James Bond 16: Kernschmelze

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From the series: James Bond #16
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Regierungen konnten kommen und gehen, Krisen konnten ausbrechen, die Inflation mochte durch die Decke schießen, aber wenn er in London war, änderte sich Bonds Frühstücksroutine selten. In diesem Punkt verkörperte er das Schlimmste, was ein Mann in seiner Branche sein konnte: ein Mann der Gewohnheit, der den Tag gern auf eine ganz bestimmte Weise begann, aus dem dunkelblauen Eierbecher mit dem goldenen Ring um den Rand aß, der zum Rest seines Minton-Geschirrs passte, und sich freute, die silberne Kaffeekanne im Queen-Anne-Stil und die dazugehörigen Utensilien auf dem Tisch zu sehen. Diese Eigenart wirkte sicher sehr wählerisch, aber Bond wäre empört gewesen, wenn ihn deswegen irgendjemand als snobistisch bezeichnet hätte. In James Bonds Augen war Snobismus etwas für andere in allen Gesellschaftsschichten. Ein Mann hatte ein Recht auf gewisse angenehme Eigenarten – mehr als nur ein Recht, wenn sie seinen Geist und seinen Magen beruhigten und ihn auf den vor ihm liegenden Tag vorbereiteten.

Der Q’utie-Zwischenfall hinderte Bond keineswegs in seinen Vorbereitung auf das, was er im Geiste inzwischen als Verabredung mit Anton Murik am Tag des Gold Cups bezeichnete.

In letzter Zeit war er an den meisten Abenden direkt in seine Wohnung gefahren und hatte ein Buch gelesen, dass er zwischen seinen Ausgaben von Scarne’s Complete Guide to Gambling und einer Ausgabe des Klassikers Sharps and Flats von John Nevil Maskelyne aus dem Jahr 1895, in dem es um Kartenbetrug ging, aufbewahrte. Das Buch, in dem er eifrig jede Nacht las, war zur Zeit der Jahrhundertwende privat herausgebracht worden. Bond hatte es vor einigen Jahren in Paris entdeckt und hatte es von einem Drucker, der oft für den Service arbeitete, neu in Pappe und Rindsleder binden lassen. Es war von einem Mann geschrieben worden, der das Pseudonym Cutpurse benutzte, und hieß The Skills, Arts and Secrets of the Dip. Es handelte sich um eine umfangreiche Abhandlung über die alte Kunst des Taschendiebstahls und des Langfingergewerbes.

Bond benutzte Möbel, alte Mäntel – und sogar eine Stehlampe –, um die zahlreichen Tricks einzuüben, die er bereits recht gut beherrschte. Seine Besprechungen mit M, bei denen es darum ging, wie er sich dem Laird von Murcaldy und dessen Gefolge vorstellen sollte, hatten zu einem Plan geführt, der nach der geschicktesten Anwendung einiger Tricks verlangte, die Cutpurse in seinem Buch beschrieb. Bond wusste, dass er diese Bewegungen immer wieder üben musste, damit er sie nicht wieder verlernte – wie ein Kartenbetrüger oder auch ein Zauberkünstler, der seine harmlosen Taschenspielertricks ausschließlich zu Unterhaltungszwecken anwandte. Deswegen fing er noch einmal ganz von vorne an und lernte die einzelnen Griffe und Bewegungen von Neuem.

Ein Taschendieb arbeitete selten allein. Banden aus drei bis zehn Personen waren normalerweise die Regel, also würde Bonds Plan doppelt kompliziert sein: Erstens musste er die Sache ganz allein durchziehen und zweitens ging es hier nicht um einen einfachen Taschendiebstahl. Er arbeitete sich langsam zum schwierigsten Trick in dem Buch vor und trainierte seine Fähigkeiten, um ihn ausführen zu können: die Halskettenmasche. Dieser Trick ging auf das frühe neunzehnte Jahrhundert zurück, als er für gewöhnlich benutzt wurde, um einer Person die Taschenuhr zu stehlen. Gegen Ende der Vorbereitungsphase verbrachte Bond mehrere Stunden pro Nacht damit, die Bewegungen der Halskettenmasche zu perfektionieren. Er konnte nur hoffen, dass sich Ms Informationen, die er während der langen Stunden unter dem Cooper-Gemälde von Admiral Jervis’ Sieg erhalten hatte, als zutreffend herausstellen würden.

Nun verkündete ein Wegweiser ASCOT 6,5 KILOMETER, und Bond ordnete sich in eine Reihe Bentleys, Rolls-Royces, Daimler und so weiter ein, die alle zur Rennstrecke wollten. Er saß ruhig hinterm Steuer, hatte seine Browning samt Holster im Handschuhfach verstaut, und Q’uties personalisiertes Gepäck befand sich im Kofferraum. Er selbst trug ein Hemd, hatte den grauen Cutaway ordentlich gefaltet auf den Rücksitz gelegt, und der dazu passende Zylinder ruhte daneben. Bevor er aufgebrochen war, hatte Bond überlegt, dass er es Q’utie durchaus zugetraut hätte, irgendeine Art von Apparatur in den Zylinder einzubauen. Sie war sehr umgänglich gewesen und hatte ihm jede nur mögliche Unterstützung im Einsatz zugesichert – »Geben Sie mir einfach Bescheid, und ich werde Ihnen bringen, was immer Sie brauchen, 007«, hatte sie mit dem Hauch eines Augenzwinkerns versprochen.

Bond hatte darauf mit einem kaum merklichen Zucken einer Augenbraue reagiert.

Jetzt sah er wie jeder andere Mann aus, der im Royal Enclosure Eindruck schinden wollte. Tatsächlich war sein Verstand jedoch nur auf eine einzige Sache konzentriert – Dr. Anton Murik, Laird von Murcaldy, und seine Verbindung zu dem Terroristen Franco.

Die sorgfältige, wenn auch schnell geplante Vorbereitung auf den Auftrag war abgeschlossen. James Bond war auf sich allein gestellt und würde nur Hilfe rufen, wenn die Situation es erforderte.

Als er sich der Rennbahn näherte, fühlte sich Bond ein klein wenig freudig erregt, doch ein winziger Knoten in seiner Magengegend verriet ihm, dass der Geruch von Gefahr oder vielleicht sogar Katastrophe in der Luft lag.


PERLEN VOR DIE SÄUE

Auf jeder Rennstrecke gab es nur einen Ort, an dem sich James Bond wirklich wohlfühlte – der öffentliche Bereich für die unteren Gesellschaftsschichten. Direkt an der Strecke war das Leben bunt: Die Personen wirkten dort immer lebendiger und realer – Paare, die sich auf einem kurzen Tagesausflug befanden; Wettende mit ihrem hektischen Geplapper und überschwängliche Buchmacher, die alle ihre Späher dabeihatten, um nach Wettwilligen zu suchen, die zackige Zeichensprache, die über die Köpfe der Wettenden hinweg ausgetauscht wurde, um Veränderungen in den Wettchancen zu kommunizieren. Hier gab es Gelächter, Freude und genießerische Begeisterung.

Während der ersten paar Rennen des Tages schlenderte Bond – tadellos in Cutaway und Zylinder gekleidet – durch die Menge der Besucher, als würde er zögern, seinen rechtmäßigen Platz im Royal Enclosure einzunehmen. Das Abzeichen für die Zugangsberechtigung (das M ihm besorgt hatte) war mit einer Nadel am Revers seines Cutaways befestigt.

Er blieb sogar noch unten in der Nähe des Geländers, um die Ankunft Ihrer Majestät, Prinz Philips und der Königin Mutter zu beobachten. Wie immer empfand er eine gewisse Ergriffenheit bei dem beeindruckenden Anblick dieser Tradition, während die Mitglieder der königlichen Familie in ihren offenen Kutschen über die Rennstrecke gefahren wurden: eine Explosion aus Farben mit livrierten Kutschern und Postillionen – wie eine Zeremonie aus einem anderen Zeitalter.

Seine erste Handlung nach seiner Ankunft hatte darin bestanden, die Position von Anton Muriks Loge zu überprüfen, die sich auf der Tattersalls-Tribüne befand (eine weitere Tatsache, die sie dank Ms fachmännischer Quellen erfahren hatten). Muriks Loge war die dritte von links im zweiten Rang.

Bond lehnte sich an das Geländer und betrachtete die abgestuften Logen mit einem Fernglas, das ihm die Q-Abteilung zur Verfügung gestellt hatte – ein besonders leistungsstarker Feldstecher mit Zeiss-Linsen, die exklusiv für den Service von Bausch & Lomb hergestellt worden waren. Muriks Loge war leer, aber es gab Anzeichen dafür, dass sie schon bald besetzt sein würde. Bond würde kurz vor dem Gold-Cup-Rennen verstärkt auf den Führring achten müssen, doch schon vor diesem Ereignis verspürte er den unwiderstehlichen Drang, eine Wette auf das Pferd seiner Zielperson abzuschließen. Dr. Anton Muriks Pferd hatte keine guten Chancen. Das war anhand der gebotenen Einsätze recht offensichtlich.

Für den Gold Cup war das Pferd der Queen der Favorit, dicht gefolgt von Lester Piggott, und die Chancen standen nur fünf zu vier. Andere Teilnehmer waren sehr erfahrene Vierjährige, die meisten davon mit herausragenden Rennstatistiken. Besonders Francis’ Folly, Desmond’s Delight und Soft Centre wurden sehr hoch gehandelt. Die anderen zehn Pferde schienen nur zum Spaß teilzunehmen, und das Pferd des Lairds von Murcaldy, China Blue – der Abkömmling von Light Blue und Geisha Girl –, schien kaum eine Möglichkeit zu haben, auch nur in die Nähe der Spitze zu gelangen. Bonds Wettkarte besagte, dass das Pferd bei seinen letzten drei Rennen nur eine Platzierung erreicht hatte – auf der Karte stand dementsprechend 0-3-0.

Die harten Fakten wurden noch von den Wettchancen unterstützt, die bei fünfundzwanzig zu eins standen. Bond lächelte hämisch, denn er wusste, dass M vor Wut kochen würde, wenn er seine Spesenrechnung einreichte. Wenn man schon mit dem Geld der Firma um sich wirft, dachte er, sollte man es wenigstens mit ein wenig Stil tun. Mit diesem Gedanken im Kopf ging er auf einen Buchmacher zu, dessen Namensschild ihn als Honest Tone Snare auswies, und setzte einhundertzehn Pfund auf Sieg durch China Blue. Einhundertzehn Pfund waren eine unbedeutende Summe, aber für die Buchhalter des Secret Service waren sogar fünf Pfund ein Grund zur Diskussion.

»Wollen Sie Geld loswerden, Meister?« Honest Tone schenkte Bond ein zahnreiches Grinsen.

»Einhundertzehn auf Sieg«, wiederholte Bond gelassen.

»Tja, Sie werden schon wissen, was Sie tun, Meister, aber ich schätze, Sie haben entweder Geld wie Heu oder Sie wissen etwas, das der Rest von uns nicht weiß.« Honest Tone nahm das Geld und händigte ihm dafür einen Wettschein aus, der Bond, falls China Blue durch irgendeinen glücklichen Zufall tatsächlich gewinnen sollte, um die zweieinhalbtausend Pfund einbringen würde, abzüglich der acht Prozent Wettgebühren – weshalb er die zehn zusätzlichen Pfund gesetzt hatte.

 

Sobald er sich im Royal Enclosure befand, meldete sich Bonds Abneigung gegen diesen Bereich der Rennbahn. Sie überkam ihn wie eine dunkle, deprimierende Welle. So sehr er die weibliche Figur auch schätzte, stieß ihn die Vorstellung von so vielen Frauen auf einmal doch ab. Sie waren überall um ihn herum, junge wie alte, und stolzierten in ihren modischen Kleidern und ausgefallenen Hüten auf und ab. Darum ging es bei Pferderennen nicht, fand er.

Ein paar von ihnen waren zweifellos zum reinen Vergnügen hier und wollten den Tag genießen, der sich als warm und wolkenlos entpuppt hatte. Doch ein Großteil nahm nur an diesem Ereignis teil, um gesehen zu werden, die Aufmerksamkeit der Klatschkolumnisten auf sich zu ziehen und sich gegenseitig mit bizarrem Kopfschmuck zu überbieten. Vielleicht war diese Abneigung ein Zeichen von Reife. Das war ein deprimierender Gedanke, und um ihn zu verdrängen, ging Bond in die Hauptbar, wo er zwei Portionen Räucherlachssandwiches und eine kleine Flasche Dom Perignon verschlang.

Auf Ms persönliche Anweisung hin war er unbewaffnet ins Enclosure gegangen – die Browning befand sich nach wie vor sicher im Handschuhfach seines Wagens. Falls es Schwierigkeiten gab, hatte Bond lediglich den kleinen Stift mit dem eingebauten Gerät zur Kontaktaufnahme und die Kopie des Dunhill-Feuerzeugs dabei – das mehr gefährliche Funktionen enthielt, als die Herren Dunhill gutgeheißen hätten.

Er schlenderte beiläufig im Enclosure umher und machte es sich schließlich im Schatten der Bäume bequem, die den Führring umgaben. In seiner Tasche befand sich sicher versteckt Ms zusätzlicher Beitrag zu seiner Tarnung – ein gut gefälschter Besitzerausweis, der es ihm ermöglichen würde, den Führring zu betreten und somit nah an sein Ziel heranzukommen. Er musste nicht lange warten. Die Pferde liefen bereits vom entfernten Ende der Tribüne in den Führring ein. Bond beobachtete sie. Innerhalb weniger Minuten entdeckte er China Blue.

Das Pferd erweckte alles in allem keinen sonderlich vielversprechenden Eindruck. Das Fell war stumpf, und das Tier hatte ein seltsam mattes Aussehen – so als würde es anstelle eines Jockeys Dynamit brauchen, um es an diesem warmen Nachmittag zu etwas Schnellerem als einem gemäßigten Kanter anzutreiben. Bond musterte das Tier ausgiebig und kam zu dem Schluss, dass es sich lediglich um ein nicht sehr vielversprechend wirkendes Pferd handelte. Das bedeutete nicht, dass das Tier nicht zu ungewöhnlichen Leistungen in der Lage sein mochte. Es waren schon seltsamere Dinge passiert. Während er beobachtete, wie ein Stallbursche das Pferd herumführte, hatte Bond eine dieser plötzlichen instinktiven Eingebungen – die in seinem Beruf so oft Leben retteten –, dass er das Geld gewinnen würde. Hinter China Blue steckte mehr, als man mit bloßem Augen erkennen konnte.

Wie? Er hatte keine Ahnung. Betrügereien auf Rennstrecken waren in England heutzutage selten. Anton Murik würde sicher nicht auf unausgegorene Risiken wie Doping oder Austausch des Pferdes zurückgreifen, wenn er sein Tier gegen die Rassepferde antreten ließ, die am Ascot Gold Cup teilnahmen. Doch in diesem Augenblick wusste Bond, dass China Blue mit fast absoluter Gewissheit gewinnen würde.

Plötzlich stellten sich die kurzen Haare in seinem Nacken auf, und er verspürte einen angespannten Schauer. Ein Mann und zwei Frauen näherten sich China Blue – der Trainer wandte sich ihnen mit dem Hut in der Hand und einem ehrerbietigen Begrüßungslächeln im Gesicht zu. Bond konnte seinen ersten Blick auf Dr. Anton Murik werfen.

Er verließ seine Position und bewegte sich näher an den Eingang des Führrings heran.

Es war tatsächlich Anton Murik, das Gesicht des Mannes, den er auf dem Foto gesehen hatte. Was das Bild nicht eingefangen hatte, war die Mähne aus weißem Haar, die von dem Bulldoggengesicht aus nach hinten zurückgekämmt war. Bond war kurz schockiert, erinnerte sich dann aber, dass das Foto knapp oberhalb der Stirn abgeschnitten gewesen war. Außerdem konnte kein Foto die Gangart oder das Auftreten einer Person wiedergeben. Der Laird von Murcaldy war kaum ein Meter fünfzig groß und bewegte sich nicht mit den stolzen Schritten eines schottischen Clanführers, wie Bond es erwartet hatte, sondern vollführte stattdessen eine Reihe hüpfender kleiner Schritte. Seine Bewegungen – Hände, Kopf, Finger und Hals – wiesen die gleiche schnelle Präzision auf. Kurz gesagt wirkte es, als wäre Dr. Anton Murik, der Laird von Murcaldy, vom Geist eines flugunfähigen Vogels besessen.

Die gebieterische Art, auf die er den Trainer anzusprechen schien, machte seine körperliche Unzulänglichkeit allerdings mehr als wett. Selbst auf diese Entfernung konnte man deutlich erkennen, dass der Mann über Macht verfügte, die über körperliche Eigenheiten und Exzentrizitäten hinausging. Ein geborener Anführer, dachte Bond. Das waren manchmal die schlimmsten und manchmal die besten Menschen, denn geborene Anführer erkannten ihre Macht meist schon früh im Leben, wenn sie sich entweder für die gute oder für die böse Seite entschieden, um Erfolg zu haben.

Die beiden Frauen, die Murik begleiteten, waren leicht zu erkennen. Bond fiel auf, dass sie seltsamerweise, abgesehen von der Farbe, identisch gekleidet waren. Jede trug ein klassisch geschnittenes Kleid mit V-Ausschnitt aus gestricktem Bouclé, das bis zur Mitte der Wade reichte. Über dem Kleid trugen sie kurze Westen.

Das Ensemble der älteren Frau – offensichtlich Mary-Jane Mashkin – war in Marineblau mit weißen Säumen gehalten. Dazu trug sie einen adretten kurzkrempigen weißen Hut.

Das Mündel, Lavender Peacock, war größer, schlanker und genauso umwerfend wie auf dem Foto. Ihre Kleidung war weiß mit marineblauen Säumen und einem entsprechenden Hut. Bond fragte sich, ob ihre Outfits Originale aus Muriks Roussillon-Modelinie waren.

Die jüngere Frau lachte und wandte sich an Murik, wodurch die Weste aufklappte und die festen, neckischen Brüste unter dem Kleid offenbarte, die in hervorragender Proportion zum Rest ihres Körpers standen. Der Anblick war atemberaubend, und Bond wurde klar, warum der Laird von Murcaldy sie an der kurzen Leine hielt, wie M es ausgedrückt hatte. Lavender Peacock sah wie eine muntere, gesunde und lebhafte junge Frau aus. Bonds Erfahrung verriet ihm, dass sie außerdem die nervöse Anspannung einer ungebundenen Frau aufwies und an ihrer Leine zerrte. Wenn man sie sich selbst überlassen würde, mochte Lavender Peacock innerhalb weniger Monate durchaus eine ganze Reihe gebrochener Herzen – vielleicht sogar kaputter Ehen – in der schottischen und englischen Gesellschaft zurücklassen. Bond kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt in Richtung der jungen Frau, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Sie unterhielt sich angeregt und schaute unablässig zu Murik. Wann immer sie den Laird ansah, schien Besorgnis über ihre Züge zu huschen, aber Bond nahm das nur nebenbei wahr. Er suchte nach etwas anderem. Etwas, das von wesentlicher Bedeutung für diesen großen Plan sein mochte, der vorsah, dass er sich ins unmittelbare Umfeld des Lairds von Murcaldy einschlich. Etwas, das M ihm in den vielen Stunden der Planung sehr detailliert erklärt hatte.

Da war sie. Zweifellos. Die dreireihige schwere Perlenkette hing deutlich sichtbar um Lavenders Hals. Aus dieser Entfernung und im Schatten der Bäume um den Führring ließ sich natürlich unmöglich beurteilen, ob sie echt waren, aber sie würden zweifellos für echt gehalten werden. Das echte Schmuckstück existierte definitiv – Mohar-Perlen im Wert von fünfhunderttausend Pfund, die auf drei Stränge aufgezogen waren und von einem verzierten Kastenverschluss sowie einer Sicherheitskette im Nacken der Trägerin zusammengehalten wurden.

Die Perlen waren bis zu Lavenders einundzwanzigstem Geburtstag für sie aufbewahrt worden. Ursprünglich waren sie ein Hochzeitsgeschenk ihres Vaters an ihre Mutter gewesen und waren zu deren Lebzeiten hauptsächlich in einem Banktresor aufbewahrt worden.

Lavender – hatte M Bond erklärt – hatte mit dieser Gewohnheit gegen Anton Muriks Rat gebrochen und trug die Perlen nun bei jeder möglichen Gelegenheit. In der vertrauten Umgebung von Ms Büro hatte sich Bond laut gefragt, ob der Laird von Murcaldy es ihr tatsächlich gestattete, die Perlen zu tragen. Sie durch eine Nachahmung zu ersetzen, dürfte für einen Mann mit seinen Ressourcen relativ einfach sein. M hatte mürrisch erwidert, dass es darum gar nicht gehe. Die Peacock-Perlen waren dafür bekannt, dass sie in der Öffentlichkeit getragen wurden. Und an diesem Nachmittag schienen sie sich eindeutig um Lavenders Hals zu befinden.

Bond fand, dass sie keinen hübscheren Hals hätten zieren können. Wenn ihn das Foto der jungen Frau schon beeindruckt hatte, bezauberte ihn die echte Lavender erst recht. Murik hatte sich abgewandt und redete mit den beiden Frauen, während sich der Trainer dicht an den Jockey heranlehnte, um ihm letzte Anweisungen zu geben. Im Hintergrund stand China Blue und wirkte so gefügig wie eh und je: so lebhaft wie ein hölzernes Schaukelpferd.

Es wurde Zeit, dass Bond in Aktion trat. Der Eingang zum Führring war ein geschäftiger Bereich, in dem die Leute ständig ein- und ausgingen. Er hatte bereits bemerkt, dass die Mitarbeiter der Ascot-Rennstrecke nur flüchtige Blicke auf die hochgehaltenen Besitzerausweise warfen. Innerhalb der nächsten paar Minuten würden Anton Murik und sein Gefolge durch diesen Eingang kommen – der gleichzeitig als Hauptausgang diente – und das Royal Enclosure betreten, durch das sie dann vermutlich bis zur Tattersalls-Tribüne weitergehen würden. Die gesamte Zukunft der bevorstehenden Operation hing vom richtigen Timing und von Bonds Fähigkeiten ab. Mit der Fernglastasche über der rechten Schulter und der Wettkarte offen und fest in der linken Hand marschierte er in den Führring und ließ seinen Besitzerausweis kurz vor den Augen des Mitarbeiters aufblitzen, der am beschäftigtsten wirkte.

Die Jockeys stiegen auf die Pferde, und zwei von ihnen bewegten sich bereits auf den Ausgang zu, der sie zur Rennstrecke bringen würde. Bond umkreiste China Blue und die Gruppe, die ihn umgab, hielt Abstand und tat so, als würde er ein anderes Pferd in der Nähe begutachten. Schließlich schwang sich China Blues Jockey unter letzten guten Wünschen von der versammelten Gesellschaft in den Sattel. Murik, diese Mashkin, der Trainer und Lavender traten zurück und hielten ein paar Sekunden lang inne, während das vom Jockey angetriebene Pferd davonstolzierte. Bond fiel auf, dass der Jockey äußerst entspannt und zuversichtlich wirkte.

Muriks Gruppe bewegte sich langsam auf den Ausgang zu, durch den Bond gerade hereingekommen war. Der Bereich wurde nun immer voller, da die Besitzer mit ihren Familien und ausgewählten Freunden aufbrachen, um sich das Rennen anzusehen. Bond trat vorsichtig näher an Muriks Gruppe heran. Der Laird sprach mit dem Trainer, Mary-Jane Mashkin stand neben ihm. Lavender Peacock befand sich hinter ihnen. Bond manövrierte sich zwischen sie und den Laird mit seinen beiden Begleitern. Dabei blieb er gerade lange genug hinter ihnen, um anderen die Gelegenheit zu geben, sich um ihn herumzudrücken, wodurch er mehrere Leute zwischen Muriks Gruppe und Lavender Peacock brachte. Auf diese Weise würde sie einigermaßen weit hinter ihnen sein, wenn sie den Ausgang erreichten.

Bond machte erneut einen Schritt zur Seite, und ließ sich überholen, bis er sich direkt hinter Lavender Peacock drängen konnte. Sie waren fünf oder sechs Schritte vom Ausgang entfernt, der nun voller Leute war, die versuchten, so schnell und höflich wie möglich nach draußen zu gelangen. Bond war direkt hinter der jungen Frau und hatte den Blick auf den Kastenverschluss und die Sicherheitskette der Perlen in ihrem Nacken gerichtet. Beides war deutlich zu erkennen, und als er von der drängenden Menge sogar noch näher heran gedrückt wurde, nahm Bond den Duft des Parfüms der Frau wahr – Mille de Patou, dachte er: die limitierte Auflage und der teuerste Duft auf dem Markt. So exklusiv, dass man beim Kauf ein Zertifikat erhielt.

Es waren genug Leute um ihn herum, und Bond wurde ausreichend verdeckt. Er ließ sich leicht hin und her stoßen, drückte die Schultern zum zusätzlichen Schutz nach vorn und prallte mit vollem Körpereinsatz gegen Lavender Peacocks Rücken.

Für die nächsten komplizierten Bewegungen brauchte er nur Sekundenbruchteile, da er sie in den vergangenen Tagen eingeübt und genau geplant hatte. Die linke Hand, in der er die offene Wettkarte hielt, ließ er an der Seite herunterhängen, die rechte wanderte nach oben zum Nacken der Frau. Mit den Fingerkuppen seines Zeige- und Mittelfingers umfasste er den Kastenverschluss, der die Perlenkette zusammenhielt und hob die Kette an, damit die Besitzerin keinen Widerstand spürte. Gleichzeitig glitt sein Daumen durch die Sicherheitskette und zerbrach sie mit einer ruckartigen Drehbewegung. Nun fiel der Kastenverschluss in die richtige Position und saß sicher zwischen Bonds Daumen und Zeigefinger. Er drückte fest, neigte die Finger und fühlte, wie der Verschluss nachgab.

 

Wie der Name vermuten lässt, bestand der Kastenverschluss aus zwei kleinen Metallkästchen, die mit winzigen Perlen verziert waren und sich ineinanderstecken ließen. Wenn man Druck auf sie auslöste, trennten sie sich. Im inneren Kästchen befand sich ein kleiner Haken, der sich um einen Stab im äußeren Kästchen legte. Bond benutzte Daumen sowie Zeige- und Ringfinger, um beide Kästchen zu kontrollieren und den Haken vom Stab zu lösen. Dann zog er seine Hand zurück, schaute nach unten und ließ die Wettkarte fallen. Lautlos rutschten die Perlen zu Boden. Sein Ziel und sein Timing waren perfekt. Die Wettkarte folgte den Perlen und fiel flach darauf. Lavender Peacock spürte nichts davon, obwohl Bond die Massen am Ausgang kurz aufhielt, als er sich vorbeugte, um seine Karte aufzuheben. Gleichzeitig hob er die Perlen auf, sodass sie sich sicher in der zusammengefalteten Karte befanden.

Nun schlenderte Bond ganz entspannt in Richtung der Tattersalls-Tribüne. Die Karte und die Perlen hielt er hinter den Schößen seines Cutaways versteckt, während er Anton Muriks Gruppe in diskretem Abstand folgte. Auch sie bewegten sich auf die Tattersalls-Tribüne zu – genau wie er gehofft hatte. Lavender hatte sie eingeholt, und Bond betete, dass sie den Verlust ihrer Perlen nicht bemerken würde, bevor sie Muriks Loge erreichte.

Bond verlangsamte sein Tempo deutlich, um der Gruppe des Lairds einen ordentlichen Vorsprung zu gewähren. Er wusste, es bestand die vage Möglichkeit, dass irgendein Polizist in Zivil seine Handlung beobachtet hatte. Jeden Augenblick konnte eines von zwei Dingen passieren – ein Schrei von Lavender, die verkündete, dass ihre Perlen verschwunden waren, oder der feste Griff einer Hand an seiner Schulter, was bedeuten würde, dass er auf frischer Tat ertappt worden war. Falls Letzteres eintreten sollte, würde es nichts bringen, den Polizeibeamten zu sagen, dass sie M anrufen sollten. Dadurch würde er nur wertvolle Zeit verlieren.

Muriks Gruppe war nun in der Tribüne verschwunden. Nichts geschah, und Bond trat durch eine Seitentür ein und erklomm die Stufen zum zweiten Rang, etwa zwei Minuten nachdem der Laird mit seinem Gefolge hineingegangen war. Als er den Gang erreichte, der hinter den Logen entlang verlief, ließ Bond die Perlen in seine rechte Hand gleiten und näherte sich der Loge des Lairds von Murcaldy.

Sie hatten ihm alle den Rücken zugewandt, als er anklopfte und eintrat. Niemand bemerkte ihn, denn sie schienen alle konzentriert die Startaufstellung der Pferde zu beobachten. Bond räusperte sich. »Verzeihung«, sagte er. Die Gruppe drehte sich herum.

Anton Murik wirkte ein wenig verärgert. Die Frauen sahen interessiert aus.

Bond lächelte und hielt ihnen die Perlen entgegen. »Ich glaube, jemand hat diese Perlen vor diese ganz spezielle Sau geworfen«, erklärte er ruhig. »Ich habe sie draußen auf dem Boden gefunden. Sieht so aus, als wäre die Kette gerissen. Gehören sie …?«

Mit einem kleinen Aufschrei fuhr Lavender Peacock mit einer Hand an ihre Kehle. »Oh mein Gott«, keuchte sie mit einer Stimme, die selbst in diesem Schreckmoment noch tief und melodisch klang.

»›Mein Gott‹ ist richtig.« Muriks Stimme war in Anbetracht seiner Statur fast unnatürlich tief und wies kaum den Hauch eines schottischen Akzents auf. »Vielen Dank. Ich habe meinem Mündel oft genug gesagt, dass sie ein solch wertvolles Schmuckstück nicht in der Öffentlichkeit tragen soll. Nun wird sie mir vielleicht glauben.«

Lavender war kreidebleich geworden und streckte eine zitternde Hand nach Bond und den Perlen aus. »Ich weiß nicht, wie ich …«, begann sie.

Murik ergriff das Wort: »Das Mindeste, was wir tun können, Sir, ist Sie zu bitten, zu bleiben und sich das Rennen von hier aus mit uns anzusehen.« Bond schaute in die dunklen Schieferaugen, die die Farbe von abkühlender Lava hatten und ungefähr genauso lebendig wirkten. Dieser Blick würde einigen Leuten zweifellos eine Todesangst einjagen, dachte Bond – unter gewissen Umständen selbst ihm. »Gestatten Sie, dass ich uns vorstelle. Ich bin Anton Murik, das ist mein Mündel, Lavender Peacock, und dies ist eine alte Freundin, Mary-Jane Mashkin.«

Bond schüttelte ihre Hände und stellte sich ebenfalls vor. »Mein Name ist Bond«, sagte er. »James Bond.«

Nur ein Detail überraschte ihn. Als sie sprach, verriet Mary-Jane Mashkins Akzent, dass sie zweifelsfrei Amerikanerin war – diese Information war in keiner der Akten in Ms Büro aufgetaucht. Ursprünglich aus dem Süden, dachte Bond, aber deutlich mit den nasalen Lauten der Ostküste überlagert.

»Dann bleiben Sie also für das Rennen?«, fragte Murik schnell.

»Oh ja. Bitte.« Lavender schien die Fassung zurückgewonnen zu haben.

Mary-Jane Mashkin lächelte. Sie war eine attraktive Frau, und ihr Lächeln war sehr viel wärmer als Anton Muriks unterdrückte Boshaftigkeit. »Sie müssen bleiben. Anton hat ein Pferd am Start.«

»Danke.« Bond bewegte sich weiter in die Loge hinein und versuchte, sich zwischen Murik und seinem Mündel zu positionieren. »Darf ich fragen, welches Pferd?«

Murik hatte sein Fernglas erhoben, suchte die Rennstrecke ab und starrte in Richtung der Startmaschine. »China Blue. Er ist dort unten.« Er ließ das Fernglas sinken, und für eine Sekunde zeigte sich Bewegung in seinen Lavaaugen. »Er wird gewinnen, Mr Bond.«

»Das will ich doch hoffen. Was für ein Zufall«, sagte Bond lachend und griff nach seiner eigenen Fernglastasche. »Ich habe ein wenig Geld auf Ihr Pferd gesetzt. Der Name des Besitzers ist mir dabei gar nicht aufgefallen.«

»Tatsächlich?« In Muriks Stimme lag eine Spur Anerkennung. Dann ließ er ein dünnes Lächeln aufblitzen. »Ihr Geld ist sicher. Damit hätte ich Ihnen dann schon einen Teil des Finderlohns für Lavenders Perlen bezahlt. Warum haben Sie China Blue gewählt?«

»Mir gefiel der Name.« Bond bemühte sich, arglos zu wirken. »Ich hatte mal eine Tante, die eine Katze mit diesem Namen besaß. Eine reinrassige Siamkatze.«

»Gleich werden sie das Startsignal geben.« Lavenders Stimme klang atemlos. Sie richteten ihre Ferngläser auf den Startbereich des Ascot-Gold-Cup-Rennens über vier Kilometer.

Jubel wallte von der Menge unter ihnen auf. Bond hatte gerade noch Zeit, sein Fernglas neu einzustellen. Die Pferde waren gestartet.

Schon nach einem guten halben Kilometer schien sich ein Muster abzuzeichnen. Das Pferd der Queen führte zusammen mit den anderen Favoriten – Francis’ Folly und Desmond’s Delight, während Soft Centre der Gruppe dicht auf den Fersen war und sich weit vor drei anderen Pferden befand, die gute zehn Längen zurücklagen. Der Rest des Felds verteilte sich dahinter.

Bond hielt das Fernglas auf die drei Pferde hinter den vier führenden Tieren gerichtet, unter denen sich bereits die Sieger zu befinden schienen. Inmitten dieses Trios entdeckte er das auffällige Gelb und Schwarz von Muriks Wappen an China Blue.

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