Schattenkrieg der Patrioten

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Schattenkrieg der Patrioten
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Schattenkrieg der Patrioten





Germania – Chroniken des 3. Weltkriegs





„Klappentext“



Der kalte Krieg wird heiß und der Warschauer Pakt überfällt Westdeutschland. Johann von Falk, ein junger Soldat muss mit ansehen wie sein Vaterland von den Kommunisten überrannt wird. Kurz darauf findet die deutsche Wiedervereinigung unter sozialistischer Flagge statt. Angesichts dieser Entwicklungen bleibt Johann nur eine Möglichkeit. Zum Kampf entschlossen taucht er in den Untergrund ab. Er findet Sinnesgenossen, doch die Welt der Partisanen ist auch voll von Entbehrungen und Verrat.





„Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin – dann kommt der Krieg zu euch!“ (Carl Sandburg, ergänzt von einem anonymen Dichter)





„Schattenkrieg der Patrioten“ ist ein gedankliches Experiment, das in einer fiktiven Gegenwart spielt. Was wäre passiert, wenn der Kalte Krieg 1990 nicht geendet hätte? Wäre es jemals zum 3. Weltkrieg gekommen? Was hätte es für die deutsche Bevölkerung bedeutet, wenn die BRD zum Schlachtfeld zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt geworden wäre?





Impressum:



Text/Copyright: Jonas Wiedmann, 2016



Kontakt:

j.wiedmann.autor(at)gmail.com





Lektorat: Martina Takacs



Umschlaggestaltung: Casandra Krammer



Umschlagmotiv: Shutterstock.com





ISBN (E-Book): 978-3-7375-8870-6



ISBN (Taschenbuch): 978-3-7375-8867-6



Erstauflage 2016



Druck & Vertrieb: Neopubli GmbH, Prinzessinnenstraße 20, 10969 Berlin





Stillgestanden!



„Ja, bist du deppert, so eine Scheiße hab ich ja noch nie erlebt“, stöhnte Anton.



„Und was ist mit der Scheiße von gestern oder mit der von vorgestern?“, feixte Johann.



„Hör mir bloß auf. Ich könnt kotzen“, erwiderte Anton mit einem Ausdruck in den Augen, der alle Anwesenden befürchten ließ, dass seinen Worten gleich Taten folgen würden.



Eine vollständige Stille trat ein, in der keiner der sechs Mann einen Mucks machte. Diese sechs Mann, das waren Anton Meier, ein pummeliger, lieber Kerl, Sebastian Neumann, ein fußballbegeisterter Rekrut aus Frankfurt, der gerne auch mal etwas unkonventionell wurde, sich aber immer für das Team starkmachte, Stefan Imler, ein arrogantes, eingebildetes und verwöhntes Muttersöhnchen, Dennis Reimund, ein stiller und unkomplizierter Charakter, Mehmet Celik, ein kleinkrimineller Prolet, der ständig Ärger machte, und Johann von Falk.



Sie standen kerzengerade vor ihren Spinden, wie es ihnen ihr Gruppenführer, Unteroffizier Neuwirt, befohlen hatte, den Blick pfeilgeradeaus über ihr Vaterland, die Brust stolz herausgestreckt, den Arsch zum Nüsseknacken zusammengedrückt und die Füße in V-Formation.



Doch diese Stille dauerte ein paar Sekunden länger, als Stefan es ertragen konnte. „Jawohl Sir, wir knacken mit unserem Arsch Nüsse“, spottete er vor sich hin und wiederholte diesen Satz daraufhin wie ein Mantra. Dazu begann er in übertriebenem preußischen Stechschritt auf der Stelle zu marschieren. Er steigerte kontinuierlich die Geschwindigkeit sowohl seines Stechschritts als auch des Mantras. Mit zunehmendem Tempo wurde er auch immer lauter. Als er seine Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte, fing er an, seine überzogenen Stechschritte mit den Händen zu unterstützen. Jedes Mal, wenn sein rechter Fuß nach oben ging, salutierte er mit der linken Hand, und jedes Mal, wenn er den linken Fuß nach oben schleuderte, hob er parallel die rechte Hand zum Hitlergruß.



„Sagradi, jetzt reichts!“, fauchte Johann ihn an. „Stell dich gefälligst anständig hin! Oder willst du, dass wir deine Scheiße wieder ausbaden müssen? Ich hab keinen Bock, deinetwegen wieder irgend so einen Scheißstrafdienst aufgebrummt zu bekommen!“



Stefan, sichtlich nicht auf diesen scharfen Ton vorbereitet, fing prompt an, sich zu rechtfertigen: „Das muss ich machen. Anders halte ich den Psychopathen da draußen nicht aus. Macht er dich nicht auch wahnsinnig?“



Schon viel ruhiger, aber immer noch genauso bestimmend antwortete Johann: „Jetzt beruhig dich mal. In zwölf Wochen ist die Grundausbildung abgeschlossen, dann kommt jeder in seine Stammeinheit und da geht’s dann wesentlich ruhiger zu. Also, die nächsten drei Monate werden noch genauso laufen wie der erste. Die Ausbilder werden versuchen, dich fertigzumachen, also reiß dich zusammen und nimm nicht alles persönlich, was die von sich geben.“



Darauf unterbrach sie Sebastian: „Anton, du trägst gar kein Namensschild!“



Der ohnehin schon käsebleiche Anton fasste sich an die Brust und fühlte den Klettverschluss seines fehlenden Namensschilds. Als er merkte, dass es wirklich fehlte, wechselte seine Käsebleiche schlagartig in Schneebleiche, die nun keinen Zweifel mehr daran offenließ, dass er innerhalb der nächsten sechzig Sekunden in die Stube kotzen würde. Ihm stockte der Atem, sodass er keinen Laut von sich geben konnte. Wie in einer paranoiden Trance stürzte er sich auf die Knie und tastete apathisch den Boden unter seinem Bett nach dem Namensschild ab.



Armer Junge, dachte sich Johann. Anders als gegenüber Stefan hatte er für die Tollpatschigkeit von Anton viel mehr Verständnis. Während Stefan ein arrogantes, überbehütetes Scheidungskind war, war Anton einfach nur ein gutmütiger Tollpatsch. Jemand, der niemandem etwas Böses wollte und nicht damit umgehen konnte, wenn einer Streit suchte. Mein Gott, welcher Vollpfosten konnte so jemanden wie Anton zum Wehrdienst zwingen, fragte sich Johann. Stefan hingegen gönnte er es auf eine gehässige Art und Weise, dass er mal so richtig schmerzlich erfuhr, dass er nicht der Mittelpunkt des Universums war.



Anton kroch immer tiefer unter sein Bett. Anscheinend hatte er sein Namensschild entdeckt. Allerdings hinderte ihn sein Bauch daran, tief genug darunterzukriechen, um es hervorzuholen. Mit aller Gewalt zwängte er seinen rechten Arm und seinen Kopf unter das Bett, was zur Folge hatte, dass ihm die Feldbluse immer weiter hochrutschte. Das war an und für sich in dieser Situation nichts Ungewöhnliches, allerdings schien das westdeutsche Verteidigungsministerium über keine Uniform zu verfügen, die sinnvoll zu Antons wassertropfenförmigem Körperbau passte. Deshalb zog sich nicht nur seine Feldbluse nach oben, sondern in der aktuellen Lage reichte auch seine Feldhose nur aus, um die Hälfte bis drei Viertel seiner Arschbacken zu verdecken. Daran konnten auch die Hosenträger nichts ändern.



Dies führte zu einem seltsamen Gesamtbild: Anton, wie er, von dem Wunsch getrieben, sein Namensschild zu erreichen, unter dem Bett festhing und das obere Drittel seines Arsches zwischen Hose und Bluse herausragte. Da es sich bei dem Protagonisten dieser Darbietung nicht um eine schlanke junge Frau, sondern um Anton handelte, war dieses Bild einfach nur grotesk und lustig und hatte doch zugleich etwas Bemitleidenswertes.



„Verdammte Axt! Stellen Sie sich gefälligst anständig hin!“, waren die ersten Worte, die Anton zu hören bekam, als plötzlich scheppernd die Tür aufflog und Unteroffizier Neuwirt mitten im Zimmer stand.



„Sind Sie total bescheuert? Wollen Sie, dass ich Sie wegen Gehorsamsverweigerung fertigmache? Wollen Sie vors Militärgericht? Ich hatte Ihnen befohlen, im Stillgestanden stehen zu bleiben, scheißegal, was passiert! Und was machen Sie? Sie kriechen wie ein erbärmlicher Wurm am Boden und strecken mir Ihren hässlichen Arsch entgegen. Sind Sie total bescheuert? Machen Sie endlich, dass sie hochkommen!“



Unteroffizier Neuwirt stand wie eine rasende Wildsau mitten im Raum, völlig losgelöst von jeglicher Beherrschung, ganz in seinem Element. Damit war in diesem Augenblick Antons schlimmster Albtraum wahr geworden. Mit einem Schreck, der jeden Rentner ins Grab gebracht hätte, sprang er auf. Seine Angst vor Unteroffizier Neuwirt war so groß, dass er es gar nicht bemerkte, wie er mit dem Hinterkopf die Bettkante mitnahm. Vor Schock wie gelähmt, stand er im Bruchteil einer Sekunde kerzengerade vor dem Unteroffizier, genau so, wie dieser befohlen hatte: den Blick pfeilgeradeaus übers Vaterland, die Brust stolz herausgestreckt und die Arschbacken zum Nüsseknacken zusammengedrückt. Unteroffizier Neuwirt trat an Anton heran und schaute ihm in die Augen. Langsam kam er mit seinen eigenen Augen denen von Anton immer näher. Mit jedem Millimeter, den er sich Anton näherte, strahlte er mehr von dem Temperament und der Intelligenz einer amoklaufenden Wildsau aus. Als seine Pupillen einen halben Zentimeter vor Antons waren, fragte er langsam und mit bösartiger Stimme: „Schütze Meier, wollen Sie mich verarschen?“



Das war zu viel für Anton, und es passierte, was Johann schon die ganze Zeit innerlich prophezeit hatte: Anton übergab sich.





Politische Bildung bei der Schutzinfanterie



„Die Schutzinfanterie ist die neuste Waffengattung der Bundeswehr, und Sie, Sie Unwürdigen, sind Teil davon. Sie sind keine Feldjäger, keine herkömmliche Infanterie und schon überhaupt keine affige Luftwaffensicherungsstaffel. Sie sind die Garde der neusten und heiligsten Waffe der Bundeswehr. Dass man sie mit dieser Aufgabe betraut, kann auch nur einem Verteidigungsminister einfallen, der sich selber gedrückt hat. Aber das blüht einem Land nun mal, wenn man Wehrdienstverweigerer in die Politik lässt.“



Unteroffizier Neuwirt war wieder so richtig in Fahrt und es machte ihm Spaß. Der gesamte Zug stand in Reih und Glied im Gang und musste sich seinen Schwachsinn anhören. Johann hatte längst aufgehört, diesen Unteroffizier ernstzunehmen. Ignorieren konnte man ihn leider nicht. Er war eines von diesen Ärgernissen im Leben, die halt da waren. Aber die paar Wochen bis zum Ende der Grundausbildung und zur Versetzung in eine Stammeinheit würde er diesen Idioten auch noch aushalten. Dennoch, der Idiot hatte recht mit seinem Kommentar, dass es nicht besonders intelligent war, einfache Wehrpflichtige mit der Bewachung von Atombomben zu beauftragen.

 



„Wie auch immer, es ist meine Aufgabe, aus Ihnen richtige Männer – äh, Entschuldigung – richtige Soldaten zu machen“, krakelte er und warf ein gehässiges Lächeln und einen kurzen missbilligenden Blick in Richtung Anita Mansdotter.



Anita Mansdotter war eine junge Frau von zwanzig Jahren, die aber auf den ersten Blick wie ein rebellisches kleines Mädchen aus einem Fantasyroman wirkte. Sie hatte Johann mal bei einem Bier im Mannschaftsheim erzählt, dass sie halb Schwedin, halb Deutsche sei. Er fragte sich, ob das der Grund war, warum sie ihn immer an Ronja Räubertochter aus Astrid Lindgrens Roman erinnerte. Auf jeden Fall waren Anita, Fatma Anja Kaymaz, eine Deutsch-Türkin, Sabine Kolb, eine hübsche Frau mit Einser-Abitur, die es liebte, die dumme Blondine zu spielen, und die korpulente Claudia Hofer die einzigen Frauen im Zug. Unteroffizier Neuwirt machte keinen Hehl daraus, dass das für seinen Geschmack vier Frauen zu viel waren.



Danach protzte er großkotzig weiter: „Sie sind eine Garde und damit eine Elite, also verhalten Sie sich gefälligst auch so. Die Schaffung der Schutzinfanterie war einer der Hauptgründe, warum die übergeordnete Führung die Grundausbildung von drei auf vier Monate verlängert hat. Nach dieser Ausbildung werden Sie militärische Konvois begleiten und beschützen. Und jeder Mann unter Ihnen“, dabei schweifte sein Blick wieder gehässig über die vier weiblichen Kameraden, „schuldet seinem deutschen Vaterland zwölf Monate. Seien Sie froh. Die Generationen vor Ihnen haben fünfzehn Monate gedient, was auch wesentlich sinnvoller war.“



Johann konnte sich den Rest des Monologs denken. War ja nicht das erste Mal, dass Unteroffizier Neuwirt es genoss, dass die Rekruten ihm zuhören mussten. Ja, was der Unteroffizier daheim nicht ist, das ist er in der Kaserne, dachte er sich. Auf jeden Fall kam nun wieder die Standardpredigt, dass die Schutzinfanterie die neue Supergarde der Bundeswehr sei und sie alle unwürdig seien, um in ihr zu dienen, bla, bla, bla. Er kannte diesen Teil des Vortrags mittlerweile auswendig. Im Kern fand er das Thema auch heikel, wahrscheinlich noch um einiges heikler als Unteroffizier Neuwirt. Wie viele Deutsche wusste er nicht, ob er die nukleare Bewaffnung der Nation gut finden sollte oder nicht. Trotzdem genoss er die hitzige Diskussion, die in der gesamten Bundesrepublik über dieses Thema entbrannt war. Aber wenn dieser Unteroffizier über so ernste Themen wie die nukleare Bewaffnung referierte, dann fühlte es sich so an, als würde eine gehirnamputierte Wildsau versuchen, einem höhere Mathematik beizubringen. Umso froher war er, als plötzlich Oberleutnant Bergmann auf ihrem Flur erschien.



Bergmann war ein schmaler, kleiner Mann. Man merkte erst auf den zweiten Blick, dass seine Autorität nicht ausschließlich von seinem Dienstgrad herkam. Wenn man sich erst mal an seine schmächtige Gestalt gewöhnt hatte, merkte man, dass seine Augen etwas Ruhiges, Gelassenes und Unnachgiebiges hatten.



Unteroffizier Neuwirt brach schlagartig mitten im Satz ab, streckte seine Brust schwungvoll hervor und brüllte: „Zweiter Zug stillgestanden!“



Es gab einen lauten Hall durch den Gang, als alle dreißig Soldaten des 2. Zugs gleichzeitig im Stillgestanden aufstampften. Unteroffizier Neuwirt drehte sich um neunzig Grad zu Oberleutnant Bergmann, salutierte stramm und verkündete mit überzogenem Ton, den er selbst als Einziger ernst nahm: „Herr Oberleutnant Bergmann, melde zweiten Zug vollständig angetreten.“



Oberleutnant Bergmann erwiderte den Gruß und sagte mit gelassener, aber dafür erst zu nehmender Autorität: „Rühren. In zehn Minuten zur PolBil im Schulungsraum. Bis dahin Feuer frei. Wegtreten.“



Alle Raucher stürmten sofort vor das Kompaniegebäude in die Raucherecke. Johann folgte ihnen, wenngleich er seit zwei Jahren überzeugter Nichtraucher war. Aber diese kurzen Pausen in der Raucherecke genoss er. Es war eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass die Ausbilder die Rekruten während der Raucherpause nicht drangsalierten. Zehn Minuten, in denen man nicht grundlos von jedem Vorgesetzten, der einem über den Weg lief, mit sinnlosen Aufträgen schikaniert oder wegen Nichtigkeiten angebrüllt und bestraft wurde. Diese kurzen Pausen genoss auch er als Nichtraucher. Er stellte sich neben Rüdiger Schmidt, einen angenehmen, freundlichen und zuvorkommenden Kameraden mit einem leichten Muttersöhnchen-Touch. Der bot im sogleich eine Zigarette an.



„Nein danke, Ich rauch nicht“, lehnte Johann ab.



„Sicher, dass du trotzdem keine magst?“



„Ja, ich darf nicht. Ich bin Exraucher. Wenn ich eine rauche, dann bin ich sofort wieder richtiger Raucher.“



„Respekt, falls du das durchhältst.“



„Noch drei Wochen, dann bin ich seit zwei Jahren clean.“



„Wie lang hast du geraucht?“



„Fast zwei Jahre.“



„Und das ging so einfach mit dem Aufhören?“



Bei Rüdiger war es genau so, wie bei fast allen Rauchern. Im Grunde seines Herzens wünschte er sich, er hätte mit diesem Laster nie angefangen.



„Mit dem Rauchen aufzuhören ist kinderleicht, das habe ich schon hundertmal gemacht“, spottete Dennis Reimund herüber.



„Nettes Mark-Twain-Zitat“, warf Johann zurück, in der festen Annahme, dass Dennis keine Ahnung hatte, wer Mark Twain war, geschweige denn, dass er ihn mit seinem plakativen, irgendwo aufgeschnappten Spruch hätte zitieren wollen. Mit dieser Annahme lag er auch richtig.



„Mark was?“, fragte Dennis mit übertrieben dummem Geschichtsausdruck, der zu deutlich seine Intention verriet, Unwissenheit als Coolness darzustellen.



„Hey Alter! Mark Twain, der Typ, der Huckleberry Finn und Tom

Sawyer

 geschrieben hat!“, brüllte Fatma lachend heraus. Dabei äffte sie Dennis’ aufgesetzte Dummheit nach.



Johann ignorierte die Entwicklung des Gesprächs und wendete sich wieder Rüdiger zu. „Also, pass auf. Wenn du mit dem Rauchen aufhören willst, dann ist das im Prinzip ganz einfach. Du musst es nur wirklich wollen. Wenn dem so ist, dann setzt du dir einen Stichtag, an dem du aufhören wirst. Bis zu diesem Stichtag rauchst du ganz normal weiter und genießt es, denn danach darfst du dein restliches Leben nie wieder rauchen, keinen einzigen Zug. Verstanden?“ Johann schaute Rüdiger fragend an.



Rüdiger nickte mit fragendem Blick und gab einen zustimmenden Laut von sich.



„Also, es funktioniert folgendermaßen: Wenn du auf Entzug bist, dann wirst du dich immer selber anlügen. Du wirst immer anfangen, vor dir selber zu argumentieren, dass eine Zigarette oder zwei oder drei pro Tag okay sind oder dass du diesen einen Tag doch wieder rauchen kannst und am nächsten mit dem Aufhören weitermachen. Deshalb hören die meisten Menschen nie auf. Wenn man einmal richtiger Raucher war, dann gibt es kein Nichtraucherdasein mit ab und zu mal einer Gelegenheitszigarette. Vor allem riech jetzt mal an deinen Fingern, zieh danach noch mal an deiner Zigarette und konzentrier dich mal wirklich auf den Geschmack. Mit Geschmack mein ich nicht das Gefühl, das dein Körper aussendet, wenn er mit Nikotin versorgt wird, sondern den puren Geschmack deiner Zigarette. Analysier diesen Geschmack mal genau und frag dich dann, ob du den gut findest. Das Gleiche ist es morgens, wenn du deine erste Zigarette rauchst. Dieses Gefühl, wenn du bei den ersten Zügen merkst, wie das Gift durch deine Adern schießt. Man spürt richtig, wie giftig das Rauchen ist, wenn man sich nicht von der Suchtbefriedigung in diesem Augenblick ablenken lässt. Deshalb ist es wichtig, dass du dieses Gefühl analysierst und dir einprägst, bevor du aufhörst, denn immer, wenn die Sucht dich überkommt, musst du diese eingespeicherte Erinnerung abrufen.“



Johann blickte völlig in Fahrt auf zu Rüdiger und erwartete jetzt dessen intelligenten Einstieg auf seinen Monolog hin, aber es kam nichts. Es war offensichtlich, dass Rüdiger diese Erwartung spürte, er aber keine intelligente Antwort parat hatte.



Dann sagte plötzlich Dennis: „Los Leute, in einer Minute müssen wir antreten.“



Kurz darauf fanden sich alle Rekruten im Klassenzimmer ein und der Gefreite vom Dienst meldete Oberleutnant Bergmann den 2. Zug als vollständig angetreten zur PolBil.



Es war faszinierend, wie viele beamtendeutsche Begriffe sie für alles Mögliche in den letzten Wochen aufgeschnappt hatten. Dass sich keiner die Mühe machte, den Terminus „politische Bildung“ auszusprechen, sondern jeder nur noch das zweisilbige „PolBil“ benutzte, war harmlos. Es gab aber auch andere Beispiele. Seit Kurzem hieß eine stinknormale Schubkarre „Ein-Rad-zwei-Hand-drei-Seiten-Kipper“. Das hatte zwar anfänglich kurz zu Verwirrung geführt, aber ehe man sichs versah, schoss auf einmal jeder mit den unterschiedlichsten dienstvorschriftskonformen Unwörtern um sich. Johann hatte diese Sprachvergewaltigung mal versehentlich als Bundeswehrneusprech bezeichnet, aber zu seinem Glück war Unteroffizier Neuwirt nicht in der Lage gewesen, den Namen George Orwell und die Jahreszahl 1984 in einen semantisch sinnvollen Zusammenhang zu bringen.



Die Stimmung im Klassenzimmer war diszipliniert, aber entspannt. Im Vergleich zu Unteroffizier Neuwirt hatte der Oberleutnant auch ein Hirn hinter den Augen. Er ließ zwar ebenfalls keinen Widerspruch zu, aber dafür kritische Fragen. Vor allem kannte er den Unterschied zwischen kritischem Hinterfragen und Widersprechen. Hinter dem Oberleutnant stand das Thema des heutigen Tages an der Tafel. Es hieß „Der Kalte Krieg und die nukleare Bewaffnung der BRD“. Erst hielt der Oberleutnant einen Vortrag über die Geschichte zwischen Ost und West. Er holte sehr weit aus und fing beim Ende des Zweiten Weltkriegs an. Dabei ging er alle relevanten geschichtlichen Daten durch: die Gründung der Bundeswehr 1955, den Mauerbau in Berlin 1961, die Kubakrise von 1962, den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung von amerikanischen Pershing-Raketen in Westdeutschland im Jahr 1979, das Beinahe-Desaster von Able Archer 1983, als ein „internationales Missverständnis“ fast einen nuklearen Schlagabtausch ausgelöst hatte, Glasnost und Perestroika


1985 in der Sowjetunion und 1989 die Hoffnung auf die deutsche Wiedervereinigung.



Es war sehr mitreißend, wie der Oberleutnant die Hintergründe des sowjetischen Bürgerkriegs von 1989 bis 1993 erklärte, der jede Hoffnung auf ein vereinigtes Deutschland zerstört hatte. Geschickt baute er in seinen Geschichtsvortrag ein kurzes Video ein. Es zeigte den „Bloody Monday“ von 1990, als die Nationale Volksarmee der DDR – kurz NVA – während einer Montagsdemonstration ein Riesenmassaker angerichtet hatte. Johann kannte das Video. Auch wenn er erst einige Jahre nach 1990 geboren wurde, waren ihm wie jedem westdeutschen Schüler mit Abiturleistungskurs Geschichte das Video und auch das Schicksal des Mannes bekannt, der es in den Westen geschmuggelt hatte.



„Wir haben ja bis 1993 fest darauf spekuliert, dass der Kommunismus von selbst zerfällt und die Sowjetunion sich in einen Haufen kleiner unbedeutender Staaten auflöst“, gestand der Oberleutnant ein und fuhr fort. Er leitete aus verschieden Fakten her, wie es kommen konnte, dass 1993 der politische Newcomer Josef Ivan Chudojarow die am Boden liegende und ausblutende Sowjetunion einte und die zweite Ära des Stalinismus einläutete.



Die Rekruten hörten ihm gespannt zu. Der Oberleutnant wäre ein guter Geschichtslehrer geworden. Zwar erzählte er nichts, was man nicht schon mal in der Schule gehört hätte, aber er schaffte es, die historischen Fakten in einem ganz neuen Licht erscheinen zu lassen. Es wurde auf einmal viel deutlicher, warum, wann und wo welche Kräfte wie gewirkt hatten und warum der Bürgerkrieg in der Sowjetunion die Wiedervereinigung Deutschlands verhindert hatte. Es fiel Johann schwer, bei der Darlegung des Oberleutnants einen Punkt zum Einhaken zu finden. Seine Darstellung der Geschichte war so aalglatt, dass sie keine Lücken oder logischen Brüche erkennen ließ. Sie war einfach und schlüssig und dennoch sehr detailliert. Es war verlockend, sie als Weltbild anzunehmen, eine einfache Darstellung von einer komplexen Welt, in der es ein unwiderlegbares Richtig und Falsch gab. Aber es widerstrebte Johann, dieses Weltbild einfach so anzunehmen, gerade weil es so aalglatt war wie eine perfekt durchdachte Verkaufspräsentation. Eine fehlerfreie Geschichte, deren Quintessenz es war, dass der Osten nur böse und der Westen nur gut war, konnte er nicht akzeptieren. Das widersprach seinen neunzehn Jahren Lebenserfahrung.

 



Nachdem er mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts fertig war, stellte Bergmann den Bezug zu der heutigen Ausgangssituation her. „Was wissen Sie über die nukleare Bewaffnung der Bundesrepublik? Man kann ja zurzeit alles Mögliche über dieses Thema in der Presse lesen. Hat jemand von Ihnen sich mal eine Bundestagsdiskussion dazu angeschaut?“



Es kamen einige Wortmeldungen von den Rekruten. An den Aussagen konnte man viel über den geistigen Hintergrund der Kameraden ableiten. Es zeigte sich sehr schnell, wer regelmäßig Zeitung las, und vor allem, welche Zeitungen die verschiedenen Kameraden lasen. Geduldig ließ Oberleutnant Bergmann alle aussprechen. Nachdem jeder Auskunftswillige seine politische Meinung offenbart hatte, fasste er die unterschiedlichen Wortmeldungen zusammen. Dann ergänzte oder korrigierte er noch die eine oder andere Behauptung mit Fakten. Rhetorisch gut aufgebaut, Respekt, dachte sich Johann.



Bergmann fuhr fort: „Also, zusammengefasst haben wir hier zwei unterschiedliche Punkte. Der eine ist die Einführung der neuen Mittelstreckenrakete Arminius, der andere ist, ob wir diese Arminius-Raketen mit nuklearen oder mit konventionellen Sprengköpfen bestücken. Was man aktuell in der Presse über die Nuklearköpfe liest, halte ich ehrlich gesagt großteils für unnötiges Panikschüren. Das hilft vielleicht den Absatzzahlen einer Redaktion, aber nicht der BRD.“



„Das ist nun mal der Preis der Demokratie, dass jeder eine Meinung haben darf, auch wenn er keine Ahnung hat“, bestätigte ein Kamerad aus der ersten Reihe den Oberleutnant.



„Schleimer“, war Sebastians leiser Kommentar zu dem Beitrag des Kameraden. Johann, der neben Sebastian saß, musste grinsen.



Oberleutnant Bergmann nahm die Bestätigung auf und korrigierte sie: „Generell gebe ich Ihnen recht. Es ist der Preis der Demokratie, dass jeder eine Meinung haben darf, notfalls auch ohne Ahnung. Auch wenn es nicht immer schmeckt, ist das gut so, denn sonst wären wir wie die Kommunisten. Aber in dem speziellen Fall der Presse geht es weniger darum, ob die eine Ahnung haben, sondern mehr darum, welche Intentionen sie mit ihrer Meinung verfolgen. Stellen Sie sich einfach mal vor, Sie wären für die Absatzzahl einer Zeitung verantwortlich, und dann fragen Sie sich, ob sie Massenpanik gut finden oder nicht.“



Die Soldaten grinsten. Johann beobachtete Bergmann genau. Der war sich der rhetorischen Wirkung seiner Anschuldigung bewusst und wartete ein paar Sekunden, bis der provokante Kommentar seine kleine psychologische Wirkung in dem Klassenzimmer voll entfaltet hatte.



Dann fuhr er fort: „Betrachten wir mal nüchtern den Status quo. Seit dem NATO-Doppelbeschluss haben wir eine nukleare Teilhabe. Dies bedeutet, dass unsere Verbündeten aus Amerika in unserem Land nukleare Mittelstreckenraketen stationieren. Man braucht zwei Schlüssel, um die Raketen zu starten. Einen haben die Amerikaner, den anderen haben wir. Warum ist das so?“ Er schaute kurz in die Runde. Nachdem keine Reaktion kam, setzte er seine Erklärung fort. „1979, lange bevor Sie geboren wurden, hatte man folgende Situation: Zwischen Amerika und der UdSSR gab es seit 1972 ein Abkommen über die Begrenzung von nuklearen Interkontinentalraketen. An sich eine schöne Sache; hat aber einen Haken. Die Vereinbarung beinhaltet keine Klausel bezüglich nuklearer Mittelstreckenraketen, sondern es geht in diesem Abkommen ausschließlich um Langstreckenraketen. Das hat damals auch keine der beiden Parteien interessiert. Schließlich kann man mit einer Mittelstreckenrakete weder von Washington nach Moskau noch von Moskau nach Washington schießen. Wir Europäer waren damals nicht zu den Verhandlungen eingeladen. Das Problem war, dass die Sowjets entlang der Grenze ihre SS-20-Raketen aufgestellt und somit ein Ungleichgewicht geschaffen haben. Es gab zwar ein Gleichgewicht zwischen Amerika und der UdSSR, aber nicht zwischen Europa und der UdSSR. Deshalb haben wir die nuklearen Mittelstreckenraketen gebraucht. Wie auch immer, vierundzwanzig Jahre nach dem Krieg hatten auch unsere Verbündeten noch nicht so viel Vertrauen in uns, dass sie uns Atombomben erlauben wollten. Deshalb haben wir uns damals mit den Amis auf den Zweischlüsseldeal und die Pershing-II-Raketen eingelassen. Wir wollten aber damals eigentlich gar keine Atommacht werden. Die Idee war eine ganz andere. Man hat sich damals gedacht, dass w