Aussöhnung im Konflikt

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Aussöhnung im Konflikt
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Sebastian Holzbrecher

Jörg Seiler

Herausgeber

Aussöhnung im Konflikt

ERFURTER THEOLOGISCHE SCHRIFTEN

im Auftrag

der Katholisch-Theologischen Fakultät

der Universität Erfurt

herausgegeben

von Josef Römelt und Josef Pilvousek

BAND 41


Sebastian Holzbrecher

Jörg Seiler

Herausgeber

Aussöhnung im Konflikt

Historische Perspektiven auf den Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe 1965

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

1.Auflage 2017

© 2017 Echter Verlag, Würzburg

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

ISBN

978-3-429-04360-5 (Print)

978-3-429-04920-1 (PDF)

978-3-429-06340-5 (ePub)

www.echter-verlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Karl-Joseph Hummel

Polen und Deutschland 1945-1990

Aktive Verständigung, gelungene Versöhnung, gefährdete Normalisierung

Severin Gawlitta

Von der Langlebigkeit einer Legende

Joachim Piecuch

Vergebung – eine weltliche oder religiöse Handlung?

Helmut Jan Sobeczko

Das katholische Polen und die deutsche Kirche nach 1945 bis 1965

Sebastian Holzbrecher

„Den Hass besiegen“ – Anmerkungen zu deutschen Versöhnungsinitiativen zwischen 1945 und 1965

Konrad Glombik

Die „Causa Hlond“

Darstellung in der polnischen Historiographie

Rainer Bendel

Das Bild Kardinal Hlonds auf deutscher Seite

Theresia Niesing

Wegbereiter der deutsch-polnischen Versöhnung in der DDR Gerhard Schaffran und Günter Särchen

Erwin Mateja

Wegbereiter der deutsch-polnischen Versöhnung Bolesław Kominek und Alfons Nossol

Piotr Górecki

Die Rezeption der Briefe von 1965 in der polnischen Presse Der lange Weg zur Aussöhnung

Theo Mechtenberg

Die Rezeptionsgeschichte des Briefwechsels polnischer und deutscher Bischöfe aus deutscher Perspektive

Tadeusz Dola

Die Kirche in Deutschland aus polnischer Perspektive (1978-1990)

Jörg Seiler

„Sie möchten sich versöhnen […], aber sie stören dabei immer wieder sich selbst“. Die Kirche in Polen aus deutscher Sicht (1978-1990)

Register

EINFÜHRUNG

Der Briefwechsel zwischen dem deutschen und polnischen Episkopat im November 1965 war – nach ersten Annäherungen Ende der 1950er Jahre – der wichtigste Bezugspunkt für die Versöhnungsarbeit der katholischen Kirche in Polen und Deutschland. Die Begegnungen beider Episkopate auf dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965) hatten den Briefwechsel wesentlich motiviert. Obgleich die von den polnischen Bischöfen ausgehende Initiative im unmittelbaren Vorfeld verschiedenen deutschen Bischöfen und Theologen angekündigt worden war, handelte es sich doch insgesamt um ein Unternehmen, das von beiden Seiten nicht ausreichend vorbereitet war. Zugleich waren es verschiedene persönliche Kontakte im Vorfeld und im Hintergrund des Briefwechsels, die die offizielle Kontaktaufnahme erleichtert und mental vorbereitet haben.

Seit 1965 ist der polnisch-deutsche Briefwechsel wiederholt Gegenstand historischer Forschungen gewesen und wurde dabei mit unterschiedlichen Interessenslagen untersucht. Nach der frühen Edition der Texte 1966 kamen weitere Forschungsimpulse in der Regel im Kontext von Jubiläen auf. Gerade in jüngster Zeit beschäftigen sich junge Wissenschaftler mit dem Briefwechsel, seiner Entstehung, den zahlreichen Kontexten, in die er hineingestellt wurde, und seiner Rezeption.

Der vorliegende Band entstand anlässlich einer Tagung zum 50. Jubiläum des Briefwechsels im Oktober 2015. Er beinhaltet im Wesentlichen1 die Beiträge der Tagung, die durch das Theologische Forschungskolleg der Universität Erfurt (Kath.-Theol. Fakultät) und der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte in Erfurt veranstaltet wurde. Das Ziel der Tagung mit deutschen und polnischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern bestand darin, die bislang landesspezifisch geprägten Positionen aus Polen und Deutschland auszutauschen und sie komparativ miteinander ins Gespräch zu bringen. Wir danken den Kollegen der Theologischen Fakultät der Universität Opole/Oppeln, dass sie mit uns die verschiedenen Perspektiven diskutiert haben. Ausgewählte Themenfelder wurden deshalb jeweils durch einen Beitrag aus polnischer und deutscher Perspektive aufgegriffen und behandelt. Auf diese Weise konnten nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Beschreibung, Wahrnehmung und Analyse der historischen Ereignisse und Prozesse herausgearbeitet werden. Zugleich ermöglichte dieses Vorgehen eine Rezeption der – in Deutschland oftmals unbekannten – polnischen Forschungsliteratur zu bestimmten Themen und Fragekomplexen.

Theresia Niesing (in Vertretung von Josef Pilvousek) und Jörg Seiler erwiderten den Besuch der polnischen Kollegen und referierten über ihre Themen auf der Tagung „50 lat wymiany listów biskupów polskich i niemieckich ‚Przebaczamy i prosimy o przebaczenie’. Konferencja naukowa zorganizowana przez. Katedrę historii Kościoła i Patrologii Wydziału Teologicznego Uniwersytetu Opolskiego oraz Theologisches Forschungskolleg (Universität Erfurt)“ im Dezember 2015 an der Theologischen Fakultät der Universität Opole/Oppeln.

Den verschiedenen Blöcken mit thematischen Doppelbeiträgen des vorliegenden Tagungsbandes sind drei einführende Aufsätze voran gestellt. Karl-Joseph Hummel unternimmt in seiner weitgreifenden historischen Überblicksdarstellung „Polen und Deutschland 1945-1990“ eine Verortung des Briefwechsels innerhalb des deutsch-polnischen Versöhnungsprozesses, der als eine schwierige und bleibende Herausforderung beschrieben wird, die immer wieder vor der Gefahr stand, einer nicht unproblematischen Normalisierung zu erliegen. Severin Gawlitta rekonstruiert in seinem Beitrag „Von der Langlebigkeit einer Legende“ akribisch die Entwicklungen von Oktober bis Dezember 1965 und versucht dabei die Legende von der missglückten Zustellung des polnischen Versöhnungsbriefs und der dadurch entstandenen Verzögerung des deutschen Antwortbriefes zu entlarven und auf ihren historischen Kern hin zu untersuchen. Eine philosophisch-theologisch orientierte Spurensuche unternimmt Joachim Piecuch mit seinen Erörterungen zu „Vergeltung – eine weltliche oder religiöse Handlung?“ und steuert dabei eine Reflexion zum Versöhnungsbegriff bei, der verschiedene Anknüpfungspunkte zu weiteren Aufsätzen des Bandes bietet.

Die ersten beiden Doppelbeiträge widmen sich der gegenseitigen Wahrnehmung von Deutschland und Polen in der Zeit von 1945 bis 1965. Dabei stellen Helmut Sobeczko und Sebastian Holzbrecher nicht nur historische Etappen auf dem Weg zum Briefwechsel vor, sondern gehen auch auf Versöhnungsinitiativen vor 1965 ein.

Im zweiten Themenblock wird die – noch immer als „heißes Eisen“ zu bezeichnende – „Causa Hlond“ aus polnischer und deutscher Perspektive vorgestellt und anhand des jeweils aktuellen Forschungsstandes in Deutschland und Polen diskutiert. Konrad Glombik zeichnet dabei die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Darstellungen über den polnischen Primas August Kardinal Hlond (1881-1948) in der polnischen Historiographie nach, während Rainer Bendel die deutschsprachige Forschungsliteratur, noch immer mit dem Schwerpunkt auf den Forschungen von Scholz, präsentiert. Eine synthetisierende Untersuchung unter Heranziehung sowohl der polnischen als auch der deutschen Forschungsliteratur – dies zeigen die weiterhin stark differierenden Interpretationen – wäre nunmehr wünschenswert.

Auf konkrete Wegbereiter der Versöhnung dies- und jenseits der lange Zeit höchst umstrittenen Oder-Neiße-Grenze geht der dritte Doppelblock ein. Auf deutscher Seite werden der Meißner Bischof Gerhard Schaffran (1912-1996) und der Leiter der Magdeburger „Arbeitsstelle für pastorale Hilfsmittel“, Günter Särchen (1927-2004), als Pioniere der Versöhnung vorgestellt, wobei Theresia Niesing dabei auf den Tagungsvortrag von Prof. Dr. Josef Pilvousek zurückgreifen konnte. Auf polnischer Seite werden zwei Schlesier von Erwin Mateja exemplarisch portraitiert, die ebenfalls zur Avantgarde der Versöhnung zu zählen sind: der Breslauer Kardinal Bolesław Kominek (1903-1974) und der Oppelner Erzbischof Alfons Nossol (*1932). Diese biografischen Zugänge eröffnen einen Blick auf die netzwerkartigen Strukturen zwischen polnischen und deutschen Katholiken, die bereits vor dem Briefwechsel existierten und die seine Entstehung und die Umsetzung seines Anspruchs in späteren Jahren mit beeinflusst haben.

Die äußerst schwierige und höchst konfliktreiche Rezeptionsgeschichte der beiden Versöhnungsbriefe wird im vierten Themenblock wiederum aus polnischer und deutscher Perspektive analysiert und dargestellt. Piotr Górecki zeichnet den aggressiven Umgang der polnischen Regierung und v.a. die mediale Hetzjagd gegen die Verfasser und Ideen des Versöhnungsbriefs in Polen nach und skizziert dabei die verschiedenen Dilemmata, vor denen die polnischen Bischöfe nach der Veröffentlichung der Briefe standen. Theo Mechtenberg skizziert komplementär dazu die Rezeptionsgeschichte der Briefe aus deutscher Sicht, wobei er einen Schwerpunkt auf den Umgang mit den Versöhnungsbotschaften in der DDR legt.

 

Die Wahl des Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyła zum Papst Johannes Paul II. 1978 stellt zweifellos eine wichtige, wenn auch nicht unumstrittene Wegmarke für das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen dar. Deshalb nimmt der abschließende Themenblock nochmals die gegenseitige Wahrnehmung und das Gegen- und Miteinander von Deutschen und Polen in der ersten Hälfte des Pontifikats von Johannes Paul II. in den Blick. Tadeusz Dola beschreibt dabei die polnische Perspektive auf die katholische Kirche in Deutschland, wie sie sich in der polnischen Publizistik niederschlug. Den Schwierigkeiten, Problemen und den „atmosphärischen Störungen“ im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess bis 1990 geht Jörg Seiler nach, wobei auch er die medialen Diskussionen (v.a. in der Herder-Korrespondenz) und die (Nicht-)Bezugnahme auf den Briefwechsel anlässlich der Reisen von Johannes Paul II. in die Bundesrepublik thematisiert.

Die zahlreichen Tagungen zum 50. Jubiläum des polnisch-deutschen Briefwechsels im Jahr 2015 werden den historischen Forschungsstand in vielerlei Hinsicht ergänzen. Der vorliegende Band möchte seinen Teil dazu beisteuern und vor allem den aktuellen polnischen Forschungsstand für deutschsprachige Leserinnen und Leser zugänglich machen. Es wird weiteren Arbeiten vorbehalten sein, die sich hieraus ergebende Synthese im Rahmen einer bi- bzw. trilateralen Beziehungsgeschichte der katholischen Kirche in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erforschen.

Unser Dank gilt den Herausgebern der Reihe Erfurter Theologische Schriften, Prof. Dr. Josef Pilvousek – der zugleich die Tagung mit vorbereitet hat – und Prof. Dr. Josef Römelt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die polnisch-deutsche Tagung finanziell gefördert, wofür wir gerne Dank abstatten. Den Mühen der redaktionellen Arbeit unterzogen sich Herr Benjamin Litwin (Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit der Universität Erfurt) und in besonderer Weise Herr Dr. Martin Fischer (Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte Erfurt). Auch ihnen danken wir herzlich. Herr Dr. Fischer zeichnet zudem für das Register verantwortlich, das helfen möge, die Bezüge der Beiträge zueinander noch transparenter zu machen.

Erfurt, am 7. Februar 2017

Jörg Seiler / Sebastian Holzbrecher

1 Auf Wunsch von Urszula Pękala wurde ihr Tagungsbeitrag „Europa und die deutsche und polnische Kirche im 21. Jahrhundert“ nicht in den Tagungsband aufgenommen. Eingang fand dafür der Beitrag von Joachim Piecuch „Vergeltung – eine weltliche oder religiöse Handlung?“

POLEN UND DEUTSCHLAND 1945-1990 AKTIVE VERSTÄNDIGUNG, GELUNGENE VERSÖHNUNG, GEFÄHRDETE NORMALISIERUNG

Karl-Joseph Hummel

1. Die verspätete Avantgarde

Die von deutschen Katholiken nach 1945 übernommene Rolle einer „Avantgarde der Versöhnung“1 im Europa des Kalten Krieges begann nicht unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nach einer „Phase des kollektiven Beschweigens“2 Die deutschen Katholiken verbanden mit ihren „außenpolitischen“ Aktivitäten – zeitlich versetzt – drei Hauptziele: den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen mit dem „katholischen“ Frankreich3 im Westen, die Verbesserung des jüdisch-christlichen Dialogs und die Versöhnung mit dem östlichen Nachbarn, dem katholischen Polen.4

Auf der politischen Ebene forderte Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949: „Der deutsch-französische Gegensatz […] muss endgültig aus der Welt geschafft werden.“5 Das bilaterale Verhältnis zu Polen stand bei dem Gründungskanzler der Bundesrepublik Deutschland 1949 noch nicht auf der Prioritätenliste. Adenauer sprach davon nur in den Konfliktpunkten „Oder-Neiße-Linie“ und „Vertreibung“, die „in vollem Gegensatz zu den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens“ vorgenommen worden sei.6

Die Wiederanknüpfung von Beziehungen zwischen den polnischen und deutschen Katholiken verzögerte sich aus ganz unterschiedlichen Gründen, war immer wieder von Rückschlägen betroffen und verbesserte sich in Abhängigkeit von den allgemeinpolitischen Konjunkturen des Kalten Krieges lange Jahre weder stetig noch nachhaltig. Erfahrene Beobachter warben dennoch um Geduld. Mit der naiven Vorstellung, sich gleich versöhnen zu können, zeige man nur, dass man keine Vorstellung davon habe, was zwischen Polen und Deutschen alles zu bewältigen sei. Innerkatholisch dauerte es immerhin 20 Jahre bis zu dem berühmten Briefwechsel der Bischöfe von 1965, an den wir mit dieser Tagung erinnern.7 Als Julius Kardinal Döpfner 1970 auf der Würzburger Jahresversammlung von Pax Christi feststellte: „An die erste Stelle gehört zweifellos, und zwar auf viele Jahre hinaus, die Verständigung und Versöhnung mit Polen“8, war dies alles andere als eine Erfolgsmeldung nach 25 Jahren intensiver Anstrengung, sondern eher das Eingeständnis, dass hier offensichtlich noch ein großer Nachholbedarf bestand.

Die erste Reise nach Polen als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz unternahm Julius Kardinal Döpfner 1973. 1978 besuchte erstmals eine polnische Bischofsdelegation die Bundesrepublik Deutschland. Der erste Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Warschau – Willy Brandts Kniefall gehört zu den Ikonen symbolischer Politikinszenierung – fand 25 Jahre nach Kriegsende 1970 statt. Der Warschauer Vertrag von 1972 sollte erst einmal die „Grundlagen der Normalisierung“ legen. Von dort zur „Normalisierung“, dann zur „Verständigung“ und schließlich zur „Versöhnung“ war ein weiter Weg. 1972 wurden die ersten Botschafter ausgetauscht. Das Deutsch-Polnische Jugendwerk nahm seine Arbeit am 1. Januar 1993 auf – fast genau 30 Jahre nach dem deutsch-französischen Vorbild.

2. Menschen der Versöhnung

Bundeskanzler Willy Brandt war sich bei seinem Besuch in Warschau wohl bewusst: „Das Gespräch der Kirchen und ihrer Gemeinden war dem Dialog der Politiker voraus.“9 Die Geschichte der polnisch-deutschen Versöhnung nach 1945 ist in der Tat auf beiden Seiten zunächst die Geschichte privater Einzelinitiativen und nicht vorrangig die Geschichte politisch-diplomatischer Beziehungen oder offizieller institutioneller Kontakte. „Jene katholischen und evangelischen Christen, denen die deutsch-polnische Aussöhnung mehr bedeutete als polit-ökonomische Kontakte, waren und sind auch heute eine Minderheit. Aber sie haben – in diesem Fall – Geschichte gemacht.“10

„Beiden Kirchen kommt das Verdienst zu, in der Breite der Gesellschaft in Deutschland wie in Polen eine Diskussion ausgelöst zu haben, die letztlich die Voraussetzung dafür schuf, die starren Fronten politischen Denkens aufzubrechen und neue Wege zu gehen. Wir haben es hier mit dem seltenen, vielleicht in der Bundesrepublik in dieser Form einmaligen Fall zu tun, dass von den Kirchen ohne direkte politische Einmischung, doch in Wahrnehmung ihres Auftrags, zu den Lebensfragen unseres Volkes Stellung zu nehmen, Impulse von zukunftsträchtiger Wirksamkeit ausgingen.“11

Basil Kerski hat darauf aufmerksam gemacht, dass die polnisch-bundesrepublikanischen Beziehungen dadurch bereits lange vor 1990 Elemente der Vergesellschaftung aufwiesen, die sonst nur in den bilateralen Beziehungen zwischen Demokratien aufgeführt werden:

„Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems kam in Polen eine politische Elite an die Macht, die in den vorhergehenden Jahrzehnten an der Herausarbeitung einer kollektiven Identität auf der Basis von Wertekomplementarität zwischen Deutschen und Polen wesentlichen Anteil hatte.“12

Tadeusz Mazowiecki, viele Jahre einer der im Dialog mit den Deutschen engagiertesten polnischen Laien, bedankte sich 2001 für den ihm verliehenen Deutschen Nationalpreis mit den Worten: „Ich könnte jetzt die politischen Umstände der deutsch-polnischen Beziehungen aufzählen, doch die Menschen waren viel wichtiger […] ‚Menschen der Versöhnung’“13. Für Mazowiecki hatte das deutsch-polnische Verhältnis drei Dimensionen, die politische, die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Dimension, „die des Ausbaues von Kontakten zwischen Menschen, Kulturen und Institutionen des gesellschaftlichen Lebens bedarf. Ich glaube, dass diese dritte Dimension die Aufgaben bestimmt, die vor jenen christlichen Kreisen stehen, welche für die Verwirklichung der Versöhnung zwischen unseren Völkern gewirkt haben und weiterhin wirken.“14

Einer der Pioniere der polnisch-deutschen Versöhnung, Władysław Bartoszewski, hat in seinen Erinnerungen ebenfalls besonderen Wert auf die vielen Einzelkontakte von Christen gelegt, die seit den 1960er Jahren die „schwierige Aussöhnung“ voranzubringen suchten.15 Auf deutscher Seite stimmt Bernhard Vogels Fazit mit dieser Einschätzung nahtlos überein. Auf die Frage: Wie konnte es je wieder zu einer guten Nachbarschaft zwischen Deutschland und Polen kommen? – antwortete Vogel:

„Nur weil es Menschen gab, die wider alle Hoffnung hofften und Anfänge wagten, blieb es nicht bei Verzweiflung und Resignation. Menschen in Polen und Menschen in Deutschland, die Versöhnung wollten – zwischen den Staaten und zwischen den Menschen – Menschen, die nicht auf andere und auf bessere Zeiten warteten, sondern entschlossen waren, selbst Hand anzulegen.“16

Die ersten vorsichtigen Initiativen begannen in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Zu den frühen Gesprächskontakten gehörte neben einer Reihe von Einzelinitiativen 1957 das Treffen deutscher Publizisten mit Redakteuren der Zeitschrift ZNAK und der Wochenzeitung Tygodnik Powszechny in Wien, auf dem der Chefredakteur der KNA, Karl Bringmann, Stanisław Stomma zu einem Besuch in der Bundesrepublik einlud, der 1958 tatsächlich auch stattfinden konnte. Eine offizielle Teilnahme polnischer Katholiken am Kölner Katholikentag 1956 bzw. 1958 in Berlin war damals dagegen noch nicht möglich.

Die emotional schwerwiegendste, bis zum heutigen Tag nicht ausgeräumte kirchenpolitische Belastung in den katholischen Beziehungen ist erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden und wurde durch den von polnischer Seite angestrengten Seligsprechungsprozess für Kardinal Augustyn Hlond (1881-1948) Mitte der 1990er Jahre erneut in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. In diesem Konflikt geht es um die Frage, welche päpstlichen Sondervollmachten dem Primas 1945 zur Verfügung standen, um die deutschen Bischöfe, Weihbischöfe, Generalvikare und Domkapitel in drei ostdeutschen Diözesen (Breslau, Ermland, Freie Prälatur Schneidemühl) und den deutschen Teilen der Diözesen Prag und Olmütz zum 1. September 1945 durch Apostolische Administratoren zu ersetzen, und ob er davon in der rechten Weise Gebrauch gemacht hat. Daneben gibt es oder gab es aber auch Streitfragen, wie die „Kirchenglocken“ oder „Kirchenbücher“, die sich zu einem jahrzehntelangen Dauerbrenner mit brisantem Streitwert entwickelten.

Deutliche Veränderungen, die auch durch Umfrageergebnisse belegbar sind, ergaben sich erst in den 1960er Jahren, als z. B. von Magdeburg aus Jugendgruppen als kleines Zeichen der Sühne und des Versöhnungswillens nach Polen pilgerten, sofern die DDR-Behörden die notwendigen Genehmigungen nicht verweigerten. Ab 1964 wurde diese Initiative auch von der Aktion Sühnezeichen unterstützt und dadurch zu einem ökumenischen Anliegen. Ebenfalls 1964 – während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses – fand eine Sühnewallfahrt statt. Die ersten Freiwilligen meldeten sich zu Arbeitseinsätzen in ehemaligen Konzentrationslagern. Vom 19. bis 24. Mai 1964 machten sich 34 „Menschen der Versöhnung“ aus Deutschland auf nach Auschwitz und trafen dort auch mit Karol Wojtyła, dem neuen Erzbischof von Krakau, zusammen. Zu einem Zeitpunkt, als viele Zeitgenossen in beiden Ländern noch in dem nationalistischen Freund-Feind-Schema der Vergangenheit gefangen waren, wurde diese Wallfahrt zum Gründungsimpuls für das bis heute segensreich tätige Maximilian-Kolbe-Werk. Durch die Beteiligung Wojtyłas, der erst seit Januar 1964 im Amt war, gelang mit dieser Wallfahrt ein erster Durchbruch, der Anfang zu deutschpolnischer Versöhnung. Der Erzbischof begrüßte jeden Einzelnen mit einem persönlichen Händedruck und versicherte, durch diese Begegnung habe eine neue Zeit begonnen, die polnischen Katholiken seien bereit, „einen neuen Geist der Versöhnung herzustellen.“17 Seine Überzeugung: „Nur durch solche Pilger- und Sühnefahrten und andere Bußwerke können wir von Gottes Barmherzigkeit die Annäherung der Völker und Religionen erhoffen“18, entsprach exakt der Einschätzung der deutschen Pilgergruppe. Für die kleinen Schritte vorwärts sollten in den deutsch-polnischen Beziehungen noch lange Jahre engagierte Einzelkämpfer und selbstorganisierte kleine Gruppen beider Kirchen, einzelne Menschen, zuständig sein, Pilger und Wallfahrer.

 

3. Von der Vergangenheit zur Zukunft

1960 eilte der Berliner Bischof Julius Döpfner weit voraus, als er versuchte, in einem eskalierenden Konflikt zwischen Konrad Adenauer und Primas Wyszyński zu vermitteln. Adenauer hatte auf einer Wahlkampfveranstaltung in Düsseldorf von einem „Rückkehrrecht der Ostpreußen“ gesprochen und damit eine gewaltige Protestlawine losgetreten. Primas Wyszyński meldete sich damals symbolträchtig aus der Marienburg:

„Es kommt zu Euch der Widerhall von Drohungen, die ein feindseliger Mensch aus dem fernen Westen, der hochmütig auf seine Kraft vertraut, an die Adresse unserer Heimaterde und unserer Freiheit schleudert. […] Schaut nur auf diese hohen Burgen, wo sich der Dünkel eingenistet hatte, der auf Stahl und Eisen vertraute. Wo sind sie geblieben?“19

Döpfners berühmt gewordene Berliner Hedwigs-Predigt vom 16. Oktober 1960 war der erste erfolgreiche Versuch, den Blick nicht nur auf die Konflikte der Vergangenheit, sondern auch auf die Aufgaben für eine gemeinsame Zukunft zu richten. Der damalige Berliner Bischof betonte zwar, es könne nicht Aufgabe eines Bischofs sein, politische Pläne zu entwickeln, gleichwohl stieß er mit seiner Initiative weitreichende politische Entwicklungen an, als er dem deutschen Volk dringend riet, sich drei Punkte einzuprägen:

„1. Krieg als Mittel zur Neuordnung des Verhältnisses zwischen Polen und Deutschen scheidet von vorneherein aus […] 2. Das deutsche Volk kann nach allem, was in seinem Namen geschehen ist, den Frieden nur unter sehr großen Opfern erlangen […] Beide Völker müssten völlig darauf verzichten, sich gegenseitig Untaten vorzurechnen […] 3. Für die Zukunft ist die Gemeinschaft der Völker und Staaten wichtiger als Grenzfragen.“20

Auf polnischer Seite war eine der treibenden Kräfte zur Überbrückung der Gräben zwischen Deutschen und Polen Bolesław Kominek (1903-1974). Kominek, seit Dezember 1956 bischöflicher Verwalter des Administraturbezirkes Breslau, nahm z. B. einen deutschen Vorschlag auf und regte im November 1963 in Rom an, sich gegenseitig für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse von Edith Stein (1891-1942) und Maximilian Kolbe (1894-1942) einzusetzen. Kominek gilt auch als der geistige Vater der polnischen Einladung an die deutschen Amtsbrüder, zur Millenniumsfeier 1966 Polen zu besuchen.

Das II. Vatikanische Konzil hatte jenseits aller offiziellen Termine und Beratungen auch eine einzigartige Gelegenheit geboten, weltweit persönliche Beziehungen zu Menschen zu knüpfen, denen man sonst nie begegnet wäre, Vertrauen zu Menschen aufzubauen, mit denen eine persönliche Begegnung bis dahin nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich gewesen war. Diese Erfahrung machten auch die polnischen und deutschen Konzilsväter. Ohne ihre vertrauensbildenden Kontakte und Gespräche am Rande des Konzils wäre es am 18. November / 5. Dezember 1965 sehr wahrscheinlich nicht zu dem nicht nur die Öffentlichkeit überraschenden Briefwechsel gekommen. Will man an einem Beispiel herausfinden, ob und wie sich ein damals begründetes vatikanisch-multinationales Konzilsnetzwerk mittelfristig entwickelt hat, eignen sich die deutsch-polnischen Beziehungen 1965-1987 besonders gut.

Aus deutscher Sicht umfassen diese Jahre die Amtszeit der beiden Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Julius Döpfner (1965-1976) und Joseph Höffner (1976-1987). Auf polnischer Seite soll Karol Wojtyła, der Erzbischof von Krakau (1964-1978), näher betrachtet werden, der nicht nur in unserem Untersuchungszeitraum – von seinem Engagement für den Briefwechsel 1965 bis zu seinen beiden Deutschlandbesuchen als Papst Johannes Paul II. 1980 und 1987 – einer der wichtigsten Gesprächspartner für deutsche Katholiken gewesen ist und der Lage der katholischen Kirche in Deutschland außergewöhnliche Aufmerksamkeit gewidmet hat. Unter dem Gesichtspunkt der bilateralen Beziehungen handelt es sich einerseits um die Zeit der wichtigen ostpolitischen Veränderungen und andererseits um die entscheidende Phase der Transformation des katholischen Polen am Ende des kommunistischen Nachkriegseuropas.

4. Konflikt und Versöhnung 1965

Bei einer Generalaudienz in Rom würdigte der ehemalige Erzbischof von Krakau, in dessen Diözese das Vernichtungslager Auschwitz lag, – inzwischen Papst Johannes Paul II. – am 28. November 1990 in einem polnischen Grußwort die Bemühungen der deutschen und der polnischen Kirche um Versöhnung, als einen bedeutenden Beitrag zum Wiederaufbau einer „moralischen Einheit Europas“. Die „prophetische“ Botschaft von 1965 sei ein Pionierschritt für die Aussöhnung in Frieden und Gerechtigkeit gewesen.21

Erzbischof Józef Michalik und Karl Kardinal Lehmann zogen 2005 in einer Gemeinsamen Erklärung zum 40. Jahrestag des Briefwechsels das Fazit:

„‘Wir vergeben und bitten um Vergebung‘. In diesem Wort gipfelte 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Versöhnungsbotschaft. Dieser Satz hat höchste Wirkmächtigkeit entfaltet und sich tief in das historische Bewusstsein der Völker eingegraben. […] Dieser Briefwechsel hat Sprachlosigkeit überwunden.“22

Aus der Sicht des Jahres 1965 musste man zwangsläufig noch zu einer anderen Einschätzung kommen. Für die Zeitgenossen beherrschten Streit und Konflikt, Spannungen und Missverständnisse die Szene, die Konflikte der Vergangenheit dominierten die Tagesordnung der Gegenwart. Die Polnische Bischofskonferenz hatte 1965 zunächst zum „20. Jahrestag des Aufbaus ‚polnischen Kirchenlebens in den West- und Nordgebieten am 1. September 1965‘ an die Neuorganisierung des kirchlichen Lebens in den polnischen Westgebieten durch Kardinal Hlond erinnert und behauptet: „Diese Entscheidungen wurden von Rom approbiert.“23 Die bevorstehenden Feierlichkeiten des Millenniums „werden ein besonderer Ausdruck der allgemeinen Überzeugung und eine Manifestation des Willens des polnischen Gottesvolkes – der Bischöfe, Priester und Gläubigen – sein, eine Manifestation des ungebrochenen Willens, in diesem Gebiet auszuharren, da diese Erde untrennbar mit dem polnischen Mutterland vereint ist.“24 Dies sei, so der Primas, „Standpunkt aller Kinder des polnischen Volkes, die ohne Rücksicht auf ihre politische Orientierung und Weltanschauung, im Sinne der natürlichen Gerechtigkeit die Westgebiete als untrennbar vereint mit dem polnischen Mutterland erachten.“ Papst Johannes XXIII. habe die Westgebiete als „nach Jahrhunderten wiedergewonnene Erde Polens“25 bezeichnet. In einer provozierenden Predigt im Breslauer Dom am 31. August 1965 vertrat Kardinal Wyszyński die Meinung:

„Alles, was Kardinal August Hlond tat, geschah mit der höchsten Billigung des Heiligen Stuhles. Ich bin authentischer Zeuge eben dieser Haltung des Heiligen Stuhles, des Heiligen Vaters Pius’ XII., Johannes’ XXIII. und Pauls VI., dessen segnende Haltung in Bezug auf unsere kirchliche und religiöse Arbeit in den Westgebieten unverändert treu ist, für uns sehr wertvoll, voller Verständnis und geistiger Approbation.“26

„Wenn wir auf die Heiligtümer der Piasten schauen, uns hineinfühlen in ihre Sprache, dann wissen wir: bestimmt ist das kein deutsches Erbgut, das ist polnische Seele. Daher waren sie niemals und sind kein deutsches Erbgut! Sie reden zum polnischen Volk ohne Kommentar. Wir brauchen keine Erklärungen, ihre Sprache verstehen wir gut.“27

Diese Äußerungen stimmten fast wortidentisch mit einer Predigt Wyszyńskis im Breslauer Dom vom 29. Mai 1952 überein: „Wir sind in unser Eigentum zurückgekehrt, als rechtmäßige Eigentümer; wir kamen hierher zurück aufgrund der richterlichen Entscheidung der göttlichen Gerechtigkeit.“ Und weiter: