Inselromane

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Julia Meier

Inselromane

Adam Oehlenschlägers Roman Die Inseln im Südmeere / Øen i Sydhavet im Dialog mit J. G. Schnabels Insel Felsenburg

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Umschlagabbildung: Detail aus dem Bucheinband der 1911 erschienenen Ausgabe von Adam Oehlenschlägers Roman Die Inseln im Südmeer, Stuttgart: Holbein-Verlag (Fotografie privat).

Julia Meier

Universität Basel

Seminar für Nordistik

Nadelberg 6

CH-4051 Basel

https://orcid.org/0000-0003-3537–9455

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel im Sommersemester 2020 auf Antrag der Promotionskommission, Prof. Dr. Jürg Glauser (hauptverantwortlicher Betreuer) und Prof. Dr. Klaus Müller-Wille, als Dissertation angenommen.

DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783772057601

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

EPUB-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ISSN 1661-2086

ISBN 978-3-7720-5760-1 (Print)

ISBN 978-3-7720-0172-7 (ePub)

Inhalt

  Dank

  Für Markus

 1 Einleitung1.1 Gegenstand der Untersuchung1.2 Methodisch-theoretische Zugänge und Aufbau der Arbeit1.2.1 Polyphonie, Dialogizität und Intertextualität1.3 Entstehungsprozess1.4 Rezeption und Forschungsstand1.5 Materialität der Fassungen1.6 Fazit

  2 Die wunderlichen Fata und Die Inseln im Südmeere: Grundzüge 2.1 Die wunderlichen Fata 2.2 Die Inseln im Südmeere

 3 Polyphone Textgestalt3.1 Oehlenschläger als „Grenzgänger zwischen zwei Kulturen“3.2 Die Inseln im Südmeere und Øen i Sydhavet – ein Roman in zwei Sprachen3.2.1 Thematische Unterschiede3.2.2 Stilistische Unterschiedea) Metaphorische Ausdrucksweise (Redewendungen, Metaphern, Sprichwörter)b) Gedichtec) Wortspiele3.2.3 Fazit zur zweisprachigen Gestaltung3.3 Sprachreflexionen3.3.1 Sprachgedanken in den Wunderlichen Fata3.3.2 Die Situation in den Inseln im Südmeere3.3.3 Der Text in den anderen Versionena) Vergleich mit Øen i Sydhavetb) Die Textausschnitte in den späteren Ausgaben3.3.4 Fazit zu den Sprachreflexionen

 4 Die Spuren der Prätexte4.1 Der Paratext als Reflexion des Prätextes: Titel und Vorreden4.1.1 Titel und Autorname4.1.2 Die VorredenVorrede zu Die Inseln im SüdmeereVorrede zu Øen i SydhavetDänische und deutsche Vorreden im Vergleich4.2 Textanfänge/AnfangstexteDie Anfangskapitel in weiteren Ausgaben des Romans4.3 Zweimal Alberts „Traum“: Die Stimmen der Einsiedler im Dialog4.4 Fazit

 5 Funktionen der Kunst in einer Biographie: Cyrillo de Valaro5.1 Die Einleitung5.2 Begegnung mit Vater und Mutter5.3 Erlebte und erzählte Entdeckungsreisen5.4 Ariosts Spinngewebe„Ariost“ in der dänischen Fassung von 1825Die Ariostepisode in den späteren Fassungen5.5 Verwandlungen5.6 Fazit

 6 Personenkonstruktionen: Weibliche und männliche Stimmen6.1 Liebe im Roman6.2 Walpurgisnacht der Texte6.3 Sublimierung oder Wahn?Der untersuchte Textausschnitt in den weiteren Romanausgaben6.4 Fazit

 7 Schauplätze7.1 „Nordisierung“7.1.1 Ein „zweiter Luther“ aus Schweden7.1.2 Olearius und Fleming im Norden7.1.3 Ein dänischer Hoffnungsanker7.1.4 Fazit zum Norden im Roman7.2 Kirchenbau7.2.1 Eine Kirche für Schnabels Insel Felsenburg7.2.2 Der Kölner DomDer Text in den weiteren Ausgaben7.2.3 Der Kirchenbau auf Oehlenschlägers Insel FelsenburgDer Text in den anderen Ausgaben7.2.4 Fazit zum Kirchenbau7.3 Heiligenstatue und NonnenklosterExkurs: Eine „Novelle“ als Singspiel

  8 Schauspiele im Text 8.1 Albert als Schauspieler 8.2 Karnevaleske Darbietungen in Kopenhagen 8.3 Dramaturgische Diskussionen auf hoher See 8.4 Tendenzen zum Gesamtkunstwerk 8.5 Dramen auf dem Weg zur Insel Klein-Felsenburg 8.6 Fazit

  9 Schlussbemerkungen

  Abstract & Keywords Keywords

  Abbildungsverzeichnis

  Siglen und Kürzel

 LiteraturverzeichnisPrimärliteraturA) Adam OehlenschlägerSekundärliteraturKapitel

  Register

Dank

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Sommer 2020 bei der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel eingereicht habe. Die Arbeit verdankt ihr Zustandekommen in erster Linie Prof. Dr. Jürg Glauser, meinem Erstbetreuer, der sie mit nie erlahmendem Interesse, unerschütterlicher Geduld, steter Ermutigung und vielen hilfreichen Hinweisen inspiriert und begleitet hat. Für dieses intensive Engagement danke ich ihm sehr herzlich. Ein grosser Dank gilt auch meinem Zweitbetreuer, Prof. Dr. Klaus Müller-Wille; sein Interesse an meiner Arbeit war ebenfalls eine wesentliche Unterstützung, wie auch seine mit viel Enthusiasmus und Energie geführten Doktorandenkolloquien. Den lebendigen und spannenden Diskussionen in diesen Kolloquien verdanke ich manche Anregung. Prof. Dr. Miriam A. Locher danke ich herzlich für ihre spontane Hilfsbereitschaft und ihre guten Instruktionen zur Zoom-Sitzung, in der mein Doktorexamen abgehalten wurde.

Mein Dank geht ebenfalls an die Professor:innen Pil Dahlerup, Pernille Hermann und Dan Ringgaard für ihre Beschäftigung mit meiner Arbeit im Projektstadium. Den Peer Reviewern danke ich für genaue Lektüre und nützliche Ratschläge im Hinblick auf die Publikation. Dem Leiter des Cotta-Archivs in Marbach, Prof. Dr. Helmut Mojem, und seiner Mitarbeiterin Dr. Sabine Borchert sei für die unbürokratische Hilfe und Zustellung von Briefen aus ihrem Archiv gedankt. Dieser Dank gilt auch den Mitarbeitern der Digitalisierungsabteilung der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen, besonders dem Forschungsbibliothekar Sonny Ankjær Sahl. Den Verlagen Zweitausendeins und eBibliotek 1800 sowie der Klassik Stiftung Weimar und der Universitätsbibliothek Basel danke ich für die freundliche Erlaubnis zur Publikation von Abbildungen. Michael Redmond sei herzlich gedankt für seine uneigennützige Hilfe bei der Übersetzung des Abstracts. Ein grosser Dank geht auch an Dr. Anna Katharina Richter für ihr ausserordentlich sorgfältiges und hilfreiches Lektorat.

 

Der Redaktion der Beiträge zur Nordischen Philologie unter der Leitung von Prof. Dr. Lena Rohrbach danke ich sehr für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe. Auch bedanke ich mich bei der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien für die grosszügige Übernahme der Druckkosten. Herrn Tillmann Bub vom Narr Francke Attempto Verlag danke ich herzlich für seine freundliche und sehr aufmerksame Manuskriptbetreuung.

Meinen Brüdern bin ich äusserst dankbar, dass sie in der Schlussphase bereitwillig für mich eingesprungen sind und meinen Teil der Familienarbeit übernommen haben. Ellen Peters sei herzlich gedankt für viele liebenswürdige und ermutigende Mails.

Mein allergrösster Dank gebührt Markus, der mich die ganze Zeit über auf jede erdenkliche Weise unterstützt und in unzähligen anregenden, inspirierenden Gesprächen alles dafür getan hat, meine Motivation immer wieder aufzurichten und wachzuhalten. Auch danke ich ihm sehr für seine Mithilfe beim Korrekturlesen. Ihm möchte ich diese Arbeit widmen.

Für Markus

In keinem Werke habe ich mehr selbst erfunden, obschon […] einige schöne mit Kreide flüchtig hingeworfene Skizzenzüge des alten Buchs entlehnt sind, weil sie mit Oehlfarbe ausgemahlt zu werden verdienten, und weil sie mir zu eigenen Erfindungen Anlass gaben.

Oehlenschläger, Die Inseln im Südmeere I: IX.

1 Einleitung
1.1 Gegenstand der Untersuchung

Das Werk Die Inseln im Südmeere/Øen i Sydhavet stellt im umfangreichen dichterischen Œuvre Adam Oehlenschlägers eine Seltenheit dar: Es ist der einzige Roman dieses Autors. Oehlenschläger als Romancier – eine Vorstellung, die für seine Zeitgenossen1 etwas Befremdliches haben musste, galt der Dichter doch seit seinen frühen, mit Begeisterung aufgenommenen Werken Digte, St. Hansaften-Spil und Aladdin als begabter, ja begnadeter Lyriker und Dramatiker, dies trotz ebenfalls schon in jungen Jahren verfasster Prosatexte wie der 1805 in einem Band zusammen mit Aladdin herausgegebenen, auf der Vǫlundarkviða der Liederedda basierenden Vaulundurs Saga, dem orientalischen Märchen Aly og Gulhyndy in der Sammlung Digtninger von 1811 oder der Novellensammlung Digtninger II von 1813. Diese Werke erlangten, obwohl teilweise noch in der sogenannten „Blütezeit“ von Oehlenschlägers Schaffen entstanden, nicht den gleichen Status wie seine frühen Gedichte und Dramen. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass sich Oehlenschlägers oft virtuose Sprachkunst in den Prosawerken nicht in gleicher Weise entfalten konnte wie in seinen Versdichtungen. Einer solchen Ansicht widerspricht jedoch – meines Erachtens zu Recht – die Analyse von Flemming Lundgreen-Nielsen und Mogens Løj, die einige der erwähnten Prosastücke in die zwölfbändige, zum 200-jährigen Jubiläum von Oehlenschlägers Geburtstag veranstaltete Werkausgabe aufnahmen und dem Autor in ihrem Vorwort eine nuancenreiche, gestalterisch bewusste Prosakunst attestieren (Lundgreen-Nielsen/Løj 1987: 7–16). Diese wurde aber offensichtlich von der Mehrheit der zeitgenössischen Leserschaft nicht wahrgenommen, was vielleicht einer traditionellen, aber eigentlich bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts veraltenden Auffassung geschuldet ist, wonach Verse in der Dichtkunst ein höheres Ansehen haben als Prosa. Die Literaturwissenschaftlerin Lise Præstgaard Andersen fragt sich angesichts der Tatsache, dass Oehlenschläger nur einen einzigen Roman verfasste, ob der Autor in seinem Innersten nicht selber geglaubt habe, wahre Dichtung müsse in poetischer, d.h. gebundener Form geschaffen sein (vgl. Præstgaard Andersen, o.J.). Betrachtet man die insgesamt recht reichhaltige Prosaproduktion Oehlenschlägers, zu der auch verschiedene Übersetzungen gehören, so scheint diese Frage nicht wirklich berechtigt.

Doch trifft es zu, dass der Roman in zeitgenössischen Leserkreisen keine günstige Aufnahme fand, was sicher auch damit zusammenhing, dass er in den 1820iger Jahren entstand, d.h. zu einer Zeit, da Oehlenschläger seit längerem mit der sinkenden Akzeptanz seiner Publikationen zu kämpfen hatte. Zudem entsprach der Roman kaum der Lesererwartung, die der Titel geweckt haben dürfte: Es handelt sich bei dem Werk weder um einen Abenteuerroman noch um eine der damals beliebten Reiseerzählungen aus der Südsee, sondern um ein in Romanform dargebotenes textuelles Konglomerat aus einer Fülle von kunsttheoretischen Reflexionen, Prätexten, Zitaten, Binnenerzählungen, lyrischen Einlagen etc., das Ganze konstruiert auf dem Fundament von Schnabels Wunderlichen Fata und fast gleichzeitig in zwei Sprachen veröffentlicht – kurz, ein aus heutiger Sicht vielschichtiges und im Ablauf seiner mehrfachen Umgestaltung dynamisches Textgebilde, das in der Forschung bisher – wie ich meine, zu Unrecht – nur wenig Beachtung fand.

In der Vorrede zu seinem Roman Die Inseln im Südmeere2Cotta, Johann Friedrich beschreibt Oehlenschläger, wie sich seine Beziehung zu Schnabels Wunderliche Fata einiger Seeleute (besser bekannt als Insel Felsenburg)3 entwickelte und veränderte. Mit grosser Wahrscheinlichkeit hatte er den Roman als Kind auf Dänisch gelesen; diese Vermutung legen eigene Aussagen über seine Sprachkenntnisse nahe, z.B.: „Ich war zwölf Jahre alt geworden […]; ich las nur dänisch“ (Selbstbiographie 1829, 1: 12).4 Diese Lektüre, die ihn in seiner Kindheit und Jugend begeistert hatte, inspirierte ihn damals zu mancherlei Phantasiebildern, die mit dem Gelesenen verschmolzen und sich zu etwas Neuem formten, weshalb ihn der ursprüngliche Roman bei einer späteren Lektüre enttäuschte. Er fand darin nur noch „einige schöne mit Kreide flüchtig hingeworfene Skizzenzüge“, die „mit Oehlfarbe ausgemahlt (sic) zu werden verdienten“ (IS I: IX).5Schmidt, Arno In diesen Worten liegt ein Schaffensplan, eine Art Poetik, die darauf abzielt, Schnabels Buch, das nun bloss noch als blasse, flüchtig geschriebene Kreideskizze empfunden wurde, zu einem farbigen Ölgemälde zu gestalten. Das Bild ist nicht neu: Wenige Jahre vor dem Erscheinen des Inselromans hatte Oehlenschläger im Vorwort zu seiner deutschen HolbergHolberg, Ludvig-Übersetzung das Verhältnis des Komödiendichters zu dessen Vorbildern (im Hinblick auf Jacob von Tybo) mit fast denselben Worten umschrieben: „Dann kann man aber auch wohl sagen, dass sich Holberg’s Stück zu jenen Plautischen und Terenzischen Scenen verhält, wie ein vollendetes Oelgemälde zu Skizzen, mit Kreide flüchtig hingezeichnet“ (Holberg’s Lustspiele 1822–1823, I: XV; gesperrt im Original, kursive Hervorhebung JM.) Auch für Holberg soll mit der Kontrastierung von Kreide und Ölbild die geringe Abhängigkeit seiner Dichtung vom Prätext betont werden. Eines der Ziele der vorliegenden Arbeit ist es, zu untersuchen, in welcher Weise sich die Umsetzung dieser Poetik in Oehlenschlägers Roman konkretisiert, was für ein „Bild“ diese „Ausmalung der Skizzenzüge“ entstehen lässt.

Am Ende seiner Vorrede gibt Oehlenschläger eine weitere Erklärung zur Schaffung seines Romans:

Da die Handlung hier meist in Deutschland spielt, und die Personen meistens Deutsche sind, habe ich auch diese Dichtung, wie den Correggio, zuerst deutsch geschrieben, und es ist keine Uebertragung aus dem Dänischen. […] ich weiss, dass ich auch Gönner und Freunde in Deutschland habe, die ihren dänischen Blutsverwandten, wenn auch mit etwas fremdem Accente, gern sprechen hören. (IS I: XIII–XIV; gesperrt im Original)

Das Zitat weist in eine Richtung, der ich in meiner Arbeit gern folgen möchte: Es deutet die zweisprachige Produktion des Autors an, welcher den grössten Teil seines voluminösen Gesamtwerkes selber auf Deutsch übersetzte, einige Dichtungen aber, wie im Zitat erwähnt, zuerst in deutscher Sprache verfasste.6 Nähe und Distanz, die sich im Hinweis auf die Blutsverwandtschaft und den fremden Akzent ausdrücken, zeigen den Autor als einen Grenzgänger „zwischen den Sprachen“ (Blödorn 2004),7 der sich nicht auf eine einzige Sprache festlegen möchte, sondern die Polyphonie, die Mehrstimmigkeit, den vielfältigen Klang bevorzugt. Tatsächlich liegt ja in der Erwähnung des Sprechens „mit etwas fremdem Accente“ die Andeutung einer von der Normalität, vom Standard leicht abweichenden Sprache, einer Variante also, die dem Zweiklang deutsch – dänisch eine weitere Tonalität hinzufügt. Auf dieser polyphonen Basis des Romans entwickeln sich in der Folge weitere Fassungen, die ihrerseits den Text vervielfältigen, dynamisieren, einem Prozess der fortwährenden Umformung aussetzen, an der nicht nur der Autor, sondern auch spätere Herausgeber beteiligt sind, d.h. auch die Urheberschaft des Textes gestaltet sich im Lauf der Zeit polyphon.

Dass neben Schnabels Roman – dem deklarierten Prätext – noch eine Vielzahl weiterer Prätexte, intertextueller Beziehungen, Gattungsmischungen, Erzählerstimmen, etc. die Gestalt von Oehlenschlägers Text bestimmt, lädt dazu ein, diesen insgesamt als polyphones Phänomen zu betrachten und der für den Text zentral erscheinenden Mehrstimmigkeit eine Untersuchung zu widmen, welche die verschiedenen textuellen „Stimmen“ herausarbeiten und aufzeigen soll, ob sich die These bestätigt, wonach dieser Roman eindeutige Zuordnungen auf mehreren Ebenen unterläuft und zudem in seiner Entstehungszeit neuartige literarische Verfahren für die Textproduktion fruchtbar machte.

Die Konzepte der Polyphonie und Dialogizität im Sinne BachtinsBachtin, Michail M. bilden die theoretische Basis der vorliegenden Untersuchung; sie sollen jedoch gleichzeitig für andere Theorien geöffnet werden, besonders für die eng mit Bachtins Auffassungen verbundene und teilweise von ihnen herstammende Intertextualität. Die Verbindung wird explizit hergestellt in Julia KristevaKristeva, Julias Aufsatz „Le mot, le dialogue et le roman“, der ihre vielzitierte Definition der Intertextualität enthält:

Chez BakhtineBachtin, Michail M. […] ces deux axes, qu’il appelle respectivement dialogue et ambivalence, ne sont pas clairement distingués. Mais ce manque de rigueur est plutôt une découverte que Bakhtine est le premier à introduire dans la théorie littéraire: tout texte se construit comme mosaïque de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte. A la place de la notion d’intersubjectivité s’installe celle d’intertextualité, et le langage poétique se lit, au moins, comme double. (KristevaKristeva, Julia 1969: 85; kursiv im Original)8Kristeva, JuliaBachtin, Michail M.

Bei Bachtin werden […] diese beiden Achsen, die er Dialog respektive Ambivalenz nennt, nicht klar unterschieden. Aber dieser Mangel an Stringenz ist eher eine Entdeckung, die Bachtin als erster in die Literaturtheorie einführt: Jeder Text konstruiert sich als ein Mosaik aus Zitaten, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle der Idee der Intersubjektivität tritt jene der Intertextualität, und die poetische Sprache liest sich mindestens als eine doppelte.9

Ergänzend zu BachtinsBachtin, Michail M. und KristevasKristeva, Julia theoretischen Überlegungen werden für die Textanalyse auch weitere Intertextualitätskonzepte sowie Erkenntnisse der Übersetzungsforschung, der Psychoanalyse und der Gender Studies beigezogen. Die Polyphonie bildet also nicht nur den Gegenstand der Arbeit, sondern ist bis zu einem gewissen Grad auch dem methodischen Zugang eingeschrieben. Im Folgenden sollen die verschiedenen, meiner Arbeit zugrunde gelegten Theoriekonzepte kurz vorgestellt werden.

1.2 Methodisch-theoretische Zugänge und Aufbau der Arbeit
1.2.1 Polyphonie, Dialogizität und Intertextualität

Wie erwähnt, sind die beiden Begriffe Polyphonie und Dialogizität in der Literatur- und Kulturwissenschaft eng mit dem Namen Michail M. BachtinsBachtin, Michail M. verknüpft. Bekanntlich hat Bachtin sie im Zuge seiner Analyse von Dostoevskijs Romanen zu Konzepten entwickelt und bezieht sie – jedenfalls, was die Polyphonie betrifft – auch mit einer gewissen Ausschliesslichkeit auf dessen Werk: „Unserer Meinung nach kann nur Dostoevskij als Schöpfer echter Polyphonie gelten“ (Bachtin 1971: 42).1Bachtin, Michail M. Zu diesem Schluss gelangt er im Wesentlichen durch die Erkenntnis, dass Dostoevskij seine Welt „vor allem im Raum und nicht in der Zeit“ gesehen habe, da die Hauptkategorie seiner künstlerischen Sehweise „nicht das Werden, sondern Koexistenz und Wechselwirkung“ gewesen sei (Bachtin 1971: 34; kursiv im Original). Es geht also nicht um Entwicklung, um ein zeitliches Nacheinander oder ein kausales Folgeprinzip von Phänomenen, sondern um deren Gleichzeitigkeit, um ein räumlich gesehenes Nebeneinander und Koexistieren aller möglichen, auch divergierenden Themen: „Sich in der Welt zurechtzufinden, bedeutete für ihn [Dostoevskij], alle ihre Inhalte als gleichzeitige zu denken und ihre Beziehungen zueinander in einem einzigen Augenblick zu erraten“ (Bachtin 1971: 35; kursiv im Original). Im Weiteren stellt Bachtin zur genaueren Definition seines Polyphoniebegriffs die Unterschiede zwischen dem aus seiner Sicht monologischen und dem polyphonen Roman dar, wobei er als zentrales Element der Polyphonie die Gleichberechtigung der Bewusstseine des Autors und seiner Figuren betont:

 

[D]as Bewusstsein des Autors macht fremde Bewusstseine (d.h. die der Helden) nicht zu Objekten und legt sie nicht in ihrer Abwesenheit endgültig fest. Es fühlt neben und vor sich gleichberechtigte, fremde Bewusstseine, die genauso unendlich und unabschliessbar sind wie es selbst. […] Vom Autor des polyphonen Romans wird nicht der Verzicht auf sich selbst und sein eigenes Bewusstsein verlangt, sondern eine ungewöhnliche Erweiterung, Vertiefung und Umstrukturierung dieses Bewusstseins, […] damit es vollberechtigte fremde Bewusstseine aufnehmen kann. (BachtinBachtin, Michail M. 1971: 77)2Bachtin, Michail M.

Der polyphone Roman erscheint in der Fortführung der Argumentation als Textraum, in dem verschiedene Bewusstseine gleichrangig bestehen, eine Stimme erhalten und – ganz wesentlich für BachtinBachtin, Michail M. – miteinander in eine dialogische Beziehung treten (Bachtin 1971: 98).3Bachtin, Michail M. Der gleichberechtigten Vielfalt von Bewusstseinen entspricht die Koexistenz verschiedenster Schattierungen der sie als Medium tragenden Sprache, die

in jedem Augenblick ihrer historischen Existenz durchgängig in der Rede differenziert [ist]. Es ist dies die personifizierte Koexistenz sozioideologischer Widersprüche zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, zwischen verschiedenen Epochen der Vergangenheit, zwischen verschiedenen sozioideologischen Gruppen der Gegenwart, zwischen Richtungen, Schulen, Zirkeln usw. Diese „Sprachen“ der Redevielfalt kreuzen sich auf vielfältige Weise miteinander und bilden dadurch neue sozialtypische „Sprachen“. […] Als solche können sie sehr wohl einander gegenübergestellt werden, können sie sich wechselseitig ergänzen, können sie einander widersprechen, können sie dialogisch aufeinander bezogen sein. (BachtinBachtin, Michail M. 1979: 182–183)

Es wird nicht nur durch die Anführungszeichen klar, dass der Terminus „Sprachen“ im Verlauf der Textpassage einen vom herkömmlichen Gebrauch abweichenden, viel umfassenderen Sinn annimmt; wie BachtinBachtin, Michail M. ausführt, meint er damit so viel wie „spezifische Sichten der Welt, eigentümliche Formen der verbalen Sinngebung, besondere Horizonte der Sachbedeutung und Wertung“ (Bachtin 1979: 183), ein Konglomerat, das man vielleicht – im Sinn einer den einzelnen Gruppierungen gemeinsamen Denk- und Argumentationsform – als „Diskurs“ bezeichnen könnte. Diese sich überlagernden oder überschneidenden, miteinander dialogisierenden Diskurse münden insgesamt in eine Dynamisierung des Textbegriffs, der folgerichtig auch keine stabilen Grenzen mehr kennt, woraus sich schliesslich ein Dialog zwischen Texten entwickelt:

Jedes Wort (jedes Zeichen) eines Textes führt über seine Grenzen hinaus. Es ist unzulässig, die Analyse (von Erkenntnis und Verständnis) allein auf den jeweiligen Text zu beschränken. Jedes Verstehen ist das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Textes mit anderen Texten und die Umdeutung im neuen Kontext (in meinem, im gegenwärtigen, im künftigen). […] Der Text lebt nur, indem er sich mit einem andern Text (dem Kontext) berührt. Nur im Punkt dieses Kontaktes von Texten erstrahlt jenes Licht, das nach vorn und nach hinten leuchtet, das den jeweiligen Text am Dialog teilnehmen lässt. (BachtinBachtin, Michail M. 1979: 352–353)

Trotz der metaphorischen Überhöhung, die den Schluss der zitierten Stelle kennzeichnet, tritt doch das Wesentliche, BachtinsBachtin, Michail M. dynamisches Textverständnis, klar zutage. Dieses stand auch für Kristeva im Vordergrund, als sie bei ihrer Beschreibung und Analyse zweier Werke Bachtins, dem bereits zitierten Buch über Dostoevskij sowie seiner Untersuchung zu Rabelais’ Werk, den Begriff der Intertextualität prägte (Kristeva 1972: 348) – ein Terminus, der in der Folge selber polyphonen Charakter annehmen sollte, da er sehr unterschiedliche „Stimmen“, Deutungen und Definitionen umfasst. Das Spektrum reicht bekanntlich von der sogenannten „weiten“ Anschauung Kristevas,Kristeva, Julia die, wie erwähnt, jeden Text als „Mosaik von Zitaten“, als „Absorption und Transformation eines andern Textes“ versteht (Kristeva 1972: 348), bis zu „engen“ Auslegungen, die Intertextualität nur bei „markierter“, d.h. expliziter Aufnahme von andern Texten in den jeweiligen Grund- oder Haupttext erkennen (vgl. Broich 1985a: 31–47). Kristevas Lesart wird von der modernen Bachtinforschung oft als „produktives Missverständnis“ bezeichnet, da sie Bachtins Positionen (vor allem in Bezug auf Autorschaft und Autorintention) unzutreffend auf postmoderne Theoreme hin zuspitze (Grübel 2008: 317, Fussnote 3, und 342). Eine Umakzentuierung von Bachtins Konzeption der Dialogizität durch Kristeva stellte auch schon Manfred Pfister in seinem Aufsatz „Konzepte der Intertextualität“ fest (Pfister 1985a: 6–11). Sylvia Sasse hingegen ist der Ansicht, dass Kristeva mit ihrer Auffassung des „Dialogismus […] auf der Ebene des bachtinschen denotativen Wortes als Prinzip jeglichen Aussagens“ (Kristeva 1972: 357) Bachtins Ansatz nicht eigentlich erweitere, sondern bestätige, wobei Kristeva allerdings durch ihren Befund, die poetische Sprache sei als solche dialogisiert, Bachtins Differenzierung „zwischen monologischer und dialogischer Schreibweise gerade im Poetischen“ aufhebe (Sasse 2010: 91). Damit weist Sylvia Sasse auf einen wichtigen Punkt, in dem Kristeva Bachtins Konzept tatsächlich weiterentwickelt: Die von ihr postulierte, der poetischen Sprache als solche inhärente Dialogizität nähert sich postmodernen Betrachtungsweisen an, in denen es z.B. um eine Entgrenzung des Werkbegriffs geht, oder anders gesagt, um die Erweiterung der scheinbar klar feststehenden Werkgrenzen. Nicht diese Abgrenzungen im Sinne von deutlichen Konturen eines Werkes stehen im Vordergrund, sondern dessen Einflechtung in das Netz existierender Texte, die Kristeva zufolge allein schon durch das Medium Sprache gegeben ist. Die Vorstellung des Werkes als herausragender Skulptur wird abgelöst von dem Gedanken an ein Gebilde aus verschiedensten Textfäden, die es vielseitig verknüpfen – was im Übrigen ja schon der Wortsinn des lateinischen textus besagt. Dass dieses Gewebe als dynamische Textur zu verstehen ist, hat Roland BarthesBarthes, Roland deutlich gemacht, indem er den Text nicht mehr als fertiggestelltes Produkt begreift, sondern die Betonung legt auf „l’idée générative que le texte se fait, se travaille à travers un entrelacs perpétuel; […]“ [die generative Idee, dass der Text sich selbst herstellt, sich erarbeitet durch ein kontinuierliches Flechten; […] (Barthes 1973: 101).

In ähnlicher Weise sind für FoucaultFoucault, Michel die Ränder des Buches unscharf abgegrenzt, da er es in einem System von Verweisen auf andere Bücher, Texte, Sätze sieht:

C’est que les marges d’un livre ne sont jamais nettes ni rigoureusement tranchées: par-delà le titre, les premières lignes et le point final, par-delà sa configuration interne et la forme qui l’autonomise, il est pris dans un système de renvois à d’autres livres, d’autres textes, d’autres phrases: nœud dans un réseau. (FoucaultFoucault, Michel 1969: 34)

Die Ränder eines Buches sind weder sauber noch scharf geschnitten: Über den Titel, die ersten Linien und den Schlusspunkt hinaus, über seine innere Gestaltung und die Form, die es als Buch konstituieren, hinaus, ist es verhaftet in einem System von Verweisen auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze: ein Knoten in einem Netzgewebe.

Diese Betrachtungsweisen bringen in unterschiedlichen Bildern den dynamischen Charakter eines Textes, Werkes oder Buches zum Ausdruck; sie betonen die Verknüpfungen oder Verflechtungen zwischen verschiedenen Texten, stellen scheinbar etablierte Werkgrenzen ebenso wie klar definierte Textränder zur Diskussion. Damit teilen sie die von KristevaKristeva, Julia im Rückgriff auf BachtinBachtin, Michail M. entwickelten Perspektiven und positionieren sich im Bereich der ontologischen Intertextualitätstheorien. Da diese jedoch dafür kritisiert wurden, kein konkretes, zur Textanalyse taugliches Instrumentarium aufzuweisen, bildeten sich im Gegenzug deskriptive Intertextualitätskonzepte heraus, die einerseits zwar in vielen Punkten an die alte Einfluss- und Quellenforschung erinnern,4Kristeva, Julia andrerseits aber doch für die Untersuchung von Texten hilfreiche Anwendungskategorien bieten und sich von den vor-postmodernen Theorien durch die Beobachtung und Beschreibung der Relationen und Interaktionen zwischen Texten unterscheiden.

So entfaltet z.B. Gérard GenetteGenette, Gérard in Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe5Genette, Gérard ein breit gefächertes System für die Beschreibung von Textbeziehungen. Er beruft sich dabei explizit auf KristevasKristeva, Julia Bezeichnung „Intertextualität“, definiert den Begriff aber „wahrscheinlich restriktiver“ (Genette 1993: 10), nämlich für die „effektive Präsenz eines Textes in einem andern Text“ (Genette 1993: 10), die er eingrenzt auf die drei Kategorien Zitat, Plagiat oder Anspielung. „Intertextualität“ in diesem engen Sinn ist für ihn nur einer von fünf verschiedenen, aber vielfach miteinander verbundenen Typen seiner Klassifizierung transtextueller Beziehungen. Neben der Intertextualität sind dies die „Paratextualität“, die er später unter dem Titel Seuils in einem eigenen Buch behandeln wird,6Genette, Gérard die „Metatextualität“ als stillschweigende oder explizite Kommentierung eines anderen Textes, die „Architextualität“, womit die auf Gattungszugehörigkeit beruhende Verbindung mit anderen Texten gemeint ist, sowie die „Hypertextualität“, jener Typus, mit dem sich Genette in Palimpseste fast ausschliesslich beschäftigt. Er versteht darunter sämtliche Beziehungen zwischen einem Prätext und einem darauf basierenden Folgetext (Genette 1993: 14–15). Seine Bezeichnungen für die entsprechende Textsituation, „Hypotext“ und „Hypertext“, weisen dabei auf die grundlegende Art dieser Beziehung zwischen zwei Texten: Es handelt sich um die „Überlagerung“ des Folgetextes über einen bereits existierenden Text, der dem neuen Werk gewissermassen „unterlagert“ ist, wie das die Vorsilben „hypo-“ und „hyper-“ zum Ausdruck bringen; daraus erklärt sich natürlich auch der Titel Palimpseste, der wiederverwendete Manuskriptseiten bezeichnet, die nach Abschaben oder Abwaschen der Erstbeschriftung neu beschrieben worden waren. Bei diesen schon aus der Antike bekannten und im Mittelalter weitergeführten Praktiken schimmerte manchmal die Erstbeschreibung noch durch, blieb also unter dem überschriebenen Text sichtbar. Auch Genettes Untertitel Die Literatur auf zweiter Stufe bezeichnet die Art der von ihm untersuchten Textbeziehung, die er gesamthaft unterteilt in „Transformation“ und „Nachahmung“; beide Begriffe erfahren zusätzliche Differenzierungen und Gliederungen, je nach Beschaffenheit des Verhältnisses zwischen Hypo- und Hypertext, z.B. aus stilistischer, funktionaler oder gattungsbezogener Perspektive.