Schattenkrieg der Patrioten

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Jetzt stellen Sie sich mal vor, der zahlenmäßig überlegene Sowjet fällt mit seiner Roten Armee in Deutschland ein und unsere konventionelle Verteidigung scheitert. Was wäre dann? Gehen Sie mal von dem heutigen Szenario A aus, wir haben einen Schlüssel für die Nuklearwaffen in Deutschland und die Amis haben den zweiten. Und dann vergleichen Sie das mit dem möglichen anderen Szenario B, in dem wir beide Schlüssel haben. Das hätte dann sehr wohl einen Einfluss auf den Einsatz der Atombomben. Und weil der wilde Ivan das weiß, wird er uns auch niemals angreifen, sobald wir eigene nukleare Waffen besitzen.“

Die Klasse schwieg. Der Vortrag hatte gesessen. Oberleutnant Bergmann hatte sein Ziel erreicht. Die jungen Rekruten fühlten sich, als stünden sie mit dem Rücken an der Wand. Johann wurmte die perfekte Verkaufsshow für Atombomben, deshalb suchte er nach einem Gegenargument. Ihm fiel spontan nichts ein, also fragte er den Oberleutnant, in der Hoffnung, ihn zu einem weiteren Vortrag zu bewegen, der möglicherweise logische Brüche haben würde: „Und was hat es mit der Arminius-Rakete auf sich?“

Der Oberleutnant durchschaute Johanns Vorhaben und nahm mit vielsagendem Grinsen die Herausforderung an. „Wie Sie alle wissen, führen wir gerade die A2 als Nachfolgemodell der alten Arminius-Rakete A1 ein. Die A2, die letzte Woche der Welt vorgestellt wurde, ist die erste vollständige Stealth Missile, also eine Tarnkappenrakete, die von keinem Radar erfasst werden kann. Aktuell haben wir sie nur mit konventionellen Gefechtsköpfen bestückt. Die können problemlos eine Kaserne, ein Kriegsschiff oder ein Regierungsviertel ausschalten. Aber sie können keine Atombunker knacken und keine Städte vernichten. Rein technisch könnte man die A2 problemlos auch mit nuklearen Köpfen bestücken. Mit konventionellen Sprengköpfen eignet sie sich nur als Angriffswaffe. Man könnte, ohne dass der Feind Zeit zum Reagieren hat, seine Raketenstellungen außer Gefecht setzen und seine Möglichkeiten zu einem Gegenschlag massiv einschränken. Mit nuklearen Sprengköpfen ist sie eine super Verteidigungswaffe, die es absolut uninteressant macht, die BRD anzugreifen.“

„Wieso? Reicht da die Pershing II nicht aus? Wenn der Feind eh schon zugeschlagen hat, welchen Unterschied macht es, ob er auf seinem Radar erkennen kann, dass er heute als Zweiter sterben wird?“

„Nun, eine auf dem Radar sichtbare Mittelstreckenrakete kann vielleicht in der Luft abgefangen werden, eine auf dem Radar unsichtbare Rakete hingegen keinesfalls.“

„Aber was ist dann mit dem Gleichgewicht?“

„Wie meinen Sie das, Schütze von Falk?“

„Also, Herr Oberleutnant, das nukleare Gleichgewicht, das Sie angesprochen haben … Was passiert damit, wenn wir auf einmal die Möglichkeit haben, die Sowjetunion auszuradieren, ohne dass sie die Gelegenheit haben, zurückzuschlagen, wir dagegen aber auf einen Erstschlag der Sowjetunion mit einem Gegenschlag antworten können? Wäre es dann für die Sowjetunion nicht interessant, bei einem Schlagabtausch unbedingt der Erste zu sein, der auf den roten Knopf drückt? Und wäre es deshalb nicht auch für uns interessant, in jedem Fall den Erstschlag auszuführen, bevor die Sowjetunion dies tut? Und wäre es in dieser Lage nicht für beide Seiten logisch, sofort zuzuschlagen?“

„Schütze von Falk, glauben Sie mir, diese Diskussion wurde bereits in anderen Kreisen in epischer Breite geführt. Das Fazit ist einfach. Schießen die Sowjets als Erste, dann sterben alle. Schießen wir zuerst, dann sterben nur die Sowjets. Es gibt nur einen kleinen Schönheitsfehler. Die Sowjets haben noch genug Atom-U-Boote, die mit nuklearen Interkontinentalraketen irgendwo in den sieben Weltmeeren rumschwimmen. Der wilde Ivan weiß, dass wir seine U-Boote nicht aufklären können, solange sie irgendwo am Grund rumschwimmen und auf Abschussbefehle warten. Damit hat er noch genug in der Hand, um nicht gleich durchzudrehen und was Irreversibles zu begehen. Wir haben hier kein Ungleichgewicht, nur ein neues Gleichgewicht zu unseren Gunsten.“

Danach erklärte der Oberleutnant die PolBil als beendet und entließ die Klasse in die Raucherpause.

Zugfahrt ins Wochenende

Freitag, zwölf Uhr. Sie hatten eine anstrengende Woche hinter sich. Alle standen in Reih und Glied im Gang. Feldwebel Müller nahm gerade alle Stuben und Reviere ab. Dieses Ritual erfolgte immer freitags, wenn sie über das Wochenende Ausgang bekamen. Erst wenn alle Stuben und alle Reviere geputzt und auf Hochglanz poliert waren, gab es Ausgang.

Johanns Stube war für das Revier „Toiletten und Duschen“ verantwortlich. Nachdem sie mit ihren Spinden fertig waren, hatten sie das Revier aufgeteilt. Stefan und Anton hatten die Stube geputzt, Johann und Dennis die Toiletten geschrubbt und Sebastian und Mehmet die Duschen. Eigentlich wären Sebastian und Mehmet für die Toiletten zuständig gewesen, aber diese Aufgabe hatten sie schlichtweg abgelehnt. Sowohl das arrogante Muttersöhnchen Sebastian als auch der kleinkriminelle Gangster Mehmet waren sich hierfür zu fein. Johann und die anderen vier hatten keinen Bock, wegen der Zicken der beiden zu spät ins Wochenende zu kommen. Also hatten sich Johann und Dennis nach anfänglichen Streitereien zu einem Reviertausch bereit erklärt.

Feldwebel Müller trat aus den Duschen hervor, baute sich ihm Gang vor dem Zug auf und brüllte: „Zweiter Zug stillgestanden! Stube 1, 2, 3, 4 und 6 wegtreten ins Wochenende. Stube 5 bleibt im Gang. Sie müssen noch mal nachreinigen! Ausführung!“

In Windeseile verschwanden die Kameraden auf ihre Stuben, tauschten die Uniformen gegen zivile Kleidung, griffen sich ihre Reisetaschen und verschwanden durch den Hauptausgang des Kompaniegebäudes. Nur Johann und seine fünf Stubenkameraden standen nach wie vor im Stillgestanden im Gang.

Der Feldwebel fuhr fort: „Männer, was soll die Scheiße? Donnerbalken und Stube passt, aber die Dusche wird nachgereinigt! Um 13 Uhr komm ich zur Nachkontrolle. Wenn es dann nicht passt, gibt es die nächste Kontrolle um 17 Uhr. Wenn Sie also ins Wochenende wollen, dann machen Sie es diesmal gescheit!“

„Jawohl!“, antworteten die sechs Mann, wohl wissend, dass eine Diskussion zwecklos war.

Johann fluchte innerlich. Nachdem der Feldwebel weg war, schaute er Dennis und Mehmet böse an. „Vielen Dank!“, fauchte er. Es lag ihm noch einiges mehr auf der Zunge, aber er war nicht gut darin, Menschen die Meinung zu sagen, ohne dass die Sache eskalierte.

Mehmet machte einen auf cool und schnitt ihm eine Grimasse. Das machte Johann noch aggressiver. Sein Zug fuhr um 13.17 Uhr. Im Prinzip hatte er keine Chance mehr, ihn zu erwischen, wenn sie um 13 Uhr ins Wochenende entlassen wurden. Das hieße, er würde in Passau sehr lange auf seinen Anschlusszug nach Regensburg warten. Er schluckte seine Wut runter und sagte mit einem Blick in Richtung der beiden Übeltäter: „So, jetzt reinigen wir die Duschen zu sechst, und wehe, ihr zwei drückt euch!“

Mehmet schaute missmutig, folgte aber der Gruppe. In den Duschen fiel Johann schier die Kinnlade herunter. Dennis und Mehmet hatten den Boden nass gewischt und den Mülleimer ausgeleert. Mehr nicht. Eine oberflächliche Grundreinigung, die für eine Männer-WG sicher völlig ausreichend gewesen wäre, nicht aber für die Grundausbildung. Sie alle kannten das Spiel. Die Ausbilder suchten unverhältnismäßig penibel nach Schmutz. Zwar war der Feldwebel nicht so ein Arschloch wie ihr Gruppenführer, Unteroffizier Neuwirt, der sogar mal sein Barett über den Fußboden geschmissen hatte, um zu sehen, ob noch irgendein Krümel Staub daran hängen blieb, aber die Duschen sahen so aus, dass keiner der Ausbilder sie damit in das Wochenende entlassen würde. Die Duscharmaturen waren mit Kalkspuren überzogen, man konnte Zahnpastareste auf dem Spiegel erkennen, die Waschbecken waren schmutzig und eine leere Shampooflasche lag auf dem Fensterbrett.

„So, Männer, Stiefel und Socken ausziehen und los gehts“, befahl Johann, als wäre er seiner Stube vorgesetzt. Dann drehte er sich zu Sebastian und Mehmet um: „Wehe, einer von euch beiden drückt sich!“

Es war nicht Johanns Art, so direkt und offensiv Menschen verbal zu attackieren, allerdings hatte er jetzt die Schnauze voll. Sie hatten ja schon mit Sebastian und Mehmet nach deren überzogenen Befindlichkeiten die Reviere getauscht. Nicht mal dann hatten sie ihren Job richtig gemacht, und die gesamte Gruppe musste es ausbaden.

Sebastian erhob keinen Widerspruch, schaute leicht verlegen bis schuldig drein und nahm den Wischmopp. Mehmet hingegen reagierte sofort offensiv: „Willst du mich blöd anmachen?“

Typen wie Mehmet kannten nur eine Sprache. Er war einer dieser halbstarken Gangster, die sich ständig damit profilieren mussten, der Coolste und Stärkste zu sein. Wenn sie ihren Egotrip auslebten und man nett zu ihnen war, dann verstanden sie das als Schwäche. Sie akzeptierten nur zweierlei Menschen: diejenigen, die sich unterordneten, und die, die stärker waren als sie. Menschen wie Mehmet waren der Grund, warum Johann mit dem Boxen angefangen hatte. Sein Herz raste, weil er wusste, dass die Situation gleich eskalieren würde. Mehmet hatte wieder mal eine Grenze überschritten, und diesmal reichte es. Mit Mehmet war er schon des Öfteren aneinandergeraten. Er hatte jedes Mal klein beigegeben und mit jedem Mal fühlte sich Mehmet stärker und nahm sich mehr Rechte heraus. Wahrscheinlich wäre es am einfachsten und schnellsten gegangen, wieder nachzugeben und die Duschen ohne sein Zutun zu reinigen, aber das ging diesmal nicht. Zu viel war zu viel. Johann hatte ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken an eine Schlägerei mit Mehmet, doch sein Mut überwog. Er richtete sich auf, schaute Mehmet in die Augen und sagte in scharfem Ton zu ihm: „Du sollst die Schnauze halten und putzen!“

 

Mehmet reagierte, wie Johann es erwartet hatte. Er stürmte wild mit erhobenen Fäusten auf Johann zu. Darauf hatte Johann gewartet. Er ging einen kleinen Schritt diagonal nach vorn, wich damit Mehmets erstem Schlag aus und verpasste ihm mehrere Fausthiebe ins Gesicht. Mehmet stolperte von der Wucht der Schläge nach hinten und prallte gegen die Wand. Johann blieb stehen. Sein Gehirn war voller Adrenalin und sein Herz pochte. Er hatte sich zwar schon ein paar Mal in seinem Leben mit Proleten wie Mehmet geprügelt, aber nicht oft genug, als dass ihn so eine Situation kaltgelassen hätte. Mehmet fasste sich nicht mal ins Gesicht, sondern stürmte sofort wieder nach vorn und schlug mit der ganzen Kraft seiner rechten Faust nach Johann. Auch das hatte Johann erwartet. Er zwang sich, die kurze Starre in seinem Körper zu durchbrechen, und tauchte unter Mehmets Faust hinweg. Nun war er es, der mit seiner rechten Faust mit voller Wucht zuschlug, aber nicht ins Gesicht, sondern auf den Brustkorb, genau auf die Stelle, hinter der sich das Herz befindet. Er kannte die Wirkung nur zu gut. Durch so einen Treffer war er vor zwei Jahren bei der bayerischen Jugendmeisterschaft ausgeschieden. Seine Faust schlug in Mehmets Brustkorb ein und Mehmet ging sofort zu Boden, hielt sich die getroffene Stelle, rollte sich um die eigene Achse und japste nach Luft. Jetzt war das Eis gebrochen. Jetzt hatte Johann keine Angst mehr vor Mehmet, es blieb nur die nackte Wut. Er sprang auf ihn, setzte sich auf seinen Brustkorb, packte ihn mit der linken Hand an der Gurgel und schlug ihm mit der rechten Faust ins Gesicht, sodass Mehmet mit dem Hinterkopf auf den Boden knallte. Er holte zum zweiten Schlag aus und brüllte ihn an: „Was jetzt?! Wer macht jetzt wen blöd an?! Häh?!“

Mehmet schaute zur Seite und versuchte dadurch dem Blick von Johanns funkelnden Augen auszuweichen. Johann rutschte mit seiner Hand von Mehmets Kehlkopf zu dessen Kinn und drehte ihm den Kopf wieder so, dass sie sich gegenseitig anschauten.

„Schau mir gefälligst in die Augen!“, brüllte er weiter.

Die anderen vier standen stocksteif um die beiden herum. Johann hatte nicht vor, noch mal zuzuschlagen. Er wollte Mehmet nur Angst einjagen. Aber das wusste nur er.

Dennis war der Erste, der wieder handlungsfähig war. Er hielt Johanns Faust fest und beschwichtigte: „Komm, der hat genug!“

Nachdem Mehmet eingewilligt hatte, kameradschaftlich an der Reinigung der Duschen mitzuwirken, stellte sich bei Johann ein etwas versöhnlicheres Gefühl ein und er ließ ihn wieder aufstehen. Das Blatt hatte sich gewendet und sein Mut, Mehmet die Stirn zu bieten, hatte sich ausgezahlt. Nun war Mehmet auf einmal kleinlaut und nicht mehr der coole Obergangster. Hätte Johann klein beigegeben, dann hätte ihn das noch sehr lange gewurmt, aber so fühlte er sich gut, auch wenn er während der gesamten weiteren Reinigungsaktion noch durch und durch unter Adrenalin stand.

Um 13.00 Uhr kontrollierte Feldwebel Müller die Nacharbeiten. Interessiert betrachtete er anschließend Johanns Veilchen und Mehmets mit blauen Flecken übersätes Gesicht. „Gibt es irgendwas, das ich wissen sollte?“

„Nein“, antworteten Johann und Mehmet gleichzeitig. Der Feldwebel grinste und entließ sie ins Wochenende.

Selbstverständlich hatte Johann seinen Zug verpasst. Schließlich waren es fast drei Kilometer von der Kaserne zum Bahnhof in Freyung. Aber wenigstens traf er an dem sonst menschenleeren Bahnhof Fatma Anja Kaymaz, die Deutsch-Türkin aus seinem Zug. Sie setzte sich zu ihm auf die Bank am Bahnsteig.

„Hi, Kaymaz, du auch noch hier?“

„Ich musste noch was in der Stadt besorgen“, erwiderte sie mit einem leicht schelmischen Grinsen.

„Hier, in Freuyung?“

„Mhm.“

Erst dann bemerkte Johann die Einkaufstüte des lokalen Sex-Shops in Fatmas Tasche. „Verstehe“, sagte er mit einem Grinsen, das ihr auf der Metaebene mitteilen sollte, dass er keine indiskreten Fragen stellen würde. Wahrscheinlich war es in einem türkischen Elternhaus nicht so unproblematisch, wenn die erwachsene Tochter sich etwas in einem Sex-Shop kaufte. Wahrscheinlich hatte sie, was auch immer sie in der Tüte hatte, deswegen hier in Freyung und weit weg von ihrem Elternhaus eingekauft.

„Du Rassist“, sagte sie mit einem freundlichen Lachen zu ihm. Ihr Blick verriet, dass sie seine Gedanken lesen konnte.

„Wie bitte?“

„Wetten, ich kann dir sagen, was du gerade denkst?“, prophezeite sie und fuhr fort: „Du hast dir gedacht, wahrscheinlich geht die kleine moslemische Türkin hier im Bayerischen Wald in den Sex-Shop, damit ihre Familie nichts mitbekommt und sie nicht gesteinigt wird.“

Johann war baff und antwortete relativ unkontrolliert: „Äh, ja so was in etwa.“

Fatma blieb vor Lachen die Luft weg. „Lieber Schütze von Falk, nachdem ich die Tüte in meiner Handtasche nicht tief genug versteckt habe, brauch ich auch keinen Hehl mehr daraus zu machen. Ja, ich gestehe, ich war in einem Sex-Shop. Und ja, ich habe wie die meisten Menschen ein natürliches Schamgefühl und würde das nicht gleich jedem erzählen. Aber – nein, ich werde daheim nicht gesteinigt. Was denkst du denn eigentlich? Erstens bin ich nicht nur eine halbe Türkin, sondern auch halb Deutsche, zweitens bin ich deutsche Staatsbürgerin und drittens bin ich Offiziersanwärterin der Bundeswehr. Niemand macht mir Vorschriften darüber, ob ich in einen Sex-Shop gehen darf und was ich mir dort kaufe.“

Nun kam sich Johann blöd vor. Ja, sein Vorurteil war lächerlich und dumm. Er wusste nicht recht, was er darauf sagen sollte, aber anscheinend nahm ihm Fatma das nicht übel.

„Lass mich raten – jetzt denkst du darüber nach, was ich wohl eingekauft habe“, neckte sie Johann.

Ja, Johann hatte wirklich angefangen, darüber nachzudenken, aber zur Hölle, es war Freitag und er war gerade aus der Kaserne herausgekommen. Da brauchte man sich nicht mehr über Niveau zu unterhalten. Am Freitag sah jede Frau hübsch aus. Schließlich gab es in einer Kaserne nicht den nötigen Rückzugsraum zur Masturbation oder dergleichen und daran hatte ihn Fatma gerade erinnert. Obendrein war sie eine Frau, die auch schon am Montag recht ansehnlich war. Natürlich startete sein Kopfkino, wenn jemand wie Fatma nach einer Woche Kaserne mit einer Sex-Shop-Tüte vor ihm herumwedelte, auch wenn er das nicht wollte. Er schnaufte tief durch.

Fatma knisterte mit der Tüte, schaute ihn provozierend an und fragte: „Was meinst du, was da drin ist? Vibrator oder Lederpeitsche?“

Von natürlichem Schamgefühl konnte hier wohl so langsam keine Rede mehr sein, dachte sich Johann, aber Fatma wollte es anscheinend nicht anders. Darum schoss er zurück: „Ich hab eigentlich gedacht, dass da eine Latex-Burka oder so was drin ist.“

Darauf brachen sie beide in lautes Lachen aus. Die Zeit, bis der Zug kam, verging wie im Flug. Sie setzten sich in den letzten Waggon und philosophierten gemeinsam über Politik, ihre Abiturprüfungen vom letztem Jahr und alle möglichen Alltagsthemen.

Als Johanns Blick wieder unbeabsichtigt über die geheimnisvolle Tüte des Sex-Shops schweifte, grinste Fatma ihn an und meinte: „Willst du reinschauen?“

Johann zuckte unvorbereitet mit den Schultern. Er wollte schon, aber das konnte er doch so nicht sagen. Schließlich ging ihn das wirklich nichts an.

„Ja, du willst!“, sagte Fatma mit ihrem Lächeln und warf ihm die Tüte zu.

Nun fühlte sich Johann leicht beschämt. Er entschied sich nüchtern, vor allen Dingen erhaben hineinzuschauen und sie Fatma kommentarlos zurückzugeben, egal was drin sein mochte. Aber in der Tüte befanden sich recht unspektakulär nur ein schwarzer String-Tanga und der dazu passende BH.

Die Tür ihres Zugabteils öffnete sich. Ein offenbar geistig verwirrter Mann im Rentenalter schaute zu ihnen herein.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Fatma hilfsbereit, aber der Mann schien nur durch sie hindurchzustarren.

„Null mal unendlich ist gleich eins! Warum versteht das denn keiner? Versteht es endlich“, murmelte er vor sich hin.

Johann und Fatma schauten erst den alten Mann und dann einander irritiert an. Der Mann ging weiter und ließ die Abteiltür sperrangelweit offen stehen. Man hörte seine Schritte den Flur des Waggons entlanghumpeln und ihn immer wieder seine Formel vor sich hinmurmeln: „Null mal unendlich ist gleich eins“. Plötzlich schepperte es im Gang.

Fatma stand auf und schaute in den Gang. „Komm, von Falk, da ist was mit dem alten Mann!“, rief sie.

Sie beide eilten zu dem Mann, der jetzt am Boden lag. Eine halbe Stunde lang versuchten sie noch gemeinsam, ihn zu reanimieren, bis der Notarzt eintraf und als vermutliche Todesursache einen Herzinfarkt diagnostizierte. Durch den Vorfall verzögerte sich die Weiterfahrt nach Passau, und auch Fatma würde nun ihren Anschlusszug verpassen.

Es herrschte eine seltsame Atmosphäre, als sie am Passauer Bahnhof ankamen. Der alte Mann, der gerade vor ihren Augen gestorben war, war ein Fremder. Die Sache beschäftigte sie nicht weiter, sie machten bereits wieder Witze über dies und das, aber dennoch hatte der Vorfall einen seltsamen Beigeschmack hinterlassen.

„Hast du Hunger?“, fragte Fatma.

Johann dachte nach. Er hatte zwar Hunger, aber er war nicht gewillt, die Apothekerpreise der Imbissstände am Bahnhof zu bezahlen. Schließlich waren neunhundert Mark Wehrsold auch ein absoluter Hungerlohn. Fatma hatte es da als Zeitsoldatin mit ihrem Wehrsold von viertausend Mark schon wesentlich leichter.

„Nein, aber ich leiste dir gern Gesellschaft“, antwortete er. Fatma holte sich am Imbissstand eine Gemüsequiche und eine Cola. Anschließend liefen sie, auf der Suche nach einem Platz, um sich hinzusetzen, durch die Bahnhofshalle. Sie wurden schließlich in der Wartehalle fündig.

„Magst du mal abbeißen?“, fragte Fatma und hielt Johann die Quiche hin.

Johann nahm ihr Angebot dankend an. Fatma war ihm in der Grundausbildung noch nie besonders aufgefallen, zumindest nicht als Person. Natürlich war sie ihm als weibliches Wesen aufgefallen, da sie nur vier Frauen im Zug hatten. Jede Frau fiel in dem trostlosen Kasernenumfeld auf, und sogar der dicken Schützin Hofer hatte man spätestens ab Mittwoch auf den Arsch gestarrt. Das verhinderte nicht einmal die Uniform, in der jede Frau wie ein bunter Kartoffelsack wirkte. Aber jetzt nahm er Fatma auch als Mensch wahr. Sie war ein intelligentes und hilfsbereites Wesen. Sie hatte an diesem Tag einiges über sich erzählt, völlig nebenbei und ohne sich groß in den Mittelpunkt zu stellen. In der Zeit vor dem Abitur war sie Schülersprecherin gewesen, war aus Tierliebe Vegetarierin und hatte sich bei der Bundeswehr für fünfzehn Jahre verpflichtet, um Medizin zu studieren. Ihr Traum war es, später mal Kinderärztin zu werden.

Warum kann Integration nicht immer so laufen, fragte sich Johann. Welche Ausrede hat ein Arschloch wie Mehmet, dass er nicht ist wie Fatma? Warum ist dieser Penner ohne Abschluss , vorbestraft und pöbelt ständig andere Menschen an? Beide sind zur Hälfte Deutsche und in Deutschland geboren. Beide hatten die gleichen Chancen. Wahrscheinlich hätte Fatma ihn wieder mit ihrem Lächeln als Rassist eingestuft, wenn er bei Staatsbürgern mit immerhin einem deutschen Elternteil von Integration sprach. Dieser Gedanke brachte nun ihn zum Lächeln, aber diesmal schaffte es Fatma nicht, seine Gedanken zu lesen.

Sie mussten noch eine halbe Stunde totschlagen, bis Fatmas Zug nach München kam. Während sie in der Wartehalle saßen und sich über alles Mögliche unterhielten, riss Fatma auf einmal die Augen weit auf und stammelte: „Krass.“

Ihr Blick war über Johanns Schulter gerichtet, also war, was auch immer Fatma gerade erschreckt hatte, hinter seinem Rücken passiert. Er drehte sich um und brauchte ein Sekunde, bis er verstand, was los war. Fünf Meter hinter ihm hing ein großer Bildschirm an der Wand, auf dem gerade Nachrichten zu sehen waren. Der Ton war zwar ausgeschaltet, aber die Schlagzeilen liefen im Fließtext über den Bildschirm. Johann las: Bundestag beschließt Ausstieg aus dem Atomwaffensperrvertrag. Amerikanische Pershing II wird aus Deutschland abgezogen. Weg offen für nukleare Bewaffnung der Bundeswehr.

Johann schaute Fatma an und meinte: „Na, das war doch klar. Wofür sonst haben sie die Schutzinfanterie erschaffen?“

„Ja, aber das geht auf einmal so plötzlich.“

Beide nahmen ihre Smartphones und googelten nach, was da genau los war. Die Schlagzeilen hatten etwas übertrieben, aber die Quintessenz war dennoch richtig. Der Bundestag hatte in der Tat einen Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag beschlossen, allerdings unter Einhaltung einer dreimonatigen Kündigungsfrist. Um den Austritt etwas zu entschärfen, hatte sich der Bundestag noch einige Beschränkungen selbst auferlegt. So sah das neue Gesetz vor, dass die BRD maximal vierzig eigene Atomsprengköpfe mit einer Maximalkraft von jeweils höchstens 100 Kilotonnen TNT besitzen durfte. Ebenfalls hatten sie in dem Gesetzestext verankert, dass diese Sprengköpfe nur auf Mittelstreckenraketen mit einer maximalen Reichweite von 2.500 km montiert werden durften. Bezüglich der Pershing II hatten die Amerikaner nur erklärt, dass es eine mögliche Option wäre, mit der nuklearen Souveränität Westdeutschlands nun die amerikanischen Raketen in andere NATO-Länder wie Dänemark, die Türkei oder Griechenland zu verlegen. Außerdem gratulierten sie der BRD zu dem angemessenen Schritt und lobten, dass durch den Verzicht auf interkontinentale Langstreckenraketen alle notwendigen Interessen gewahrt würden.

 

Nach weiteren fünfzehn Minuten fuhr Johanns Zug ein. Die Waggons füllten sich sehr schnell. Zwar konnte Johann einen Sitzplatz ergattern, aber kurz bevor der Zug losfuhr, betrat eine hochschwangere Frau den Wagen. Johann stand auf und bot ihr seinen Platz an. Da er jetzt sowieso keine Chance mehr auf einen Sitzplatz hatte, wollte er noch ein paar Atemzüge frische Luft schnappen, bevor der Zug losfuhr. Deshalb stellte er sich in den Eingangsbereich an die offene Tür. Während er die frische Luft genoss, beobachtete er den Bahnsteig. Ein afroeuropäischer Mann um die fünfzig ging zielstrebig seines Weges und passierte auf Johanns Höhe zwei Beamte des Bundesgrenzschutzes. Sie stellten sich ihm in den Weg und forderten ihn harsch auf, stehen zu bleiben. In für Niederbayern extrem untypischem Hochdeutsch sagte der Grenzer: „Guten Tag! Personenkontrolle. Papiere!“

In für schwarze Mitbürger ebenso untypisch fließendem Bayrisch fragte der Schwarze: „Wos wuist?“

„Erstens duzen Sie mich gefälligst nicht, zweitens Papiere, und wenn wir dabei sind, dann auch gleich den Fahrschein. Sie brauchen einen, wenn sie sich auf dem Bahnsteig aufhalten.“

„San ma scho so weit, dass mir uns in unserm Vaterland von Preiß’n kontrollier’n lass’n müss’n?“

Man konnte von den Gesichtern der beiden Grenzer ablesen, dass sie ein paar Sekunden benötigten, um die bayrische Antwort ins Hochdeutsche zu übersetzen. Dann schnauzte der Grenzer zurück: „Das lasse ich mir von Ihnen nicht bieten! Wir filtern hier nach weißen und schwarzen Schafen. Und jetzt rücken Sie Ihren Ausweis heraus oder ich nehm Sie mit auf die Wache. Wenn Sie Handschellen wollen, dann müssen Sie das nur sagen. Ihre Wahl.“ Der Zynismus in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Ihr Saupreiß’n, ihr Elendigen! Schleicht’s eich! Ihr habt in unserm Land nix verlor’n! Von so damischen Grantlern wie euch las i mi ned kontrollier’n!“

Als sich die Türen schlossen und der Zug abfuhr, beschimpften sich die beiden Parteien gegenseitig als Rassisten. Johann konnte gerade noch aus den Augenwinkeln erkennen, wie der Konflikt eskalierte und in eine handfeste Schlägerei überging.