Taterndorf

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Johanna Marie Jakob

Taterndorf

Roman über die Zwangsansiedlung eines Sintistammes

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Ankunft

2. Vertrauen

3. Fortschritte

4. Probleme

5. Zweifel

6. Hoffnung

7. Fehler

8. Atempause

9. Wende

Impressum neobooks

1. Ankunft

Über die Autorin:

Johanna Marie Jakob wurde 1962 geboren und lebt im Südharz. Sie hat Mathematik und Physik studiert und arbeitet an einem Gymnasium in Nordhausen. Dies ist ihr vierter historischer Roman.

Johanna Marie Jakob

Taterndorf

Historischer Roman

www.johanna-marie-jakob.deBibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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2. Auflage

© Juni 2015 Johanna Marie Jakob

www.johanna-marie-jakob.de

Illustration und Covergestaltung: Arne Beitmann

www.arnebeitmann.de

Lektorat: Autorenteam Ellen Heil und Karin Kuretschka

CreateSpace Independent Publishing Platform

ISBN-13: 978-1499779851

ISBN-10: 1499779852

Alle Rechte vorbehalten

Nikolaus Lenau

Die drei Zigeuner

Drei Zigeuner fand ich einmal

liegen an einer Weide,

als mein Fuhrwerk mit müder Qual

schlich durch sandige Heide.

Hielt der eine für sich allein

in den Händen die Fiedel,

spielte, umglüht vom Abendschein,

sich ein feuriges Liedel.

Hielt der zweite die Pfeif im Mund,

blickte nach seinem Rauche,

froh, als ob er vom Erdenrund

nichts zum Glücke mehr brauche.

Und der dritte behaglich schlief,

und sein Zimbal am Baum hing,

über die Saiten der Windhauch lief,

über sein Herz ein Traum ging.

An den Kleidern trugen die drei

Löcher und bunte Flicken,

aber sie boten trotzig frei

Spott den Erdengeschicken.

Dreifach haben sie mir gezeigt,

wenn das Leben uns nachtet,

wie man‘s verraucht, verschläft, vergeigt

und es dreimal verachtet.

Nach den Zigeunern lang noch schaun

mußt ich im Weiterfahren,

nach den Gesichtern dunkelbraun,

den schwarzlockigen Haaren.

An die Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden

Berlin NO 43

Georgenkirchstraße 70

Berlin, den 12ten Dezember 1827

Sehr geehrter Herr Direktor Wolfenhagen,

nach meiner Inspektionsreise durch die Provinzen des südlichen Preußens muß ich Sie heute auf einen Heidenstamm aufmerksam machen, der bisher offensichtlich übersehen und unbeachtet geblieben ist. Es handelt sich um eine große Gruppe von Sinti in Friedrichslohra und den Wäldern der Umgebung. Nach ihren eigenen Angaben zählen sie an die 300 Köpfe. Die Armut bei diesen armen Heiden ist groß, und Arbeit, womit sie sich etwas verdienen können, ist ihnen völlig unbekannt. Ich fordere Ihre Gesellschaft höflichst auf, sich derselben an Leib und Seele anzunehmen und ihnen baldmöglichst evangelische Hilfe und Trost zu senden. Wie Sie mir gewißlich zustimmen werden, bietet sich hier eine passende Gelegenheit zur Heidenbekehrung in unserem deutschen Vaterlande.

Hochachtungsvoll

Baron Theobald von Wurmb

Oh, das stört nicht meine Ruh,

wär ich Herr, doch wozu?

Wenn ich kein Zigeuner blieb,

hätt mich dann mein Liebchen lieb?

(Zigeunerreim)

Ohne Unterlass trommelte der Regen auf das Dach der Kutsche. Magdalena blickte seit Stunden immer wieder besorgt nach oben, als erwarte sie, dass die ersten Tropfen durch den mit dunklem Stoff bespannten Himmel sickerten. Wilhelm hatte es längst aufgegeben, sie zu beruhigen. Er wandte den Blick vom tropfenverhangenen Fenster ab. Der Ausblick stimmte ohnehin schwermütig, da das graue Licht des Tages wie Blei auf abgeernteten Feldern und gelbbraunen Wiesen lag. Er musterte seine junge Frau unauffällig. Sie war bleich, die beschwerliche Fahrt bekam ihr nicht. Schützend lag ihre Hand auf ihrem Bauch. Hatte er ihr zu viel zugemutet? Die lange Reise auf schlechten Wegen, fremde Menschen dicht neben ihr in einer unbequemen Kutsche und als Ziel dieses unbekannte Dorf weitab von ihrer Heimat.

„Es kann nicht mehr weit sein“, sagte er halblaut, bemüht, das Rauschen des Regens und das Knarren der gequälten Achsen zu übertönen, ohne dabei die beiden Mitreisenden zu wecken.

Sie lächelte dankbar und deutete mit dem Kinn auf die Männer. „Ich muss mir immerzu vorstellen, wie es wäre, wenn ihnen die Köpfe abfielen!“, flüsterte sie.

Die zwei Handelsleute aus Sondershausen waren trotz des starken Schaukelns auf den miserablen Straßen der preußischen Provinz eingeschlafen. Ihre Schädel wackelten im Takt der Schlaglöcher.

Wilhelm grinste. Wenn Lenchen ihren Humor nicht verloren hatte, konnte es so schlimm nicht sein. Er fasste nach ihrer Hand, die auf den zerschlissenen Polstern lag.

Das Unglück kam, nicht wie erwartet, in Form von Wasser durch das Dach, sondern als gewöhnlicher Karossenschaden. Ein harter Schlag fuhr in das Gefährt, es neigte sich bedrohlich zur rechten Seite. Die beiden Handelsreisenden rutschten von der Bank, wobei der eine mit dem Kopf in Magdalenas Schoß landete, während der andere sich reflexartig auf Wilhelms Knie abstützte. Ein erstickter Schrei ging unter im lauten Fluchen des Kutschers und im erschrockenen Wiehern der Pferde.

Ein weiterer Ruck und der Wagen stand, wenn auch mit Schlagseite. Wilhelms Gegenüber rappelte sich auf, entschuldigte sich schlaftrunken und öffnete die Tür. Der andere Händler suchte mit hochrotem Kopf nach seinem Hut. Wilhelm sprang hinaus in den Regen. Die Gäule tänzelten nervös und verdrehten schnaubend die Hälse. Der Kutscher redete ihnen beruhigend zu, während er die Zügel am Kutschbock festband. Gewandt kletterte er herunter und beugte sich unter die schiefhängende Karosse.

„Was ist passiert?“, fragte Wilhelm.

„Ein Splint an der Aufhängung!“ Der Mann fluchte halblaut und schob seinen Regenhut in den Nacken. „Zum Glück ist es nicht die Achse. Wenn wir im nächsten Dorf einen Stellmacher finden, ist der Schaden schnell behoben!“

„Im nächsten Dorf?“

„Ja, wir sind kurz vor der Station Elende. Ich spanne ein Pferd aus und reite hin. In einer halben Stunde kann ich wieder hier sein.“

„Wie weit ist es noch bis Friedrichslohra?“

„Ein bis zwei Meilen, schätze ich. Es liegt am Berghang oberhalb von Elende. Aber bei dem Wetter und mit Ihrem Gepäck rate ich von einem Fußmarsch ab. Schon gar nicht in dieses Dorf.“ Der Mann begann, das vordere Kutschpferd abzuschirren.

Bereits beim Einsteigen in Sangerhausen hatte der Kutscher ihn neugierig gemustert, als Wilhelm sein Reiseziel nannte.

„Was ist mit diesem Dorf?“

Der Mann antwortete nicht, das rechte Pferd drängte sich unruhig gegen ihn, als er versuchte, es auszuschirren. „Ruhig, Mose, ruhig. Alles in Ordnung.“

Magdalena steckte den Kopf aus der Tür. „Wie lange wird es dauern?“ Ihre müden Augen flehten, er überlegte, wie er ihr sagen konnte, dass sie in dieser Schieflage ausharren mussten, bis sich ein Handwerker gefunden hatte.

Einer der Händler antwortete ihr: „Geduld, gnädige Frau. Der Kutscher reitet los, jemanden aus dem Dorf zu holen.“ An Wilhelm gewandt, fuhr er fort: „Wir sollten uns ins Trockene setzen, mein Herr. Eine Erkältung ist sicher das Letzte, was wir von dieser Reise mitbringen wollen.“

 

Schwere Hufschläge verklangen im nahen Wald. Das zurückgebliebene Pferd wieherte verstört und versuchte zu folgen. Ein kräftiger Ruck ging durch das Gefährt.

„Brrr!“, rief Wilhelm. „Steigen Sie ruhig ein, ich gehe mal nach den Zügeln sehen.“

Während er die Bremsen und Leinen überprüfte und dem braunen Hengst den Hals klopfte, vernahm er erneut Hufgetrappel, doch kamen die Geräusche aus der anderen Richtung. Eine leichte Anhöhe, die sie kurz vor ihrem Unglück überwunden hatten, versperrte die Sicht. Er kletterte auf den Kutschbock, was die instabile Karosse gehörig ins Schwanken brachte.

„Wilhelm, was tust du?“, hörte er Magdalena ängstlich rufen.

Von seinem Standpunkt aus konnte er den Weg besser einsehen. Was er erblickte, ließ ihn die Stirn runzeln. Über dem nahen Horizont schwankten bunte Stoffe im Regen, deren Farben sich gegen den tristen Herbsttag behaupteten. Sie wuchsen aus dem Nebelgrau des Tages heraus, wurden größer und farbenprächtiger. Gleichzeitig schwoll das Geräusch klopfender Hufe und knarrender Deichseln zu einer solchen Stärke an, dass selbst in der Kutsche das Regenprasseln übertönt wurde, denn er hörte Magdalena erneut rufen: „Wilhelm, was ist das?“

Er hielt die Hand über die Augen, um das Wasser abzuhalten. Im selben Moment hob sich der erste bunte Stofffetzen vollends über den Wegkamm und wurde zur Plane eines von stämmigen Pferdchen gezogenen Wagens. Wilhelm musste lachen.

„Zigeuner! Es sind Zigeunerwagen“, rief er in die Kutsche hinunter.

Während er hinabkletterte, schwang die Tür auf und Magdalena sprang heraus, die Augen erwartungsvoll aufgerissen. Aus dem Dunkel des Wagens hörte er den Händler: „Seien Sie vernünftig, gnädige Frau. Sie werden sich den Tod holen, da draußen!“

„Er hat recht. Du wirst nass und verdirbst dir die Schuhe“, ermahnte er sie.

„Aber Wilhelm, Zigeuner! Sind wir nicht ihretwegen hierhergekommen?“

„Nun ja, vielleicht nicht gerade wegen denen dort“, murmelte er und starrte dem bunten Gewirr von Stoffen, zottigen Pferdemähnen und dunklen Gesichtern entgegen. Er griff in die Kutsche und zog eine Decke heraus, die er seiner Frau um die Schultern legte.

Als der erste Wagen heran war, rief der bärtige Mann auf dem Kutschbock ein lautes Kommando nach hinten und sprang herunter. Aus dem Wageninneren griff eine schmale Hand nach den Zügeln. An ihrem Gelenk klimperte eine Unzahl von glänzenden Armreifen. Sie gehörten einer jungen Frau mit einem roten Kopftuch, die behände auf den frei gewordenen Platz kletterte. Ihre Haut war dunkel wie Schokolade. Kohlenschwarze Augen musterten ihn ohne Scheu. In ihren Ohren baumelten goldene Scheiben, die auch in großer Menge an einer Schnur um ihren Hals hingen. Das Verwunderlichste an ihr aber war die kurze krumme Pfeife, die ihr im Mundwinkel hing und auf der sie unablässig kaute. Als sie sich nach vorn beugte, um die Zügel zu lockern, öffnete sich ihre nur liederlich um die Schultern gezurrte Bluse noch weiter und Wilhelm fühlte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. Er wandte sich abrupt ab. Vor ihm stand der Mann, der eben vom Kutschbock gesprungen war. Er war groß und schlank, seine Haut glänzte dunkel. Volles Haar lugte unter einem kecken Filzhut hervor, an dem eine Pfauenfeder steckte. Ein schwarzer Bart ließ ihn wahrscheinlich älter aussehen, aber er mochte etwa in Wilhelms Alter sein.

„Brauchst du Hilfe, Herr? Was ist mit deinem Wagen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, beugte sich der Zigeuner unter die Kutsche.

„Das ist nicht mein Wagen!“, sagte Wilhelm in Richtung der schiefen Achse, unter der der Mann verschwunden war. „Der Kutscher ist losgeritten, um einen Stellmacher zu holen.“

Magdalena zog an seinem Ärmel. „Frag sie, ob sie aus Friedrichslohra sind.“

„Warum?“

„Sie könnten uns mitnehmen.“

„Was?“ Sein Blick glitt über die abenteuerlich aussehenden Wagen und die ausgemergelten kleinen Pferde, die langsam an ihnen vorüberzogen. Dunkle Gestalten lugten neugierig hinter bunten Planen hervor, ein paar Kinder sprangen nackt durch den Regen, verfolgt von einer Meute graubrauner Hunde.

„Warum nicht? Wozu hier im Regen stehen und warten?“ Magdalena zerrte bereits ihren Proviantkorb aus der Kutsche.

Im Nu war sie von einem Dutzend Kindern umringt, die angesichts des Korbes sofort ihre schmutzigen kleinen Hände ausstreckten. „Bitte, Frau! Hast du Brot für uns? Bitte, Frau!“

„Da hast du es“, wollte Wilhelm sagen, doch beim Anblick der mageren Körper, die trotz des nasskalten Wetters gar nicht oder nur sehr dürftig bekleidet waren, verschlug es ihm die Sprache. Die Jungen trugen entweder ein Hemd oder eine zerlumpte Hose, so als ob sich mehrere von ihnen die Kleidung eines Kindes teilen mussten. Die Mädchen hatten meist gar nichts an, nur die größeren steckten in schmutzigen und fadenscheinigen Kittelchen. Dafür trug jedes mindestens ein Schmuckstück, sei es ein Reif um das Fuß- oder Handgelenk, große runde Ohrringe oder klimpernde Halsketten. Fast alle waren dünn und schoben aufgetriebene Bäuche vor sich her, die Krätze oder Flöhe hatten ihre Haut in den Kniekehlen und an den Armen beinahe aufgefressen. Eine scharfe Stimme rief etwas, dass Wilhelm nicht verstand und die Kinder stoben auseinander.

Der Zigeuner trat neben Magdalena und sagte zu Wilhelm: „Du hattest recht, Herr. Hier kann man nichts tun. Ein Splint muss her.“ Er verbeugte sich leicht vor Magdalena, wobei er eine Hand galant auf den Rücken legte und mit der anderen den Hut lüpfte. „Gnädige Frau, gestatten: Christoph Weiß, Musiker. Ich hörte, Sie reisen nach Friedrichslohra. Das ist auch unser Ziel. Wenn Sie mit meinem bescheidenen Wagen vorliebnehmen wollen?“

Magdalenas Gesichtsausdruck hatte in den letzten Momenten so oft gewechselt wie das Wetter im April. Nach dem Entsetzen über den armseligen Anblick der Kinder glitten Neugier und Abenteuerlust über ihre Züge, zuletzt sogar etwas Koketterie. Bevor Wilhelm Einwände erheben konnte, schenkte sie dem Mann, dessen Gesicht inzwischen fast ihre Füße berührte, ein strahlendes Lächeln und nickte, ohne zu bedenken, dass der das nicht sehen konnte.

„Wir haben eine Menge Gepäck, und außerdem müsste der Kutscher bald zurück sein“, sagte Wilhelm halbherzig.

Der Zigeuner hob den Kopf und blickte direkt in Magdalenas Gesicht, auf dem die Freude gerade von Enttäuschung, oder war es Zorn? – abgelöst wurde.

„Aber Herr, wir haben Platz auf unseren Wagen, nimm das Angebot ruhig an. Schau, wie nass und frierend die gnädige Frau hier im Regen steht!“ Der Mann hob den Arm und setzte den Hut leicht schräg auf seine drahtigen Locken. Der weite Ärmel seines weißen Hemdes bauschte sich im Wind. Er griff dem gerade vorbeiziehenden Pferd rüde ins Geschirr und der Wagen kam neben ihnen zum Stehen. Mit dem Kutscher, einem ebenfalls bärtigen Mann in einer bunten Fellweste, wechselte er ein paar schnell gesprochene Sätze in ihrer Sprache. Sofort sprangen zwei Frauen unter der Stoffplane hervor und rafften ihre weiten Röcke über dem nassen Boden. Ihre nackten Füße versanken im Schlamm des aufgeweichten Weges.

„Wo ist euer Gepäck, Herr?“, fragte eine von ihnen.

Wilhelm seufzte ergeben und deutete zur Rückwand der Postkutsche, an der zwei Kisten und ein Koffer fest verschnürt waren. „Das ist alles unseres.“

Ohne lange zu überlegen, begannen die Frauen, die Seile zu lösen.

Magdalena stieß einen kleinen Freudenschrei aus und wandte sich den Herren in der Kutsche zu. „Wir reisen mit den Zigeunern. Ich wünsche Ihnen eine baldige Weiterfahrt und alles Gute.“

Wilhelm verstand nicht, was sie ihr zur Antwort gaben, doch der Ältere beugte sich aus dem Fenster und winkte ihn zu sich heran. „Ich hoffe, Sie wissen, was Sie da tun“, sagte er mit gefurchter Stirn. „Lassen Sie Ihre Koffer keinen Moment aus den Augen!“

Trotz aller Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns war Wilhelm doch froh, als er endlich ins trockene Innere des Planwagens klettern konnte. Sein Mantel war inzwischen nass und schwer und das Regenwasser war ihm zum Kragen hineingelaufen. Fröstelnd sah er sich um. Das Wageninnere war geräumiger als es von außen schien. Dicke Felle polsterten die Sitzbänke aus, darunter standen Kisten und Truhen, allerlei Hausrat baumelte von den wie Rippenbögen aufragenden Hölzern, die der Plane über seinem Kopf Halt gaben. Direkt hinter dem Kutschbock waren mehrere kleine Fässer festgezurrt, an denen Becher und Schöpfkellen hingen. Magdalena rückte dicht an ihn heran und lächelte zufrieden.

„Möchtest du zu trinken, Herr?“, fragte eine rauchige Stimme aus dem Dämmerlicht des Wagens.

„Ja, bitte. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

Mehrstimmiges Kichern kam als Antwort, doch seine Augen hatten sich noch nicht an die Dämmerung gewöhnt, und er konnte nicht erkennen, wer außer ihnen im Wagen saß. Er hörte Holz auf Holz schaben, ein Plätschern, dann wurde ihm ein Becher gereicht. Die Hand vor seinem Gesicht war runzlig und so dunkel wie die eines Kaminfegers. Ein Dutzend glänzender Ringe klimperte um das Gelenk. „Nimm!“

Während er zugriff, fasste die Hand nach seiner Linken und öffnete sie. Erschrocken wollte er sie zurückziehen, doch die rauchige Stimme beruhigte ihn: „Keine Angst Herr, ich will nur dein Schicksal sehen. Trink und gib auch deiner Frau davon.“

Ein Finger, so knorrig wie der Ast eines alten Fliederbaumes, strich über die Innenfläche seiner Hand. Es kitzelte leicht und war seltsam angenehm. Aus lauter Verlegenheit hob er den Becher an die Lippen und trank. Er hatte angenommen, sie würden ihm Wasser geben, und nahm deshalb einen herzhaften Schluck. Zu spät spürte er den scharfen Geruch, der wie eine Glocke über dem Gefäß hing und ihm beißend in die Nase stieg. Die Flüssigkeit fuhr wie eine Stichflamme die Kehle hinunter und trieb ihm augenblicklich die Tränen in die Augen. Er keuchte, würgte und hustete.

„Was ist?“, fragte Magdalena besorgt. Im Hintergrund erklang wieder dieses Kichern. Verflixt noch mal, jetzt stand ihm auch noch das Wasser in den Augen.

„Was haben Sie mir da gegeben?“

Magdalena fasste nach dem Becher und schnupperte. „Schnaps. Ziemlich hochprozentig, so wie der riecht.“

„Der vertreibt die Kälte aus den Knochen“, sagte die alte Frau. Dann griff sie nach Wilhelms rechter Hand. Wieder fuhr der dunkle Finger die Linien ab. Sie murmelte etwas, ihre Stimme klang plötzlich belegt. Aus dem Wageninneren kam eine schnelle Frage, sie antwortete leise.

„Was sagt sie?“, fragte Magdalena neugierig an Wilhelms Ohr.

„Ich verstehe sie nicht, sie spricht in ihrer Sprache.“

„Wir werden diese Sprache lernen müssen.“

Er nickte nachdenklich.

Magdalena beugte sich vor. „Was sehen Sie in seiner Hand?“

Die Zigeunerin blickte auf. Zum ersten Mal traf das Licht, das von hinten in den Wagen fiel, ihr Gesicht. Sie musste steinalt sein. Ihre Haut war dunkelbraun wie zu lange gebackenes Brot und von tiefen Runzeln durchzogen. Unter tief hängenden Lidern waren keine Augäpfel zu erkennen. Zwischen den eingefallenen Lippen klebte eine kurze, erloschene Pfeife, die sich auf und ab bewegte wie der Schwengel einer Pumpe. Schwere Silberringe baumelten auf ihren Schultern, sie hatten die Ohrläppchen zu langen Hautstreifen gedehnt. „Ich sehe seltsame Dinge. Ein gutes Herz, aber einen schwachen Mann. Ich sehe Freud und Leid für uns aus deinem Schicksal erwachsen.“

Er zog seine Hand weg und steckte sie in die feuchte Manteltasche. Im vorderen Teil des Wagens tuschelte jemand aufgeregt. Wilhelm erkannte jetzt zwei Frauen mit langen schwarzen Zöpfen und einige nackte Kinder, die ihn anstarrten.

Magdalena gab ihm den Becher mit dem Schnaps zurück und streckte der Frau ihre Hand entgegen. „Sagen Sie mir, was Sie in meiner Hand sehen.“

Die Alte mümmelte an der kalten Pfeife und beugte sich über Magdalenas Handfläche. Wilhelm wurde bange, er war in Versuchung, die dunklen Finger wegzuschlagen, weg von der kleinen weißen Hand seines Lenchens.

„Ich sehe ein gutes Herz und Kinder, viele Kinder.“

Magdalena lachte und klopfte sich sacht auf den Bauch. „Ja, das wird stimmen.“

Die Alte hob den Kopf. Unter den faltigen Lidern blitzten für einen Moment Augen wie feuchte Kohlenstücke hervor. „Fremde Kinder, unglückliche Kinder!“

„Jetzt ist es genug mit dem Firlefanz!“ Besorgt sah Wilhelm in Magdalenas erschrockenes Gesicht. Er schob die Hand der Alten weg und nahm noch einen Schluck aus dem Becher. Jetzt, wo er darauf vorbereitet war, schmeckte das Zeug gar nicht so schlecht. Und warm wurde ihm, warm und wohlig. „Komm trink auch etwas. Das wärmt schön.“

 

Magdalena nippte ein wenig und schüttelte sich. „Brrr!“

„Ist guter Schnaps“, sagte die Alte, „der alte Löschhorn macht den besten Schnaps weit und breit.“

„Löschhorn?“, fragte Magdalena und rang nach Atem.

„Mein Mann, der bulibasha“, verkündete die Alte stolz.

Sie verstand nicht, was die Frau meinte, aber sie nickte.

Der Wagen ruckelte eine lange Steigung hinauf. Die beiden jungen Frauen und die Kinder sprangen hinaus in den Regen, griffen in die Speichen und halfen dem keuchenden Pferd. Wilhelms Körper neben Magdalena wurde schwer, sein Kopf sank auf ihre Schulter. Er war eingeschlafen.

„Sehr guter Schnaps“, sagte Magdalena und die Alte lachte und zeigte ihren zahnlosen Kiefer.

Nach einer Weile drohten auch Magdalenas Augen zuzufallen, als die Alte sie an der Schulter fasste und vorn aus dem Wagen wies. Sie hielten an einer Wegscheide, links von ihnen streckte sich eine Häusergruppe an einem Bergrücken entlang wie ein sich rekelnder Kater. Erstaunt beugte sie sich nach vorn. Ein solch ordentlich angelegtes Dorf hatte sie noch nie gesehen. Die Gebäude reihten sich beidseitig des Weges, der weiter den Berg hinaufführte. Sie sahen alle gleich aus, wie die Holzquader aus einem Baukasten. Rote Ziegeldächer, darunter Fachwerk, zwei Fenster nach vorn zur Straße, zwischen den Häusern je ein Tor, durch das höchstens ein Ziegenfuhrwerk passte. Aus den parallel aufragenden Schornsteinen drängte heller Rauch dem Regen entgegen.

„Ist das Friedrichslohra?“

Die Alte nickte. „Die Leute hier nennen es das Neue Dorf. Sie benutzen den anderen Namen nicht.“

Magdalena rüttelte Wilhelm an der Schulter wach. „Schau, unser Dorf!“

Er blinzelte, sein Atem roch nach Schnaps.

Die Wagen vor ihnen bogen vom Weg ab. Christoph Weiß steckte den Kopf in den Wagen. „Ihr müsst jetzt aussteigen. Meine Brüder werden euer Gepäck tragen.“

Wilhelm taumelte, als er nach einem gewagten Sprung vom Wagen auf dem schlammigen Wegrand landete. Er half Magdalena herunter, die sich winkend von der alten Frau verabschiedete. Sie zog ihr Kopftuch fester, der Regen hatte nicht nachgelassen. Vier halbwüchsige Jungen standen barfuß am Weg und sahen ihnen abwartend entgegen. Aus ihren schwarzen Locken tropfte das Wasser. Wilhelm erinnerte sich plötzlich an die Warnung der Handelsreisenden und musterte hastig die Gepäckstücke. Zwei Kisten, ein Koffer, es schien nichts zu fehlen.

„Wohin wollt ihr?“, fragte der größere der Jungen in klarem Deutsch.

„Zum Pfarrhaus!“

Sie griffen nach dem Gepäck und setzten sich in Bewegung. Magdalena und Wilhelm hatten Mühe, ihnen zu folgen. Als Magdalena über die Schulter zurückblickte, schwankte gerade der letzte bunte Planwagen den Feldweg entlang und verschwand hinter einer Reihe von Weißdornbüschen.

Nach wenigen Minuten erreichten sie die schnurgerade Dorfstraße. Es ging bergauf, was die schwer schleppenden Zigeunerjungen nicht bremste. Sie trugen die Kisten zwischen sich und nahmen die gesamte Straßenbreite ein.

Die kleinen Häuser blickten mit hohläugigen Gesichtern auf die Neuankömmlinge. Die Fachwerke waren schlicht und solide, aber ohne besondere Kunst angelegt, das Mauerwerk dazwischen war grob verputzt und an einigen Hausfronten frisch gekalkt. Vor einem auffallend schäbigen Haus setzten die Jungen das Gepäck ab und klopften an ein Fenster. Die Fassade war grau, von den Fachwerkbalken blätterte die Farbe. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, den Straßenschlamm vom Sockel abzuwaschen. Einer der Träger rief etwas und lachte. Dann zeigte er auf sie. Hinter der Fensterscheibe drängten sich mehrere dunkle Schöpfe, schwarze Augen starrten Wilhelm und seine Frau neugierig an.

„Hier wohnen Zigeuner“, flüsterte Magdalena, als fürchte sie, die Häuser hätten Ohren.

Wilhelm nickte. „Der Herr Gerichtsrat Göschel meinte, dass die Familien sich für den Winter bei den Dorfbewohnern einmieten.“

Sie waren auf einer Hochfläche angelangt, wo sich die Straße zu einem Dorfanger weitete, bevor sie an dessen Ende erneut leicht anstieg. Rechts von ihnen stand ein etwas größeres Haus mit einer breiten Eingangstür in der Mitte. Eine Mauer aus großen, glatt behauenen Kalksteinen stützte den Sockel. Wilhelm kletterte hinauf und schaute durch ein Fenster.

„Eine Schule!“, rief er begeistert.

„Was tust du da?“, fragte Magdalena und sah sich beschämt um. „Du kannst doch nicht einfach …“

„Hab ich doch gleich gesehen, dass das kein Wohnhaus ist“, beschwichtigte er und sprang von der Mauer.

„Aber der Lehrer wohnt doch sicher hier?“, fragte Magdalena.

Neben dem Schulhaus öffnete sich ein leicht ansteigender Platz mit einem kreisrund ummauerten Brunnen, dahinter duckte sich eine schäbige Kirche aus groben Feldsteinen an den Berg. Zwei Fensterscheiben fehlten, die Löcher waren provisorisch mit Werg oder Hanf zugestopft. Der runde Dachreiter hatte dem Gewicht der Glocke anscheinend nicht mehr standgehalten und war halb eingestürzt. Die Glocke lag seitlich auf dem First, verkeilt in zerbrochenen Ziegeln und gesplitterten Holzbalken. Eine mit grüner Patina überzogene Wetterfahne baumelte über dem Fiasko und zeigte anklagend nach unten.

Gegenüber fiel der Anger steil ab und endete an einem größeren Fachwerkhaus, über dessen Eingang ein Wirtshausschild im Wind schaukelte. Das Nebengebäude, wohl das Backhaus, wurde von einem turmhohen Schornstein überragt.

Die Zigeunerjungen bogen nach rechts ab und steuerten ein Haus an, das halb hinter der Kirche versteckt lag und aus den gleichen Kalksteinen errichtet war. Es befand sich in einem ähnlich schlechten Zustand wie die Kirche. Zwei Fenster schienen neu, allen anderen und der Haustür fehlte die Farbe, die Gartentür hing schief in den Angeln und quietschte erbärmlich. Aus der Dachtraufe lief das Regenwasser in mehreren dünnen Rinnsalen in den Vorgarten, an der Giebelseite waren einige Fachwerke bereits herausgefallen, und mit Lumpen zugestopft.

Das Pfarramt, dachte Wilhelm. Er hatte plötzlich ein komisches Gefühl, doch bevor er darüber nachdenken konnte, überschlugen sich die Ereignisse. Die wacklige Tür des Hauses sprang auf und ein kleiner dicker Mann in einem Anzug, der ihm schon längst zu eng geworden war, schoss heraus wie eine Kanonenkugel. Seine Jacke stand weit offen, die Hose wurde von derben Hosenträgern gehalten, es schien, dass der Hosenbund diese Aufgabe nicht mehr leisten konnte. Eben dieser wurde von einem überquellenden Bauch verdeckt, über dem sich die Falten eines schmutzigen Leinenhemdes bauschten.

„Was wollt ihr schon wieder, Diebespack? In meinen Vorgarten scheißen, was?“, schrie der Mann und lief mit erstaunlicher Schnelligkeit auf die Jungen zu. „Verschwindet!“

Die Jungen stellten seelenruhig Kisten und Koffer ab und wichen dem Hin und Her springenden Sonderling aus, als würden sie das alle Tage tun. „Was ist das für Zeug? Etwa Diebesbeute? Was wollt ihr damit bei mir?“ Er bückte sich und griff sich ein paar Steine. Nun erst drehten sich die Jungen um und stoben in verschiedene Richtungen davon. Das Gepäck stand verlassen im Regen.

Wilhelm und Magdalena waren mit wenigen Schritten heran. Magdalena stellte sich schnaufend vor den Koffer und sah sich ratlos um. Der Dicke ließ die Arme sinken.

„Und wer sind Sie?“, fragte er unfreundlich.

Wilhelm trat auf ihn zu und deutete einen hastigen Diener an. Als er sich wieder aufrichtete, musste der Mann zu ihm heraufsehen, was seinen Blick noch etwas boshafter werden ließ. „Blankenburg ist mein Name, Wilhelm Blankenburg. Das ist meine Frau Magdalena.“ Wilhelm machte aus lauter Gewohnheit eine weitere Verbeugung, obwohl ihm dabei jedes Mal das Wasser in den Mantelkragen lief und der Mann so viel Ehrerbietung sicher nicht verdient hatte.

„Ja und?“

„Darf ich fragen, wer Sie sind, mein Herr? Pastor Blume erwartet mich. Ich bin der Missionar aus Naumburg. Er schrieb mir, wir könnten im Pfarrhaus wohnen.“

„Blümchen?“ Der Mann musterte Wilhelm und lachte dann laut auf. „Na dann, viel Spaß beim Weitermarschieren. Das evangelische Pfarramt ist in Wenden.“

Nach einer vagen Armbewegung in Richtung der ansteigenden Dorfstraße drehte er sich auf dem Absatz um, eilte durch den vom Unkraut überwucherten Vorgarten und verschwand hinter der Haustür.

Wilhelms Blick schweifte über ihre Gepäckstücke und blieb mutlos an Magdalenas verdutztem Gesicht hängen.

„Was?“, stammelte sie und setzte sich auf den Koffer.

„Das hier ist eine katholische Kirche. Ich hatte gleich so ein komisches Gefühl. Der Glockenturm sieht gar nicht evangelisch aus“, erklärte er.

„Er sieht überhaupt nicht aus wie ein Glockenturm. Eher wie ein verlassenes Storchennest. Mir ist kalt. Was machen wir jetzt?“ Der hölzerne Koffer unter ihr knarrte.

Er blickte den Weg hinauf. Erneut reihten sich kleine Fachwerkhäuser aneinander, bis eine leichte Rechtskurve die Sicht nahm. Die Straße wirkte wie eine perfekte Kopie des hinter ihnen liegenden Stückes. Nichts deutete auf eine weitere Kirche oder ein Pfarrhaus hin. Unmöglich, das Gepäck auch nur zwei Häuser weiter zu tragen, ebenso wenig konnten sie es hier einfach stehen lassen. Sein Blick fiel auf das Wirtshaus am unteren Ende des Angers.