtig, den Fahrplan der Bahn zu kennen und die Umsteigebahnhöfe im Kopf zu haben.

So reisten Menschen vor Erfindung des modernen Tourismus. Das war der industrielle Massentourismus, dem Corona ein jähes Ende setzte.

Ist das Reisen damit am Ende?

Die Gründe zu reisen sind vielfältig. Es wird wiederkommen. Aber wer weiß, in welcher Form?

Wie immer: „Der Vorhang geht zu und alle Fragen bleiben offen.“

II. Alte Heimat

23 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besuchte Andor Stolp1 die Heimat seiner Vorfahren. Als Kind war er hier gewesen; nun gehörte das pommersche Dorf zu Polen. Andor war schon in der großen Stadt zur Welt gekommen. Diese Reise war ein Geschenk an Andors Vater.

Der hatte Pommern zwischen den Weltkriegen verlassen. Als fünfter Sohn hatte er keine Chance für sich in der alten Heimat gesehen. In der großen Stadt schaffte er es zum Kriminalbeamten.

Bei Familientreffen war aber immer die Rede von der alten Heimat – oft sehr direkt. Kaufte sich eine Schwester des Vaters neue Schuhe, hieß es:

„Pommersche Beene passen nicht in Pariser Schuhe!“

Erinnert wurde an die Zwergschule, in der alle den Spruch gelernt hatten:

„Der Kaiser ist ein guter Mann.

Er wohnet in Berlin.

Und wär das nicht so weit vor hier,

So führ’ ich heute noch hin.“

Auch dass man Ostern sehr früh aufstand, um Osterwasser vom See zu holen, wurde erinnert. Die fauleren Familienmitglieder bekamen es zu spüren:

„Stiep, stiep Osterei,

Gibst Du mir kein Osterei,

Stiep ich Dir das Hemd entzwei!“

Der Tanz der „Mudder Witsch“ war unvergessen:

„Bald up de Hacken,

Bald up de Teihn,

Oh, Mudder Witsch,

Wie geiht dat wunderschön.“

Mittags gab es Pellkartoffeln. Für ihre elf Kinder und ihren Ehemann stellte die alte Mutter eine dampfende Schüssel auf den Tisch. Jeder piekte, und wer schnell mit der ersten Portion fertig war, konnte „Nachschlag fassen“. Die Langsamen schauten in die Röhre. Es galt in der Familie als sicher, dass alle ihre Mitglieder hierbei das schnelle Essen (fast Verschlingen) gelernt hätten.

Kamen „Zigeuner“ ins Dorf, flohen die Menschen aus ihren Häusern, denn sie hatten Angst vor den Fremden.

Strom gab es nicht, und die schönste Zeit war die „Schummerstunde“, wenn der Tag in die Nacht überging. Da saßen alle vor dem Haus, um sich gegenseitig Schauergeschichten zu erzählen.

Vom Reisen hatte man offensichtlich nicht viel gehalten, denn dies war klar;

„Ob Ost, ob West,

Tu Huus is am best.“

Dieses alte Pommern gab es nicht mehr. Das deutsche „Rackow“ – das Dorf – hieß nun „Rakowo“, und die Stadt „Lubow“ war in „Lubowo“ umgetauft worden.


In Pommern

Mit seiner Ehefrau Silke und seinem Vater fuhr der 39-jährige Andor in die alte Heimat.

Der Vater schrieb das „Protokoll“:

„Um 15:00 Uhr sind wir am 22. 9. in Andors PKW über den Kontrollpunkt Dreilinden in Richtung Transitbahn gefahren, um den Berliner Ring zu erreichen. Es ist Vorschrift, diesen Weg zu nehmen. Man hat dadurch einen Umweg von ca. 90 km – zuerst Richtung Westen, dann nach Süden, um endlich nach Osten zu kommen. Es regnete stark und es blieb auch so, bis wir gegen 22:30 Uhr in Neustettin ankamen.

Die Einreisepapiere hatte Andor in einem Reisebüro in Berlin beschafft und dafür Visa, Zwangsumtausch in Zloty pp. pro Person ca. 120,- DM bezahlt. Auch Benzingutscheine waren darunter. Dann mussten wir für die Fahrt durch die DDR noch pro Person 5,- DM für die Ostvisa und 15,- DM für Autobahngebühren bezahlen.

Die Grenzkontrollen Dreilinden und Stettin – diesen Übergang wollten wir benutzen – verliefen ohne Schwierigkeiten. Ich nahm noch einen Geldumtausch von 50,- DM vor. Wir brauchten es aber nicht und konnten diesen Betrag wieder in DM zurücktauschen. Den Zwangsumtausch kann man nicht zurücktauschen. Das Geld muss man also ausgeben oder verschenken, da eine Ausfuhr verboten ist.

Am Kontrollpunkt Stettin versehen polnische und ostzonale Zöllner gemeinsam Dienst. Es wurde nun schon dämmrig, der Regen hörte nicht auf und nahm nachher noch an Heftigkeit zu. Hinter der Grenze wurden die ersten Benzingutscheine eingetauscht, und dann ging es über die Autobahn in Richtung Stargard/Pom. – so heißt es auch auf Polnisch. Andor saß die ganze Zeit am Steuer, Silke war ein guter Lotse, und so erreichten wir durch viele dunkle Wälder fahrend (keine Autos auf den Straßen, alles dunkel) den Stadtrand von Tempelburg – „Czaplinek“ – in Höhe des Bahnhofs. Von dort führt eine gute Straße – alle Straßen sind gut in Polen und gut beschildert – in Richtung Neustettin – „Sczecinek“.

Überall sind viele Fichten angepflanzt worden, und in Höhe von Schwarzsee sahen wir ein Schild ‚Rakowo 6 km‘. Also ist hier eine neue Straße, auch diese durch Fichten führend. Dann kamen Lubow – „Lubowo“, Pielburg – ‚Pilo‘, Jellin – ‚Jellino‘ – und schließlich Neustettin. Wir fuhren die Bahnhofstraße in Richtung Stadt, fragten dort in einem Hotel nach unserem Hotel, das uns in Berlin zugewiesen worden war und in dem wir nur Übernachtungskosten entrichtet hatten und fanden es auch bald. Ich meine, dass es an der Warschauer Straße lag und ‚Pomorski‘ hieß, sicher früher mal ‚Pommern‘. Bis zum See und zu den Parkanlagen waren es von hier ca. 100 m. In unmittelbarer Nähe war auch das Rathaus. Dies waren alles die alten Gebäude von früher. Ich kenne Neustettin nicht so genau von früher. Aber außer von ganz wenigen öffentlichen Gebäuden ist die Stadt wohl die alte. Es gibt eine Fußgängerzone, kleine unbedeutende Geschäfte, einen Laden, in dem man für DM Alkohol, Zigaretten, Parfüms kaufen kann. Für unser Geld ist dies billig (eine Flasche Wodka 2,50 DM). Die Ausfuhr ist natürlich, wie überall, beschränkt.

 

Am Sonnabend, 23.9., sind wir morgens über Jellin, Pielburg zunächst nach Lubow gefahren und hier zum Bahnhof. In Lubow stehen die Häuser wohl alle wie früher, keine Neubauten mit Ausnahme einer Gaststätte, schräg rüber vom früheren Gasthof. Als wir den Wagen dort parkten, sprach uns ein Mann in fließendem Deutsch an. Er hatte lange in Danzig und auch in Rackow gelebt. Durch ihn ließen wir uns Mittag bestellen – eine Tomatensuppe, Quetschkartoffeln, ganz wenig Fleisch (kleine Stücke wie Gulasch) und etwas Weißkohl. Dazu drei halbe Bier, ein Sodawasser: 85 Zloty. Umtausch in Polen ist 1:15. Ein Essen mit Getränken für uns kostet 2 DM; es hat aber auch nicht geschmeckt, und Fleisch soll es in Polen wohl selten geben. Das hat man auch in den Fleischgeschäften gesehen, wo die Leute lange anstanden und manche sich Strickzeug mitgebracht hatten, um vermutlich die Wartezeit zu überbrücken. Der Danziger erzählte uns u.a., dass es in Tempelburg und Neustettin keine Brauereien gibt, nur in Polzin ist eine, dass es in zwei Kasernen in Neustettin je eine polnische und eine russische Einheit gibt und dass in Groß-Born die Russen stationiert sind. Wir sahen in Lubow auch Russen.

In der Gaststätte Kratzke ist ein Kino. Der Bahnhof ist in allem unverändert: Im Warteraum ist ein defekter Kachelofen von früher, die Toiletten mit den Holzsitzen sind noch da, auch der Bahnsteig. Ich stelle mich vor den Wartesaal, Silke macht eine Aufnahme, und plötzlich waren ein Polizist und der Bahnvorsteher bei uns: „Dokumente!“ Der Vorsteher sprach deutsch: „Objekte fotografieren verboten, Film herausnehmen!“ Derweil notierte der Polizist unsere Personalien und ließ sich auch die Autopapiere zeigen. Ich wurde gefragt, wo ich früher gearbeitet hatte und so haben wir versucht, klarzumachen, dass wir nur eine Erinnerung an den Bahnhof mitnehmen wollten, von welchem wir früher nach Berlin gefahren sind und auch Andor sei als kleines Kind dort mehrmals abgefahren. ‚Fotografieren verboten, Film muss raus!‘ Immer wieder versuchten wir, das zu verhindern und dann meinten wir, dass wir ja das Bild nur vom Bahnhof ungültig machen könnten. Ich knipste in die Luft, darauf: Gut, Film kann drin bleiben! Ich glaube aber, die Polen haben bemerkt, dass wir sie übers Ohr gehauen haben, denn ich habe ja nur weitergedreht und mein Bild behalten. Als wir zum Wagen kamen, sprach uns wieder ein Mann in gutem Deutsch an und meinte, dass dort alles verboten sei.

Dann ging es nach Rackow. Bis zu den Fichten beidseitig Ackerland, dann bis zu Dohnichts Fichten. Dohnichts Gehöft steht nicht, auch die Mühle ist weg. Erste Aufnahmen am Transformatorenhaus: jetzt die Gehöfte Ost, Weier, Jahn, Radke, Passoth, Stolp links und rechts. Passoth ist ein Kaufmannsladen. Bei Erichs Haus fehlt vorn die Treppe, die Tür ist zugemauert. Dahinter hatte sich der Polizist, der dort wohnt, ein Bad eingebaut. Vorn an der Straße hier ist ein Lattenzaun.

Wir schauten hinüber und sahen einige Personen. Unser Haus, in dem ich geboren wurde, kam mir unscheinbar vor. Ich hatte es kaum erkannt. Eine ältere Frau holte aus dem Brunnen Wasser. Einen Zaun oder eine Mauer gibt es nicht. Ich konnte mit in die Küche kommen. Die Treppe nach hinten fehlt. Das Haus hat von außen kaum Farbe, auch die Tordurchfahrt ist ohne Farbe. Auf dem Hof sind dicker Morast und keine Wiese mehr – kein Blumengarten vor der Tür. Der Kirschbaum ist weg. Nichts ist erneuert. Es kam später noch der Großvater, und ich sollte mir alles genau ansehen.

Da wir uns nicht gut verständigen konnten, führte uns die Großmutter zur Bürgermeisterin in Meiers Haus. Sie vermittelte uns noch eine Besichtigung des Grundstückes Erich, und dort fragte man mich, ob wir Stolps seien und was Martha macht. Bei Meiers wurde ich nach Martha Bäskow-Hinterbrich – befragt. Die Scheune ist abgerissen, ca. 5 m weiter hinten neu aufgebaut. Der dicke Baum ist weg.

Alle Räume werden gezeigt. Rechts wohnen die alten Leute, links die jungen mit zwei Kindern. Die Böden sind alle ausgelegt – Fernseher, Zentralheizung. Alles ist sehr gut in Ordnung. Als wir fotografieren, baten sie um ein Bild. Wir haben die Adresse aufgeschrieben und werden eins schicken.

Erich war vor drei Wochen dort gewesen, auch andere Familienmitglieder.

Die Schule steht. Unterricht findet in Lubow statt. In der Schule ist ein Kaufmann, Maurers Gaststätte ein Kindergarten und gegenüber von Ost Fritz, Schaukeln, Klettergerüste pp.

An der Straße nach Bewerdick stehen alle Häuser. Bei Ferdinand Bäskow ist das Haus neu überholt – Stall pp wie früher. Auf einem Starkstrommast ist ein Storchennest zwischen Mauerers und Ziesemers, direkt an der Straße.

Der Friedhof ist bewaldet. Wir haben beim Absuchen keine alten Kreuze oder Tafeln gefunden. Der Weg zum Karzsee und Rackow Mühle ist beidseitig mit ca. 3 m hohen Fichten bewachsen. Golz‘ Grundstück ist weg. Der Karzsee ist ringsum mit Schilf und Fichten bewachsen, gen auso der Rackow- und der Kämmerersee. Ans Wasser kommt man kaum. Nur am Kämmerersee in der Kurve nach Bewerdick kann man ans Wasser. ....“

Hier endet der Bericht leider.

Nachtrag: An dem Abend nach dem Besuch in „Rackow“ gingen sie ins Hotel zu einer Tanzveranstaltung. Es gab gekochten Weißfisch in Aspik. Alkohol floss reichlich. Am nächsten Tag waren vor allem Vater und Sohn etwas duhn, aber mithilfe knallroter und saftiger Äpfel von „Meiers“ legte sich das allmählich. Alle kamen heil im heutigen zu Hause wieder an.

(1978)

1 Statt der tatsächlichen Namen wurden Pseudonyme eingeführt.

III. Vor Ort
1. Minister in der Lüneburger Heide

Seine allererste Reise machte Andor als 16-Jähriger mit einer Gruppe Gleichaltriger in die Lüneburger Heide. Das Jugendamt hatte das eingefädelt. Die Jugendlichen kamen in ein „Lager“, das aus Baracken bestand und von einer Dame geleitet wurde, die als „Tante“ anzusprechen war. Irgendwie war das Jugendamt politisch motiviert, denn kaum angekommen, mussten sie eine „Lagerregierung“ bilden, die den Urlaub regeln sollte. Die „Regierung“ wurde ganz demokratisch gewählt, und Andor erhielt so das Amt eines Ministers. Er war der Minister für Ernährung, musste also den Speiseplan mit der Lagerleitung abstimmen, die Essenszeiten an- und durchsetzen und dafür sorgen, dass genügend viele „Lunchpakete“ zur Verfügung standen, wenn ein Ausflug vorgesehen war. – Das war die erste und letzte Reise, auf der Andor ein „Regierungsamt“ ergatterte.

2. Dackel zwischen Hamburg und Bremen

Als Andor Student war, kannte er seine Silke schon. Sie studierte an derselben Universität wie er, allerdings ein anderes Fach.

Eines Tages entschlossen sich die beiden, eine Reise zu machen: Hamburg-Bremen und zurück. Aber wie? Die beiden hatten kein Auto, und Bahn oder Bus erschienen ihnen viel zu teuer. Was blieb übrig? –Trampen.

Am Ortsausgang von Hamburg standen zwei Studenten und winkten stadtauswärtsfahrenden Autos zu. Hielten welche, ging die Frage an den Fahrer: „Können Sie uns ein Stück mitnehmen Richtung Bremen?“ Einige konnten, aber immer nur ein Stückchen, nicht gleich ganz bis Bremen. Stück für Stück kamen Silke und Andor Richtung Westen voran, und wieder standen sie an der Landstraße. Da hielt ein Dreiradauto mit einer offenen Ladefläche hinten. „Da könnt Ihr rauf; ich fahre bis Bremen!“ Beglückt sprangen die beiden auf den Minilaster, da entdeckten sie, dass sie bei weitem nicht die einzigen Passagiere waren. Unendlich viele junge Dackel reisten mit. Und jeder von ihnen wollte den beiden Menschen die Ohren ablecken. Die ließen es schließlich geschehen, denn der Wagen sauste strickt nach Bremen, und an einen vorzeitigen Stopp war gar nicht zu denken.

Gründlich abgeschleckt kamen die Nachwuchswissenschaftler in der Weserstadt an. Als sie ihr Domizil, eine Jugendherberge, erreicht hatten, fragten sie sogleich, wo man sich das Gesicht waschen könne.

Der „Herbergsvater“ zeigte alles: die Waschräume, die Schlafsäle und die große Küche. Hier mussten die beiden Unmengen von Kartoffeln schälen, bevor es Abendessen gab.

Am nächsten Abend waren Silke und Andor wieder in Hamburg und wieder in einer Jugendherberge. Hier partizipierten sie am öffentlichen Nahverkehr der Hansestadt, denn alle zwei, drei Minuten schallte es vom nahe gelegenen Bahnhof herüber: „Landungsbrücken“, „Landungsbrücken“…

3. Ins Schulhaus

Andor und Silke Stolp wurden Kern einer richtigen kleinen Familie. Bald nach der Eheschließung kam Töchterlein Maria zur Welt; vier Jahre später war Johann da. Von nun an reisten sie zur viert. Sie fuhren im PKW über Land, Bundesstraßen und Autobahnen entlang. Vorne saßen die Eltern Silke und Andor – der Vater fuhr „den Wagen“– und im Fonds waren die lieben Kleinen. Spätestens nach fünfzehn Minuten Fahrzeit kam von hinten die Anfrage: „Sind wir bald da?“ Oder der Hilferuf: „Ich hab‘ Hunger!“ Oder: „Ich muss mal!“ Auch „Hör auf zu stänkern!“, war oft zu hören. Die Mutter versorgte den Nachwuchs mit psychischer oder physischer Zuwendung. Der Vater hatte das Radio eingestellt, hörte Nachrichten oder summte die Melodien des Senders mit.

Es ging hinaus in die Welt. Das Auto fraß Kilometer der Bundesstraßen. Fort war der heimatliche Ort, und neue Gegenden tauchten auf. Immer neues „Futter“ (Benzin) floss in den Schlund des Autos, und Tankwarte sprachen unbekannte Dialekte. „Wie weit wir schon sind! Das ist Freiheit!“ Vater Andor drehte das Radio noch lauter auf und sang bei allen Schlagern mit. Dann sendeten sie Kindergeschichten, und die Kleinen waren ganz Ohr. Die Route war auf der papiernen Landkarte vorgeplant. Nun waren die auf der Karte roten Linien graue Straßen, und was zu Hause Sekunden gedauert hatte – die Reise von A nach B – beanspruchteStunden. An manchen Kreuzungen wurde es knifflig: Wo sollte man fahren: „Rechts, links oder geradeaus?“ Die Mutter setzte die Brille auf, studierte die Karte, (das „verdammte Ding“!) und entschied über die weitere Route. Meist lag sie richtig. Die Gastgeber hatten die Betten schon gemacht.

Dann tauchten sie auf: das Meer oder die Berge. Unendlich weit zog sich der Ozean dahin, und im anderen Fall lockten die Gipfel. Die Hänge waren gefleckt – weite Wälder wechselten sich mit weißen Schneefeldern ab. Je höher die Berge waren, desto häufiger waren Schneefelder zu sehen, und statt des dunklen Grüns der Wälder waren nun immer mehr nackte graue Felsen zu sehen.

Andor und Silke verließen das Gefährt, schauten in die Runde, genossen die „ganz andere Luft“ und waren überglücklich, am Ziel zu sein: „Am Meer“ oder „In den Bergen“. Die Kinder indes maulten und waren müde geworden von der langen Fahrt.

„Nun aber ab zur Unterkunft!“ Ein altes Schulhaus war leer und wartete, oder die „Gasteltern“ in der „Privatpension“ warteten. Wo aber waren sie? Andor und Silke studierten die Zettel mit den Adressen, fuhren Straßen und Gässchen in den erwählten Orten ab, fragten nach dem Weg und erreichten schließlich das gewünschte Haus.

Im Schulhaus lag der Schlüssel unter dem Fußabtreter des Portals. Silke war es eingefallen, dass ihnen das zu Hause mitgeteilt worden war. Die Klassenzimmer waren zu Gästezimmern umgewandelt. Jeder Familie stand ein ehemaliger Klassenraum zur Verfügung. Die Gästefamilien stammten von überall her: Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bayern, und sogar Österreicher waren da. In den Klassenräumen standen keine Stühle, Bänke und auch kein Lehrerpult mehr, dafür Doppelstockbetten. Die Klassenschränke waren ausgeräumt und warteten auf die Garderoben und Wäsche der Gäste. Alle Schultafeln hingen noch, und zur Freude der Gästekinder waren die Kreidekästchen gefüllt. Die ehemaligen Jungentoiletten waren zu Badezimmern für männliche Feriengäste umfunktioniert worden – egal, ob groß oder klein. Für die weiblichen Besucher gab es die früheren Mädchentoiletten. Das Lehrerzimmer war geteilt, und wer wollte und es sich leisten konnte, mietete hier einen Aufenthaltsraum zusätzlich zum Schlafzimmer in den Klassenräumen.

 

Das Portal zum Schulhaus hatte stets geschlossen zu sein; alle Räume im Innern blieben dagegen unverschlossen – auch nachts. Den Schlüssel fürs Haus holte sich Familie Stolp anderntags im Rathaus beim Schulamt; dort war auch die Miete zu begleichen.

Vorher hatten die Stolps ihnen notwendig erscheinende Informationen bei Urlaubern eingeholt, die schon ein paar Tage vor ihnen gekommen waren und nun als Experten galten. Dazu saßen alle in dem ehemaligen Hausmeisterzimmer, das zum „Gemeinschaftsraum“ umfunktioniert war. Dort befanden sich auch Gläser für Saft, Wasser, Wein, Bier oder Schnaps, und manche „becherten“ nicht unerheblich. Badestellen und -zeiten wurden erkundet, Tipps für Ausflugsziele herumgereicht, und auch, wo der günstigste und nächstgelegene Einkaufsladen war, wurde hier mitgeteilt.

Silke und Andor fanden die anderen Urlauber sehr nett, nur zwei ältere Ehepaare saßen für sich und schienen aus der Reihe zu tanzen. Während die „Alten“ so dasaßen und den Abend genossen, tobten die Kinder in den Etagenbetten, stritten um ihre Schlafplätze: „Oben oder unten?“ Bald jedoch waren sie müde und schliefen ein.

Fürs Frühstück holte der Vater Milch, frische Butter und Brötchen aus dem annoncierten Laden, dazu kamen Teile des mitgebrachten Proviants, die Mutter entnahm dem Schulschrank das bereit stehende Plastikgeschirr und dann wurde das Frühstück an dem Tisch eingenommen, den das Schulamt in die Mitte des Raumes gestellt hatte. Abgewaschen schließlich wurde in der ehemaligen Mädchentoilette.

Dann begann der Urlaub!

Um zehn Uhr zog die ganze Familie zum Strand, bepackt mit allerhand Utensilien: Decken, Mützen, Schirm, Crémes, Essen, Getränke, Kofferradio und Buddelzeug. Die „Alten“ fläzten sich im Badedress auf eine Decke, und die „Jungen“ buddelten im weißen Sand, schleppten Wasser herbei und hielten Ausschau nach Altersgenossen. Immer wieder gingen besorgte Blicke der Eltern zum Himmel hin mit der bangen Frage im Hinterkopf: „Wie wird das Wetter?“

Das Wetter war das „A“ und „O“ der gesamten Reise. In Mitteleuropa regnet es bekanntlich oft, und dann ist an Baden oder Wandern nicht zu denken. Solche Tage können sehr lang und langweilig werden. Alle sind dann drinnen – im Schulhaus, in einer Kneipe oder in Geschäften. Spiele wie „Mensch ärgre Dich nicht“, „Scrabble“ oder „Uno, uno“ sollen die Zeit vertreiben. Aber die Ferienwilligen werden trotz allem allmählich griesgrämig. Hinterher, wenn der Urlaub vorbei ist, wird zu Hause dennoch stets verkündet: „Wir hatten herrliches Wetter!“

Wanderungen in den Bergen waren stets ein zwiespältiges Vergnügen. Anfangs war die Wanderausrüstung noch ziemlich dürftig, dann kamen Wanderschuhe und –socken, Flanellhemden, Filzhüte, Stöcke und bei einigen sogar Lederhosen. Es ging hinauf in die Berge, je früher desto besser, denn „Am Morgen sind die Berge am schönsten.“ Aber zunächst kam der Anstieg durch Wälder, an Gehöften und Almen vorbei, über Geröllhalden und schließlich an Felswänden entlang. War das anstrengend! Lustig wurde es bei der Sennerin, wenn sie beim Anblick eines einsamen Bergsteigers ausrief: „Da kommt der Besamer!“ Dann protestierten die „Kleinen“, wenn dieselbe Dame erklärte: „Großstadtkinder denken, Milch kommt aus der Fabrik.“: „Wir sind doch nicht blöd!“

Schließlich war der Gipfel da. Rundum waren Berge, Wolken und blauer Himmel zu sehen. „Ist das schön!“, jubelte die Mutter, während der Vater anfing, mit seinem Wanderstock in verschiedene Richtungen zu zeigen: „Da ist der ‚Rist-Höhenzug‘, hier der ‚Piz Luis‘, und das hier ist das ‚Elefantenhorn‘.“ Der Rest der Familie war beeindruckt.

Am schönsten jedoch war es später in Berghütte unter dem Gipfel. Hier gab es Nudeln, Schweinswürstel, Rösti, Wein für die Mutter, Bier für den Vater und Säfte oder sogar Cola für die Kinder. Andor hatte gute Laune und spendierte hinterher für alle Eisbecher. So gestärkt konnte es weitergehen – nun bergab.

„Bergab ist schwerer als bergauf“, hatten Miturlauber behauptet. Andor fand, das sei nicht wahr. Je näher sie jedoch ihrem Ziel im Tal kamen, desto häufiger richteten sie ihren Blick gen Himmel. Es zog sich etwas zusammen, und in irgendeiner Ferne konnte man das Grummeln eines Gewitters vernehmen. Gerade, als die Stolps ihre Unterkunft betraten, begann es zu schütten. Später in der Heimat aber versicherten die Urlauber: „Wir hatten herrliches Wetter!“

Am Meer hatten die vier einmal einen Ausflug zur Insel „Helgoland“ gemacht. Die lag einsam etwa achtzig Seemeilen entfernt und hatte eine eigene Geschichte hinter sich: Eine fremde Macht – ihre Nachfahren wurden später „Freunde“, dann aber wieder nicht mehr – hatte diese Insel, die eigentlich ein Felsen im Meer war – okkupiert und als Abschussort für Fliegerbomben genutzt. Dann war die kriegerische Konjunktur vorbei, und das Eiland kehrte zurück in den Schoß des alten Heimatlandes. Es wurde hergerichtet mit Wegen, Auen, schönen Aussichten und entwickelte sich zum Magnet für Tagesausflügler, die mal nicht als halbnackte Touristen am Strand liegen mochten. Um neun Uhr fuhr das Schiff, vollbesetzt, mit „Kurs Helgoland“ los und dümpelte bald vor der Insel. Dann kamen kleinere Boote. Die Passagiere mussten umsteigen, bevor sie das Land betreten konnten, denn richtige Hafenanlagen hatte die Insel nicht. Nun kam der Gang „rund um die Insel“ und alle kehrten schließlich in einem Fischrestaurant ein, wo es „Scholle Finkenwerder Art“ oder „fangfrischen Seelachs“ gab. Dazu wurde entweder ein Glas Bier, ein Schoppen sauren Weins oder ein Glas Wasser angeboten. Nach diesem frugalen Mahl wanderten die Schiffsreisenden wieder zu den Booten, setzten über aufs größere Schiff über und gingen um sechszehn Uhr wieder von Bord. In der Heimat später hieß es: „Das war ein tolles Abenteuer!“

So war der Urlaub. Und er war viel zu schnell vorbei.

Wieder packten die Stolps ihr Auto voll. Wieder saßen die Eltern vorne und die Kinder im Fonds. Die drängelten allerdings nicht mehr, denn sie wussten nun: Solche Reisen dauern Stunden. Dafür beschäftigten sie sich mit den Spielsachen, die sie im Urlaub geschenkt bekommen hatten. Der Junge blätterte in einem Bilderbuch ihrer Urlaubsregion, das Mädchen spielte mit einer Stoffpuppe im Trachtenkleid.

Zu Hause dann schrieb Silke einen Brief an die „netten“ Leute aus Hessen, die sie im Urlaub kennengelernt hatte und mit denen sich die Stolps angefreundet hatten. Sie sollten doch einmal in ihre Stadt kommen und könnten auch bei ihnen übernachten.

Andor gab drei Filme zum Entwickeln im Fotogeschäft ab und bestellte die Bilder als Dias. Alle waren sehr gespannt, ob und wie sie „werden“ würden. Eine Woche später holte Andor die entwickelten Aufnahmen ab, und die ganze Familie fand, die Fotos seien großartig geworden. Sie waren in Farbe und zeigten Landschaften, Landschaften und Urlauber, Urlauber.

Der „Diaabend“ konnte stattfinden.